Gier ist eine der zentralen Erklärungen, die immer wieder angeführt werden, wenn es darum geht, sich das Entstehen der globalen Finanzkrise verständlich zu machen. Deren Auswirkungen beschäftigt die Politik bis heute. Doch Gier ist nicht erst ein Phänomen der vergangenen zehn oder zwanzig Jahre, und sie ist auch nicht nur in den Büros und Führungsetagen der Finanzindustrie anzutreffen. Um die ungeheure Dynamik zu erklären, mit der die Finanzmärkte die Weltwirtschaft an die Schwindel erregenden Abgründe der Krise führen konnten, reicht die Maßlosigkeit bestbezahlter Banker nicht aus. Es bedurfte auch eines fruchtbaren Bodens.
Genau den aber hat die Entwicklung der globalen Finanzmärkte in den vergangenen Jahrzehnten vorbereitet. Geld ist immer eine Abstraktion – auch wenn es uns als Geldschein oder auf Rechnungen und Depotauszügen sehr konkret erscheinen mag. Es abstrahiert den Wert von Dingen und Handlungen und macht ihn über Raum und Zeit beweglich und handelbar. Dinge werden zu Waren, Handlungen zu Dienstleistungen. Deren Wert ist freilich keine feste Größe. Im Unterschied zu den Waren und Dienstleistungen selbst, die spätestens an der ökologischen Belastbarkeit unseres Planeten ihre natürliche Grenze finden, kennt deren Wert ebenso wie das Geld, das ihn anzeigen soll, keine natürlichen Grenzen, weder nach oben noch – in der Gestalt von Schulden – nach unten. Geld ist das ideale Pendant für Maßlosigkeit und Gier.
Wir müssen uns mit der Benutzeroberfläche zufrieden geben
Auf den globalen Finanzmärkten hat dieses uns scheinbar so vertraute Geld inzwischen einen Grad der Abstraktion und Mobilität erreicht, der unser alltägliches Vorstellungsvermögen überfordert: Billionen von Transaktionen am Tag; Handelscomputer, die im Nanosekundentakt Kontrakte eingehen und wieder auflösen (die Mehrzahl der Finanzkontrakte im Hochfrequenzhandel wird gleich wieder storniert, weil sie nur der Preisbildung für spätere Kontrakte dienen); Finanzinstrumente, die so kompliziert sind, dass auch Fachleute die in ihnen versteckten Risiken nicht mehr erkennen können. Für die Beträge und Geschwindigkeiten, um die es auf den global vernetzten Finanzmärkten geht, sind unsere Sinne nicht eingerichtet. Doch damit haben wir uns in unserer Welt längst abgefunden. Wir sind es gewohnt, uns mit „Benutzeroberflächen“ zufrieden zu geben, ohne verstehen zu wollen und zu können, was hinter diesen Oberflächen geschieht. Solange es funktioniert. Die Finanzmärkte haben uns lange den beruhigenden Eindruck vermittelt, dass sie als Benutzeroberflächen für endlose Wertsteigerungen prächtig funktionieren.
Technik und Politik haben diese Entwicklung vorangetrieben. Die Fortschritte bei der elektronischen Datenverarbeitung haben die schnelle Bewältigung der gigantischen Datenmengen erst möglich gemacht und die Transaktionskosten immer weiter gesenkt. Die Politik, die – insbesondere im angelsächsischen Raum – stark unter dem Einfluss der Finanzbranche steht, hat sekundiert, indem sie Beschränkungen des Kapitalverkehrs und Brandmauern gegen Risiken im Namen von Freiheit und Wachstum eingerissen hat. Der Erfolg schien den neuen Alchemisten der Finanzindustrie Recht zu geben. Renditen auf das eingesetzte Eigenkapital von 25 Prozent, wie der ehemalige Chef der Deutschen Bank, Josef Ackermann, sie zur Unternehmensmaxime erhob, lassen klassische Investitionen in die realen Gütermärkte alt aussehen. Wer „Geld machen“ will, investiert heute in Finanzanlagen, die die neuen Möglichkeiten zu nutzen wissen. Auch renommierte Institute gründeten zahlreiche Tochterunternehmen und Zweckgesellschaften in den aus dem Boden sprießenden Steuer- und Regulierungsoasen, um an dem Goldrausch teilzuhaben.
