Droht eine Perpetuierung des liturgischen Plusquamperfekts?Gegenwelt im „Retro“-Look

Die Romantiker des frühen 19. Jahrhunderts reagierten auf die Aufklärung mit der Neuentdeckung eines ästhetisch verstandenen Katholizismus. Manches in der heutigen Liturgieszene erinnert an die damalige Bewegung: Man orientiert sich an einer eng geführten Gestalt von Tradition und übersieht dabei, dass der Glaube und seine gottesdienstlichen Ausdrucksformen immer neu angeeignet und übersetzt werden müssen.

Retro ist in! – Der Satz mutet so paradox an wie er offensichtlich richtig ist. Dabei ist es doch ein herausragendes Merkmal von Retro, dass es sich hierbei um eine versuchte Präsentierung der (Vor-)Vergangenheit handelt – eine Wiederbelebung von Lebensstil, Mode, Verhalten oder Musik längst vergangener Zeiten. Missverständlich wird dabei oft von „Zitat“ gesprochen – aber Retro ist kein Zitat, durch das eine Vergangenheit bewusst in Spannung mit konkreter Aktualität gebracht würde: Es handelt sich vielmehr um einen „verquollenen Zombie“, der in den Formen der Vergangenheit „Sicherheit und den Zauber eines längst verblichenen Glanzes“ sucht (so Niklas Maak im Feuilleton der FAZ vom 26. Januar 2012).

Weite Teile der modernen Gesellschaft erleben Retro – sogar bis hin zur Pop-Musik, die doch eigentlich als Motor der Aktualität fungieren sollte und somit als das Paradigma von „hip“, „in“ und „angesagt“ gilt. Das Erscheinen des neuesten Albums der amerikanischen Sängerin Lana Del Rey („Born to die“) war für den Journalisten Niklas Maak Anlass seines zornigen Zwischenrufs in der FAZ: Die Lieder klängen nicht nur wie musikgewordener Käsetoast – lauwarm und zäh; sie seien darüber hinaus stilistisch einzuordnen „wie ein durch die Schleuse von Hiphop gepresster Sound der sechziger Jahre“. Zudem entwickle sich kaum etwas Neues – für Maak ist es nicht schlimm, dass es Retro gibt: „Das Problem ist, dass es nur noch Retro gibt“ (Hervorhebung durch den Verfasser).

Offensichtlich ist es eine große Versuchung, der problematischen Komplexität unserer Tage mit dem Handwerkszeug vergangener Zeiten simplifizierend begegnen zu wollen. Hierbei handelt es sich nicht um eine Modewelle oder eine gruppenspezifische Geschmacksentwicklung, sondern um „das Ergebnis groß angelegter Marktanalysen“ (Maak): Nicht modischer Mainstream zeigt sich, sondern eine bewusste Strategie steckt dahinter! Man kann von einer mental tief verankerten Stimmung sprechen, die weite Teile der Gesellschaft erfasst hat.

Dabei spielt neben der existenziellen Angst vor den ökonomischen, sozialen und ökologischen Problembergen auch das offensichtliche Erlahmen des reformerischen Impetus eine Rolle, der bis vor einigen Jahrzehnten immer noch für eine nach vorne gerichtete Bewegung sorgte. An die Stelle des Gestaltungswillens sind jedoch Frustration und Melancholie getreten; und so wird Retro auch vom verloren gegangenen Schwung des Willens zur Innovation gespeist: „In Retro überlebt ästhetisch, was politisch aufgegeben wurde: Die Euphorie eines Aufbruchs, der Glaube an die Möglichkeit eines Wandels, an Zukunft“ (Maak).

Mit Retro in die Überzeitlichkeit

Durch die katholische Kirche schwappt seit geraumer Zeit offenbar eine große „Retro-Welle“; wie das Beispiel der Pop-Musik zeigt, ist sie aber nicht entweltlicht genug, um hierin singulär zu sein. Retro-Wellen sind in der Kirche immer wieder auszumachen; sie gehören zu ihrer Verfassung, insofern die Kirche ein in der Geschichte (re-)agierendes Gefüge von Menschen ist. Dies ist so lange unbedenklich, wie nicht der Versuchung nachgegeben wird, einen vergangenen Zustand (beispielsweise eine geschichtliche Momentaufnahme von kirchlicher Liturgie und Musik) nicht mehr als historisch bedingte Situation wahrzunehmen, sondern ihm den Charakter der Überzeitlichkeit zuzuerkennen, ihn gleichsam zu perpetuieren und ihm dauerhafte Gültigkeit und somit Autorität des Normativen zu verleihen.