Übernahme immer höherer Risiken
Doch wer genau profitiert von dem Rausch – und wer räumt auf, wenn die Party vorbei ist? Woher sollen auf Dauer 25 Prozent Rendite im Jahr kommen, wenn die Weltwirtschaft im gleichen Zeitraum nur um 2 bis 4 Prozent wächst? Wem nutzt es, wenn das Gesamtvolumen der Finanztransaktionen heute beim Siebzigfachen der globalen Nationaleinkommen liegt (1990 lag das Verhältnis noch bei 15 zu 1)?
Die seit 2008 andauernde Finanzkrise hat zumindest einige ernüchternde Antworten auf solche Fragen geliefert. Sie hat gezeigt, dass sich die Finanzmärkte zwar eine Zeit lang von den realen Gütermärkten abkoppeln und die Preise von Finanzanlagen (und teilweise auch von zugrunde liegenden Gütern wie Immobilien, Rohstoffen und Nahrungsmitteln) in die Höhe treiben können. Doch wenn die in komplizierten Finanzprodukten sorgfältig versteckten Risiken sich irgendwann nicht mehr wegleugnen lassen, platzt die Blase – und bringt dann erhebliche Verwerfungen in der realen Wirtschaft mit sich.
Andrew Haldane, der für Finanzmarktstabilität zuständige Direktor der Bank of England, hat (nach der Krise) vorgerechnet, dass knapp die Hälfte des Wachstums im Finanzsektor in den Jahren vor 2007 nicht auf effizienterem Management von Risiken beruhte, sondern schlicht und einfach auf der exzessiven Übernahme immer höherer Risiken. Mit anderen Worten: Auf den Finanzmärkten wurde auf diese Weise keine werthaltige Dienstleistung für die Realwirtschaft erbracht, sondern auf eigene Rechnung spekuliert, und zwar unter Inkaufnahme erheblicher Risiken gerade auch für produzierende Unternehmen. Ein erheblicher Teil des Wirtschaftswachstums, das die Finanzbranche beitrug, war von Anfang an nur heiße Luft.
Luft waren und sind die steigenden Preise von Finanzprodukten freilich nicht für diejenigen, die gut daran verdient haben: die Eigentümer, die ihre Buchgewinne früh genug in Sachwerten sichergestellt haben, und die Banken und anderen Finanzinstitute, die hohe Margen mit der Konstruktion und dem Handel solcher Produkte einnehmen. Die Kosten dieser Fehlentwicklung andererseits wurden und werden bis heute vor allem von den Menschen getragen, die nicht davon profitiert haben. Das gilt sowohl für die Industrie- als auch für die Schwellen- und Entwicklungsländer (vgl. HK, Januar 2010, 39 ff.).
Rückläufige Nationaleinkommen bei steigenden öffentlichen Schuldenständen – für Haldane sind das die Folgen der Tatsache, dass die Banken im Interesse ihrer Gewinnmaximierung zwar exzessive Risiken eingegangen sind, die Haftung für diese Risiken aber nicht übernommen haben. Die wurde mit dem Argument der gesamtwirtschaftlich notwendigen Bankenrettung auf die Steuerzahler überwälzt. Diese indirekte Subventionierung der großen globalen Banken wird allein zwischen 2007 und 2010 auf über 1000 Milliarden US-Dollar geschätzt.