Dadurch entsteht das Bild von Kirche als einer sakralen Gegenwelt (man könnte in diesem Zusammenhang von einer „entweltlichten“ Kirche sprechen), die sich dem gefährlichen Strom der Geschichte wie ein Fels entgegenstemmt und den Menschen Zuflucht vor allen Unbilden der Zeitläufte bietet. Das wäre ein zumindest partieller Abschied von der „ecclesia semper reformanda“, die unter der Begleitung Gottes durch die Geschichte pilgert und sich immer wieder neu und auch in sehr unterschiedlichen Erscheinungsformen mühsam gestalten muss.

Eine generelle Entweltlichung der Kirche ist in unserer Gesellschaft gottlob unmöglich; zu verflochten sind die kirchlichen Aufgaben in die konkrete Gestalt der Gesellschaft. Das gilt jedoch offensichtlich nicht für die Liturgie.

Liturgisch gibt es derzeit wieder viele Ecken, die mit Accessoires längst vergangener Zeiten gefüllt werden: Man registriere hierzu etwa die Entwicklung der liturgischen Sprache (die Vorgänge um das Beerdigungs-Rituale lassen mit Blick auf das neue Messbuch einiges erahnen) sowie der liturgischen Feierformen, aber auch die zunehmende Konzentration liturgischer Kompetenzen auf das geweihte Amt unter vermehrt zu beobachtender Zurückdrängung der Laiendienste. Dieser Vorgang wird ganz offiziell präsentiert als ein „gesunder Korrekturprozess“ hinsichtlich der letzten liturgischen Reform, die bekanntermaßen sehr stark von Orientierung an urkirchlichen Vorbildern, von Entschlackung und Reduktion auf das Wesentliche geprägt war.

Wer sich heutzutage Gedanken macht über die Spannung zwischen Zeitgebundenheit und Überzeitlichkeit im liturgischen Bereich, sieht sich mit entgegengesetzten Tendenzen konfrontiert, die beispielsweise durch die gezielte Wiederzulassung der tridentinischen Messe offensichtlich reziproke ästhetische und theologische Modelle präferieren. Um welche „Welt“ geht es aber hier? Handelt es sich um eine romantische Reminiszenz an eine „ecclesia triumphans“, in der von prachtvoll gewandeten Amtsträgern vor den Augen einer anbetenden, schweigenden und aller mühsamen Aktivität enthobenen Gemeinde ein großes heiliges Spiel vollzogen wird? Soll auf diese Weise der Gottesdienst zum Fluchtpunkt vor der Realität werden, wie es die selbst gefühlte Speerspitze des neuen „Basta-Katholizismus“, Matthias Matussek, in seinem 2011 erschienenen Buch beschreibt: „Für uns Katholiken ist die Liturgie der Ausweg aus dem Alltäglichen, die Tür ins Heilige. (…) Wenn es eine Gegenwelt gibt, dann entsteht sie, erstrahlt sie in diesen heiligen Verrichtungen.“

Hier wird Retro zum Romantizismus, der nicht nur die Form, sondern mit ihr auch die sozialen Strukturen und Rollenverständnisse der alten Zeiten in die Gegenwart bringen will: Retro ist nicht nur ein Stil, Retro ist auch ein Inhalt! So transportieren die Texte der von Niklas Maak kritisierten Lieder auch das Menschenbild und das geschlechterspezifische Rollenverständnis der sechziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts, handeln sie doch von „Frauen, die ihren Männern bedingungslos ergeben sind (…) Mann bricht in die Bank ein, Mann fährt schnelles Auto; Frau sieht toll aus und schmachtet und schnurrt und wartet.“

Was bedeutet das etwa für das Bild des Priesters, und zwar auf dem Hintergrund der Zitate aus dem Werk des heiligen Pfarrers von Ars, Jean-Marie Vianney, denen Benedikt XVI. in seinem Schreiben zur Eröffnung des „Priesterjahres“ (16. Juni 2009) so großen Raum gibt: „Oh, wie groß ist der Priester! (…) Gott gehorcht ihm: Er spricht zwei Sätze aus, und auf sein Wort hin steigt der Herr vom Himmel herab und schließt sich in eine kleine Hostie ein (…) Ohne das Sakrament der Weihe hätten wir den Herrn nicht. Wer hat ihn da in den Tabernakel gesetzt? Der Priester. Nach Gott ist der Priester alles! (…) Ohne den Priester würden der Tod und das Leiden unseres Herrn zu nichts nützen. Der Priester ist es, der das Werk der Erlösung auf Erden fortführt (…) Was nützte uns ein Haus voller Gold, wenn es niemanden gäbe, der uns die Tür dazu öffnet? Der Priester besitzt den Schlüssel zu den himmlischen Schätzen: Er ist es, der die Tür öffnet; er ist der Haushälter des lieben Gottes; der Verwalter seiner Güter“?

Ist mit der prominenten Platzierung dieser Texte, die theologisch und historisch zumindest klar eingeordnet werden müssten, die unlösbare Verschränkung zwischen allgemeinem und sacerdotalem Priestertum, wie sie im Zweiten Vatikanischen Konzil („Lumen gentium“, Kapitel 9 und 10) noch entfaltet wurde, wieder durch das „Pfarr-Herren-Bild“ zu ersetzen? Und die Gemeinde „schmachtet und schnurrt und wartet“?

Die gegenwärtige Rückwärtsbewegung wird eigentlich zu Unrecht auf das „Tridentinische“ fokussiert: Es ist vielmehr ein Rückgriff auf das 19. Jahrhundert, das neben wichtigen kirchlichen Aufbruchbewegungen auch eine Restauration des Katholizismus durchführen wollte, sich dabei am Mittelalter und dem 16. Jahrhundert orientierte und damit in vielem eine verkrustete schlechte Kopie (einen „verquollenen Zombie“) zu Stande brachte.

Reaktion auf eine als gescheitert empfundene Aufklärung

 „Ich hasse diese Aufklärung unserer Zeit recht von Herzen; es ist noch nichts gutes, nein nichts von ihr hergekommen. Schon, weil er so uralt ist, zieh´ ich den Katholicismus vor. Alles Neue taugt nichts. (…) Alles ist schlechter seitdem, ja Deutschland selber ist darunter zu Grunde gegangen und keine Kraft und kein Wille mehr darin, als etwa noch in dem unglücklichen, unterdrückten und betrogenen Rest, wo auch noch ein kleiner Schimmer jenes alten Glaubens noch sparsam glimmt.“ Die das schrieb, durfte aufgrund ihrer Herkunft und ihres Lebensweges als eine der gebildetsten Frauen ihrer Zeit gelten: Dorothea Schlegel (1764 –1839), die als Brendel Mendelssohn geborene Tochter des großen Aufklärers Moses Mendelssohn und nachmalige Frau Friedrich Schlegels, diese Sätze 1806 an ihre Freundin Caroline Paulus schrieb. Zwei Jahre später konvertierte sie zusammen mit ihrem Mann Friedrich in der Sakramentskapelle des Kölner Doms zu eben jenem „uralten Katholicismus“, den sie zusammen mit nicht wenigen Frühromantikern des Jenaer Kreises schätzen, ja, lieben gelernt hatte.

Mit ihrer Ablehnung der als gescheitert empfundenen Aufklärung und ihrer emotional motivierten Hinwendung zum Katholizismus stand Dorothea Schlegel in ihrer Zeit nicht allein. Bei nicht wenigen Geistesgrößen des beginnenden 19. Jahrhunderts verbanden sich die Enttäuschung über das vermeintliche Scheitern der Aufklärung in der napoleonischen Ära und über die sich abzeichnende Restauration barocken Fürstentums durch Metternich zu einem brisanten Gemisch von Sehnsucht nach der religiösen Verfassung des Mittelalters und visionärer Projektion eines nationalen Gebildes, in dem ein Volk seine Identität finden konnte. Das „Ewige“ und „Überzeitliche“, das nicht mehr dem Wechselspiel sozialer und politischer Entwicklungen unterworfen war, wurde auf dem Wege der überhöhenden Zudichtung zum Signet von Kirche und Religion.

Orientierung an der Vergangenheit als Programm

Friedrich von Hardenberg, der sich selber den Namen „Novalis“ zulegte, hatte das Wesen des Romantischen im Vorgang des „Romantisierens“ zu fassen und zu definieren versucht: „Romantisieren ist nichts als eine qualitative Potenzierung. Indem ich dem Gemeinen einen hohen Sinn, dem Gewöhnlichen ein geheimnisvolles Ansehen, dem Bekannten die Würde des Unbekannten, dem Endlichen einen unendlichen Schein gebe, so romantisiere ich es.“ Gab es in diesen Krisenzeiten ein besseres Rezept, als sich dem überzeitlichen Mysterium und damit jener Institution zuzuwenden, die dieses Mysterium stellvertretend verwaltete und den Anspruch erhob, es durch alle Zeiten hindurch unverändert zu bewahren?