Versuche, den Finanzsektor wenigstens nachträglich an diesen Kosten oder zumindest am Aufbau einer Zukunftsvorsorge zu beteiligen, sind hingegen über minimale Symbolhandlungen nicht hinausgekommen. Während die berüchtigten Bonuszahlungen bei Investmentbanken und Hedgefonds nach einer kurzen Schamfrist mittlerweile wieder auf Vorkrisenniveau ankommen, liegt die Bankenabgabe in Deutschland bereits im ersten Jahr ihrer Einführung (2011) um zwei Drittel unter ihrem Plansoll. Und eine der größten deutschen Privatbanken, die nur mit Steuermitteln vor dem Untergang gerettet werden konnte, nutzt seit Jahren die Spielräume, die ihr von der Politik eingeräumt wurden, um mit „kreativer“ Buchführung die Zahlung der fälligen Zinsen auf die gewährten öffentlichen Mittel zu vermeiden.
Die Finanztransaktionssteuer wurde bald ein Adoptivkind des Vertrauensverlustes
Vor diesem Hintergrund ist es nicht verwunderlich, dass eine inzwischen nicht mehr ganz neue Idee seit zwei bis drei Jahren wieder erheblichen Aufwind genießt: die Besteuerung von Finanztransaktionen. 1972 von dem amerikanischen Ökonomen und Nobelpreisträger James Tobin zunächst als Instrument zur Eindämmung von Devisenspekulationen entwickelt, hat sie seither eine bewegte Geschichte hinter sich gebracht, in der neben ihrer Funktion als Regulierungsinstrument auch ihr Potenzial für die Aufbringung erheblicher Einnahmen eine wichtige Rolle spielt.
Nachdem es zunächst um die Steuer wieder still geworden war, wurde sie gegen Ende des vergangenen Jahrhunderts von zwei Gruppen erneut aufgegriffen: von Entwicklungsexperten der Vereinten Nationen, die in ihr vor allem ein neues Mittel zur Entwicklungsfinanzierung sahen, und von der 1998 in Frankreich gegründeten globalisierungskritischen Bewegung „attac“, deren Name direkt Bezug auf die Steuer nimmt (Association pour une Taxation des Transactions financières pour l’Aide aux Citoyens). Im kirchlichen Bereich waren es zunächst vor allem katholische Entwicklungshilfswerke wie Misereor, die – grenzüberschreitend koordiniert in ihrem internationalen Netzwerk CIDSE – beide Anliegen der Entwicklungsfinanzierung und der Regulierung aufgriffen und gegenüber ihren jeweiligen Regierungen propagierten, zum Beispiel in einem offenen Brief im Jahr 2001 an den damaligen Bundeskanzler Gerhard Schröder, der auch von vielen anderen Nichtregierungsorganisationen und Gewerkschaften unterzeichnet wurde. Bis heute treten zahlreiche Verbände und auch Amtsträger der beiden großen Konfessionen in Deutschland für die Steuer ein.
Zu Beginn des vergangenen Jahrzehnts sah es eine Zeitlang so aus, als hätte die Steuer Chancen auf eine Einführung. Der Millenniumgipfel der Vereinten Nationen hatte sich im Jahr 2000 zu zentralen Aufgaben der Armutsbekämpfung bekannt, die kurz darauf in den Millennium-Entwicklungszielen zusammengefasst wurden. Die Frage der Finanzierung dieser Ziele stand im Raum, und die Suche nach neuen Finanzquellen war Gegenstand großer Konferenzen in Monterrey (2002) und später in Paris (2006). Das deutsche Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung unterstützte diese Bemühungen anfangs, doch die Widerstände erwiesen sich schon bald als zu hoch. Im Inland wurde die Steuer vom Bundesfinanzministerium nur belächelt, und im Ausland stellten sich die weltweit größten Finanzplätze USA und Großbritannien gegen die Steuer. Einige Nichtregierungsorganisationen, Ökonomen und Politiker arbeiteten zwar weiter an dem Konzept, doch niemand rechnete mehr mit dem politischen Willen für ihre baldige internationale Einführung.
Dann brach die Finanzkrise aus, die sich zugleich als handfeste Vertrauenskrise manifestierte. Zunächst der Banken untereinander, die sich im Wissen um ihre hohen versteckten Risiken und die Intransparenz ihrer eigenen Branche gegenseitig keinen Kredit mehr geben wollten. Und dann auch zunehmend der Bevölkerung gegenüber einem jahrelang gepflegten Bild hocheffizienter Finanzmärkte im Dienste des Wohlstands der Nationen. Die Finanztransaktionssteuer wurde bald ein Adoptivkind dieses Vertrauensverlustes.
Im Herbst 2009 brachte die gerade erst zustande gekommene Kampagne „Steuer gegen Armut“ innerhalb weniger Wochen 60 000 Unterschriften für eine Petition im Deutschen Bundestag zusammen. Seither haben sich nicht nur der Petitionsausschuss, sondern auch der Ausschuss für Wirtschaftliche Zusammenarbeit und insbesondere der Finanzausschuss in öffentlichen Anhörungen mit dem Thema befasst. Nach anfänglichem Zögern setzten sich der Bundesfinanzminister und die Bundeskanzlerin öffentlich für die Einführung einer Finanztransaktionssteuer ein. Gemeinsam mit ihren französischen Kollegen (die französische Nationalversammlung hatte bereits 2001 einen Vorratsbeschluss zur Einführung einer EU-weiten Transaktionssteuer verabschiedet) versucht die Bundesregierung seither, die Agenda auch auf der Ebene der EU voranzutreiben.
Wie in Deutschland, so gibt es auch in den meisten anderen Ländern der Europäischen Union öffentliche Unterstützung und Kampagnen für eine Finanztransaktionssteuer. Und wie in Deutschland hat sich auch in der EU das Bild innerhalb von zwei Jahren grundlegend gewandelt. Waren die ersten Stellungnahmen der Europäischen Kommission im Jahr 2010 noch deutlich ablehnend, so setzt sich die Kommission seit September 2011 offensiv für die Einführung einer solchen Steuer ein – oder genauer: für die Harmonisierung von Finanztransaktionssteuern in der EU. Denn es ist nicht ohne Ironie, dass im Laufe der oft hitzig geführten Debatten deutlich wurde, dass zahlreiche Länder auch in der EU bereits einzelne Finanztransaktionen besteuern – und das offenbar ohne all die katastrophalen Folgen, die von Gegnern dieser Steuer immer wieder an die Wand gemalt werden.
Keine grundsätzlichen sachlichen Einwände
In der Tat haben die zahlreichen Anhörungen, Veröffentlichungen und Diskussionen in den vergangenen zwei Jahren erkennbar werden lassen, dass es keine grundsätzlichen sachlichen Einwände gibt, die gegen die Einführung einer Finanztransaktionssteuer sprechen. Das ist auch der Grundtenor des Richtlinienentwurfs, den die Europäische Kommission im vergangenen September zur Finanztransaktionssteuer vorgelegt hat. Natürlich gibt es Klippen und Gefahren, die zu beachten sind. Doch das gilt für alle anderen Steuern auch.
„Ganz oder gar nicht“: So ließe sich der erste Einwand zusammenfassen, wonach die Einführung einer Finanztransaktionssteuer nur sinnvoll sei, wenn sie von allen Staaten vollzogen würde. Anderenfalls, so die Argumentation, würden die Finanzinstitute Umgehungsmöglichkeiten entwickeln oder mir ihrem Geschäft ganz in steuerfreie Gebiete abwandern. Die Finanzmärkte in Ländern mit Transaktionssteuer hingegen wären die Leidtragenden. Auch wenn eine möglichst breite Beteiligung an einer Finanztransaktionssteuer wünschenswert ist, so ist der Einwand in dieser Form dennoch nicht stichhaltig. Erstens ruft jede Steuer Versuche auf den Plan, sie zu umgehen. Das spricht aber nicht gegen die jeweilige Steuer, sondern für ihre sorgfältige Gestaltung und die konsequente Verfolgung von Umgehungsversuchen. So geschieht es auch bei der Einkommens- oder Mehrwertsteuer.