Wer Gemälde aus dieser Zeit studiert – so etwa von Caspar David Friedrich – dem begegnet die Kirche als historisches Zitat (zumeist der Gotik), entweder in Form der Ruine (vergangene Größe ahnen lassend) oder als Silhouette einer vollendeten Kathedrale (künftige Größe verheißend). Was Wunder, dass die katholische Kirche mit Topoi der (Neu-)Gotik in Architektur und Kunst an diese Zeit anzuknüpfen versuchte. Und sie fand in den Romantikern große Unterstützung – auch in den protestantischen (wie König Friedrich Wilhelm IV., der die Fertigstellung des Kölner Domes anregte).

Die „neue“ Religion im 19. Jahrhundert bestand also weitestgehend aus mehr oder weniger gelungenen ästhetischen Reminiszenzen einer „alten“ – so dass es wenig erstaunt, wenn sich neben dem kirchlichen Bau und der kirchlichen Malerei auch die kirchliche Musik an den Vorbildern des Mittelalters beziehungsweise (im Fall der Musik) an der römischen Schule der Renaissance orientieren. Und dies war wiederum ein Stück Programm, insofern Zitate des Historischen zu Indikatoren einer vermeintlichen Überzeitlichkeit werden sollten. Die Eigenart des kirchlichen Stils sollte sich von nun an dadurch auszeichnen, dass die Musik sich von all dem abzusetzen hatte, was außerhalb des Gotteshauses erklang.

Neu war dieser Gedanke nicht – schon die Kirchenväter, Papst Johannes XXII. und das Konzil von Trient hatten versucht, die „Weltlichkeit“ aus der Musik der Kirche fernzuhalten, um „unreine und laszive Melodien und Texte“ im Gottesdienst zu vermeiden. Erstmals aber wird im 19. Jahrhundert nur der Klang betrachtet – und dessen harmonische und rhythmische Vielfalt als dem Wesen der christlichen Religion und ihres Kultes unangemessen angesehen. So schrieb François-René de Chateaubriand in seinem am Karfreitag (!) des Jahres 1802 erschienenen Buch „Le génie du Christianisme“ (Vom Geist des Christentums) über das Wesen des Gregorianischen Chorals: „Das Christentum ist ernst wie der Mann, und es verleugnet sich selbst in seinem Lächeln nicht. Nichts ist so schön wie die Seufzer, die unsere Leiden der Religion auspressen.“

Mit dem „Stabat mater“ von Giovanni Battista Pergolesi (1736) ging er streng ins Gericht: „Pergolesi hat in seinem Stabat mater den ganzen Reichtum seiner Kunst entfaltet; aber hat er den einfachen Kirchengesang übertroffen? Er hat bei jeder Strophe mit der Musik gewechselt und trotzdem besteht der wesentliche Charakter der Traurigkeit in der Wiederholung desselben Gefühls und sozusagen in der Monotonie des Schmerzes. (…) Pergolesi hat also die Wahrheit verkannt, welche die Theorie der Leidenschaften betont, als er ausdrücken wollte, dass nicht ein Seufzer der Seele dem vorhergehenden gleiche. Überall, wo es Abwechslung gibt, gibt es Zerstreuung und wo diese vorhanden ist, gibt es keine Traurigkeit mehr.“

Auch in Deutschland machte sich fast zur gleichen Zeit ein anderer Autor ähnliche Gedanken über den Charakter kirchlicher Musik: In seinen Darlegungen zur „Alten und neuen Kirchenmusik“ schrieb E. T. A. Hoffmann 1814/15: „Mit Palestrina hub unstreitig die herrlichste Periode der Kirchenmusik (und also der Musik überhaupt) an, die sich beinahe zweihundert Jahre bei zunehmendem Reichtum in ihrer frommen Würde und Kraft erhielt. (…) Ohne allen Schmuck, ohne melodischen Schwung folgen meistens vollkommene, konsonierende Akkorde aufeinander, von deren Stärke und Kühnheit das Gemüt mit unnennbarer Gewalt ergriffen und zum Höchsten erhoben wird. (…) Am reinsten, heiligsten, kirchlichsten muss daher die Musik sein, welche nur als Ausdruck jener Liebe aus dem Innern ausgeht, alles Weltliche nicht beachtend und verschmähend. So sind aber Palestrinas einfache, würdevolle Werke in der höchsten Kraft der Frömmigkeit und Liebe empfangen, und verkünden das Göttliche mit Macht und Herrlichkeit.“