Zweitens greift die Steuerpflicht nach dem aktuell diskutierten Vorschlag der Europäischen Kommission immer dann, wenn mindestens einer der beiden Vertragspartner einer Transaktion in einem EU-Land ansässig ist, unabhängig vom Sitz des ausführenden Finanzinstituts. Eine Verlagerung des Instituts – die im Übrigen Geld kostet – könnte die Besteuerung der Vertragspartner also nicht automatisch verhindern.
Drittens wäre politisch zu fragen, ob denn eine mögliche Abwanderung von Finanzgeschäften, die mit hohen Risiken behaftet sind, ohne einen erkennbaren Nutzen für die Realwirtschaft zu erbringen, aus gesamtgesellschaftlicher Perspektive gerade nach den Erfahrungen der Finanzkrise einen Verlust oder einen Gewinn darstellte.
Falsche Anreize haben die Stabilität der Märkte gefährdet
„Die Steuer gefährdet Wirtschaftswachstum und Arbeitsplätze“, lautet eine andere Kritik, die immer wieder geäußert wird. Die EU-Kommission hat dieser Kritik mit ihrem Richtlinienentwurf zunächst Vorschub geleistet, in dem sie Modelle durchgerechnet hat, die Wachstumseinbußen von bis zu 1,76 Prozent für möglich hielten. Allerdings hat die Kommission inzwischen auf die zahlreich geäußerte Kritik an ihren Berechnungsmethoden (sie hatte beispielsweise nur negative, nicht aber positive Effekte der Einführung der Steuer berücksichtigt) reagiert und geht nun davon aus, dass eine Finanztransaktionssteuer keine negativen, sondern wahrscheinlich sogar positive Auswirkungen auf das Wirtschaftswachstum hat.
Ergänzend lässt sich die grundsätzliche Frage stellen, von welchem Wachstum und von welchen Arbeitsplätzen eigentlich die Rede ist. Betroffen wären in erster Linie die Bereiche des Finanzsektors, die für jenes künstliche Wachstum verantwortlich sind, das auf überhöhten Risiken und spekulativen Preisblasen beruht.
Die normale Unternehmensfinanzierung über die Erstausgabe von Aktien und Anleihen und auch gewöhnliche Absicherungsgeschäfte (über Futures und Optionen) wären nicht oder nur in vernachlässigbarem Umfang betroffen. Umsatzeinbußen in diesen Bereichen würden sich zweifellos auch auf (in aller Regel sehr gut bezahlte) Jobs in den entsprechenden Finanzinstituten auswirken. Eine aufrichtige Rechnung müsste dem allerdings diejenigen Menschen entgegenstellen, die ihre Anstellung infolge der Finanzkrise verloren haben. Gerade in Entwicklungsländern waren sehr viele Familien durch den plötzlichen Verlust ihrer Einkommen ohne jede soziale Absicherung existenziell gefährdet.
„Am Ende zahlt der Kleinsparer die Rechnung“: Diese Behauptung wird immer wieder von Vertretern der Finanzindustrie und auch von einigen Politikern als weiterer Einwand erhoben. Die Beispielrechnungen, die zur Untermauerung dieser These angeführt werden, gehen allerdings von völlig unrealistischen Annahmen aus. Ein Privatanleger bekommt es überhaupt erst mit der Finanztransaktionssteuer zu tun, wenn er mit Wertpapieren handelt.
Die klassischen Sparformen von „Kleinsparern“ wie Sparbuch, Festgeld oder Bausparverträge bleiben komplett außen vor. Bei Geschäften mit Wertpapieren (auch bei einer fondsgestützten Riester-Rente) hingegen liegen die Gebühren der Banken und Fondsgesellschaften um ein Vielfaches über der Steuer, beispielsweise ein Ausgabenaufschlag von 5 Prozent im Vergleich zu einer Transaktionssteuer von 0,1 Prozent. Erst wenn jemand seine Wertpapiere häufig umschichtet, mit Finanzderivaten spekuliert oder als so genannter Daytrader in den extrem kurzfristigen Handel einsteigt, bekommt er die Steuer zu spüren. Doch genau das ist beabsichtigt. Denn mit nachhaltigen Investitionen in Unternehmen hat das genauso wenig zu tun wie mit der Rentenvorsorge eines „Kleinsparers“.