In dem Maße, in dem sich mit dem Beginn des 19. Jahrhunderts für den Bereich der Kunst die Welt in eine „reale“ und eine „künstliche“ (irreale) spaltete, sah das romantische Schrifttum die sakrale Musik in einer neuen Funktion: Sie stand auf der Seite der Kunstwelt, die letztlich zur Realität als Gegenwelt fungierte. Zugleich stand sie zu dieser Gegenwelt noch einmal in einer unauflösbaren Spannung, und zwar insofern, als sie nicht nur überzeitlich-mythisch ausgerichtet war, sondern auch noch auf menschliche („weltliche“) Emotionen völlig zu verzichten hatte. In welchem Maße sich die Komponisten an diesem Ideal orientierten oder nicht, steht freilich auf einem anderen Blatt.

Übrig geblieben sind jedoch Postulate und Illusionen hinsichtlich des Charakters von sakraler Musik und ihrer Ausführung, die bis heute immer dann fröhliche Urständ feiern, wenn es nach Zeiten bewegter Reformen wieder mit Sieben-Meilen-Stiefeln in der Kirche und ihrer Liturgie rückwärts zu gehen hat. Zu diesen Illusionen gehört an erster Stelle der programmatische Verzicht auf ästhetische Zeitgenossenschaft – nicht etwa nur, weil man zu bequem wäre, sich der Herausforderung einer neuen künstlerischen Stilistik zu stellen. Vielmehr spielt zunehmend die Anschauung eine Rolle, es gäbe einen musikalischen Stil der „ewig“ sei – so wie es eine liturgische Sprache in einer Form liturgischer Feier gäbe, die den Anspruch auf überzeitlich bleibende Gültigkeit erheben könne. Der polnische Komponist Krzysztof Penderecki schrieb 1997/98 ein vielbeachtetes „Credo“; das Werk macht den Hörer mit Blick auf die Entstehungszeit ratlos, greift Penderecki doch weitestgehend auf eine spätromantische Tonsprache zurück, gegenüber der sich Werke des späten Bruckner ausgesprochen revolutionär ausnehmen.

Im Booklet-Text zur CD schreibt Ray Robinson über die Intention des Komponisten: „Zu Beginn seiner Karriere war Penderecki bekannt für seine experimentellen und revolutionären Gedanken. Heute ist er besorgt über die Entfremdung von Komponist und Publikum, die sich im Verlauf des 20. Jahrhunderts entwickelte. Auch er träumte den Traum der Avantgarde von der Zerstörung des Überkommenen, nun sucht er nach der Synthese (…). Er definiert Synthese als ein Ganzes, das mehr ist als die Summe seiner Teile (…), als Verschmelzung gemeinsamer Erfahrung. Credo ist der jüngste Schritt auf der Suche nach dieser universellen musikalischen Sprache. Es ist ein Werk, das vier Jahrzehnte eigener musikalischer Erfahrung und zwei Jahrhunderte Musikgeschichte in sich vereinigt. Es ist Musik für das Publikum des ausgehenden 20. Jahrhunderts.“

Es steht zu befürchten, dass der letzte Satz nicht weniger als wahr ist. Wenn es jedoch so sein sollte, dass sakrale Komposition in der post-postmodernen Versplitterung des späten 20. Jahrhunderts stilistisch nicht anders aussehen kann, dann sollte man sich zumindest des Phänomens „Retro“ bewusst sein: dass es nämlich ein bloßer und recht summarischer Rückgriff auf vergangene Zeiten wäre – und nicht eine Synthese, die überzeitliche Gültigkeit beanspruchen könnte.

Die neuerliche Üppigkeit der liturgischen Symbole wie auch der reiche Schatz kirchlicher Kunst stehen in nicht wenigen Fällen genau diametral zur erschreckend radikalen Einfachheit der Botschaft, der sich alle diese Schätze verdanken. Und die Geschichte der Kirche – der kirchlichen Liturgie, Musik und Kunst – ist voll vom Wechselspiel zwischen mühsamer Verteidigung des Glanzes und radikalem Bildersturm, von Retro und Revolte.