Dass die Finanztransaktionssteuer stärker als andere Steuern Emotionen wachruft, hat wohl – neben den involvierten massiven wirtschaftlichen Interessen – vor allem damit zu tun, dass sie an sensible Punkte in unserem Gemeinwesen rührt. Mit ihr geraten unbequeme Systemfragen auf die Tagesordnung, für die wir noch keine Lösungen und auch keinen gesellschaftlichen Konsens haben. Auch eine Finanztransaktionssteuer wird nicht die Antworten auf diese Fragen liefern, aber sie fördert die dringend notwendige öffentliche Debatte.
Eine dieser zentralen Fragen ist die nach dem Verhältnis von Politik und Wirtschaft, von öffentlicher Kontrolle und Steuerung einerseits und von privatem Gewinnstreben und unternehmerischer Initiative andererseits. Gerade Vertreter der Finanzwirtschaft zählten und zählen zu den stärksten Befürwortern eines Zurückdrängens von Politik zugunsten möglichst großer Bewegungsspielräume freier Märkte. Das hat jedoch offensichtlich zu Anreizen geführt, die nicht nur die Einkommensentwicklung innerhalb der Gesellschaften immer weiter auseinander driften lassen, sondern die Stabilität der Märkte selbst auf Dauer gefährden.
Diese skeptische Einschätzung wird inzwischen nicht nur von Wissenschaftlern und Politikern, sondern auch von zahlreichen Führungskräften aus Unternehmen und sogar Banken vertreten, die sich nicht an den problematischen Geschäftsmodellen der Finanzindustrie beteiligen. So gab der Aufsichtsratsvorsitzende der Heraeus Holding, Jürgen Heraeus, Ende August 2011 in einem Interview mit dem „Handelsblatt“ zu Protokoll: „Die größte Katastrophe, die wir seit etwa zehn Jahren erleben, sind in der Tat die nicht realen Finanztransaktionsgeschäfte, die kein Mensch mehr versteht (…). Das hat das Vertrauen in die Banken erschüttert.“
Bei der Suche nach einer neuen Balance zwischen Politik und Wirtschaft spielen die Finanzmärkte eine besondere Rolle. Denn zum einen hat die Abkoppelung der oft exorbitanten Profite von der Haftung für die damit verbundenen Risiken auf diesen Märkten Dimensionen erreicht, die die Frage nach der Gemeinwohlbindung des Privateigentums neu stellen. Zum anderen aber hat die Finanzkrise in erschreckender Weise deutlich gemacht, in welchem Ausmaß politische Entscheidungen heute von den Finanzmärkten abhängig sind. Allein durch ihre schiere Größe haben einzelne Finanzinstitute ein Erpressungspotenzial, dem sich ganze Staaten beugen.
Dilemma zwischen globalen Herausforderungen und nationalstaatlich gesteuertem Handeln
Eine weitere grundlegende Frage im Zusammenhang mit der Finanztransaktionssteuer betrifft die Herausforderungen der fortschreitenden Globalisierung an die nationale Souveränität. So sind die nationalen Ordnungsrahmen längst viel zu löchrig für international operierende Unternehmenskonglomerate. Mit internationalen Ordnungsrahmen aber tun sich die Nationalstaaten schwer, wie gerade die laxe Regulierung der Finanzmärkte zeigt. Gleichzeitig nimmt die Zahl der globalen Aufgaben zu, die keine Rücksicht auf nationale Grenzen nehmen und die nur gemeinsam gelöst werden können. Der Klimaschutz ist das wohl prominenteste Beispiel dafür.
Gerade in der Steuerpolitik als einem der Kernbereiche staatlicher Souveränität wird das Dilemma zwischen globalen Herausforderungen und nach wie vor weitgehend nationalstaatlich gesteuertem politischen Handeln erkennbar. So erfordern selbst in der Europäischen Union mit ihrem hohen Grad politischer Koordination und Integration Richtlinien zur Steuergesetzgebung nach wie vor einstimmige Beschlussfassungen – ein Prinzip, das für die meisten anderen Bereiche inzwischen aufgegeben ist. Steuern auch international als politisches Instrument zu nutzen – um Einnahmen für globale Aufgaben zu generieren, um Lenkungseffekte etwa in Richtung ökologischer Nachhaltigkeitsziele zu erreichen oder um Verzerrungen in der Verteilung von Einkommen und Vermögen zu korrigieren – auch das steht mit der Einführung einer Finanztransaktionssteuer zur Debatte.
Von daher erklärt sich auch die entwicklungspolitische Relevanz dieser Steuer. Sie ist weit mehr als nur eine willkommene neue Geldquelle zur Ergänzung der seit jeher unzureichenden öffentlichen Entwicklungshilfe. Sie darauf zu reduzieren, hieße, einem Entwicklungsmodell verhaftet zu bleiben, das den Rahmenbedingungen einer globalisierten Welt nicht mehr gerecht wird. Denn die wirtschaftlichen Probleme armer Länder und die Not der dort lebenden Menschen lassen sich nicht allein mit Anschubfinanzierungen in Schlüsselsektoren lösen, solange dauerhafte einheimische und globale Strukturprobleme nicht angegangen werden. Vor allem Nichtregierungsorganisationen haben solche Strukturprobleme immer wieder thematisiert: Verschuldung, Welthandelsbedingungen, Rohstoffausbeutung, Umweltdegradation und Klimawandel, internationale Steuerflucht, Finanzspekulation.
Gut funktionierende Finanzmärkte sind bei der Lösung dieser Probleme unerlässlich. Allerdings nur dann, wenn sich ihre Qualität nicht allein an möglichst niedrigen Transaktionskosten, möglichst hohen Umsätzen und möglichst hohen Renditen bemisst. Die entscheidenden Kriterien sind andere: Dienstleistungsfunktion für die Realwirtschaft; Anreizsysteme, die Gemeinwohlorientierung und ökologische Nachhaltigkeit von Investitionen nicht bestrafen, sondern belohnen; Nutzen für alle Bevölkerungsgruppen; und nicht zuletzt Transparenz, die Risikokontrolle und öffentliche Aufsicht ermöglicht. In ihrem aktuellen Zustand erfüllen die Finanzmärkte diese Kriterien nicht. Sie funktionieren schlecht, auch wenn viele Marktteilnehmer sich bereits wieder von neuen Wachstumsprognosen blenden lassen.
Deshalb ist die öffentliche Debatte um eine internationale Finanztransaktionssteuer, die insbesondere die kritischen Segmente der Finanzmärkte erfasst, wichtig. Sie kann wesentlich dazu beitragen, die Finanzmärkte stärker in die Pflicht zu nehmen – aus sachlichen und aus moralischen Gründen. Sachlich, weil die Steuer neben anderen Instrumenten helfen kann, Fehlanreizen auf diesen Märkten entgegenzuwirken, die bisher die Abwälzung von Kosten und Risiken auf unbeteiligte Dritte systematisch begünstigen und so das gesamte System destabilisieren. Moralisch, weil eine solche Steuer auch einen Beitrag zu mehr Gerechtigkeit leisten kann, wenn sie einen Teil der Gewinne von denjenigen, die von den Vorzügen globalisierter Märkte in besonderem Maße profitieren, weiterreicht an das Milliardenheer all derer, deren elementare Menschenrechte zum Beispiel auf ausreichende Ernährung bis heute verletzt werden.