Die Unverfügbarkeit Gottes akzeptieren

Wie eine Mahnung klingt da ein Satz aus einem Schauspiel von William Shakespeare – Troilus und Cressida: „’tis made idolatry to make the service greater than the God.“ (Wahn und Tollheit ist’s, den Dienst zu machen größer als den Gott). Diesen Satz ins Theologische gewendet, rettet nur die Akzeptanz der Unverfügbarkeit Gottes die einzigartige Qualität seiner Zuwendung zu uns Menschen als Gott der Geschichte – und zwar als Gott unserer Geschichte, die er aus freiem Willen und in freier Zuwendung von Anfang an hat begleiten und prägen wollen.

Die Versuchung, dass die Menschen die Selbstzusage Gottes zu einem Gegenstand ihrer Kultverwaltung machen und dabei keinen Raum mehr für seine Unverfügbarkeit lassen, war zu allen Zeiten sehr groß. Nach der Heimkehr des Volkes Israel aus dem Exil, als man sich an den Bau eines neuen Tempels begibt, ruft der Prophet Jesaja Israel die Worte Gottes zu: „Der Himmel ist mein Stuhl, und die Erde ist mein Schemel: Was also wäre das für ein Haus, das ihr mir bauen könntet?“ (Jes 66,1)

Was viele Gläubige an unseren Kirchenräumen zunehmend stört, ist die beinahe juristische Fixierung der liturgischen Orte, die die Transzendenz mit dem Aspekt der souveränen Unverfügbarkeit eben nicht erfahrbar machen kann – man führe sich hierzu nur die zunehmend zu beobachtende Tendenz vor Augen, wie sehr der Priestersitz wieder aufwendig gestaltet und unverhältnismäßig aus der Gemeinde herausgehoben, ihr „übergeordnet“ wird. Hierzu tragen die oftmals zu üppig benutzten liturgischen Requisiten noch bei – man denke nur an die Stichworte „Kerzen-Ikonostase“ und „Blumen-Lettner“. All dies führt dazu, dass zugleich mit der starren Amtlichkeit liturgischer Räume auch das kirchliche Amt selber und seine hierarchischen Rechte topographisch manifestiert werden. Die architektonische Umsetzung der unlösbaren Verschränkung von allgemeinem und Amtspriestertum, wie sie vom Zweiten Vatikanischen Konzil entwickelt wurde, müsste sicherlich anders aussehen.

Wo der Mensch darum weiß, dass der Kirchbau, die Paramente, die Geräte, die Musik, die Riten – dass all dies um seinetwillen da ist und nicht um Gottes willen –, da ist der erste Schritt in die richtige Richtung getan. Denn diese Erkenntnis bewahrt nicht nur vor hierarchischer Hybris, sondern auch vor der Gefahr, dass sich im Glanz, den die Feier zum Lobe Gottes ausstrahlt, vor allem die Akteure sonnen. Es ist gerade ein liturgischer Text, der dies vor Augen stellt: „In Wahrheit ist es würdig und recht, dir, allmächtiger Vater, zu danken und deine Größe zu preisen. Du bedarfst nicht unseres Lobes, es ist ein Geschenk deiner Gnade, dass wir dir danken. Unser Lobpreis kann deine Größe nicht mehren, uns aber bringt er Segen und Heil durch unseren Herrn Jesus Christus.“

In diesem Jahr erinnert sich die katholische Kirche an den 50. Jahrestag der Eröffnung des Zweiten Vatikanischen Konzils. Nicht ein Retro, eine kulturästhetisch motivierte Reminiszenz des triumphalistischen Habitus in der Liturgie ist das Gebot der Stunde, sondern die Haltung der „ecclesia (liturgia) semper reformanda“ als Ausdruck des menschlichen Ringens darum, das „propter nos homines et propter nostram salutem“ der christlichen Botschaft für die Menschen unserer Tage erfahrbar zu machen und dabei den Inhalt der Botschaft, die äußere Form des Kultus und die Situation, die Bedürfnisse der Mitfeiernden heute in ein ausgewogenes Verhältnis zu bringen.

Sören Kierkegaard ist die folgende bissige und zugleich äußerst treffende Anekdote zu verdanken: „In der prächtigen Schlosskirche tritt ein stattlicher Hofprediger, der Auserwählte des gebildeten Publikums, vor einen auserwählten Kreis von Vornehmen und Gebildeten und predigt gerührt über die Worte des Apostels: Gott erwählte das Niedere und Verachtete. Und da ist keiner, der lacht.“ Die hier pointiert geschilderte Gefahr bleibt aktuell – ob allerdings auch heute niemand lachen würde, kann nicht mehr garantiert werden.

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