Die Documenta gilt als der wichtigste Seismograph für die Gegenwartskunst in aller Welt. Seit 1955 findet sie im inzwischen fünfjährigen Rhythmus für jeweils 100 Tage statt, in diesem Jahr vom 9. Juni bis zum 16. September. Zum vielfältigen Engagement der beiden Kirchen in der Begegnung mit der zeitgenössischen Kunst gehören seit längerem auch eigene Begleitausstellungen.
Noch nie aber gab es so viel Aufmerksamkeit wie für die katholische Begleitausstellung der 13. Documenta, bei der jetzt weitgehend zeitgleich in der Sankt-Elisabeth-Kirche rund ein Dutzend Werke des Bildhauers Stephan Balkenhol gezeigt werden. Inzwischen zum dritten Mal sind das Bistum Fulda und die katholische Kirche in Kassel hier der Veranstalter eines eigenen Beitrags zur Kunstschau.
Die intensiven Reaktionen waren nicht unmittelbar den gezeigten Kunstwerken geschuldet, auch wenn eine auf dem Kirchturm platzierte Figur mit ausgebreiteten Armen („Mann auf goldener Kugel“) nach ihrer Installation für Aufregung sorgte. Sie wirkt derart lebensecht, dass etliche Kasseler in den Tagen danach Rettungskräfte verständigt haben, weil sie einen Lebensmüden befürchteten.
Aufmerksamkeit insbesondere für dieses Exponat gab es bereits vor dem Beginn der Documenta, weil die diesjährige Kuratorin, die US-Amerikanerin Carolyn Christov-Bakargiev, mitteilen ließ, sie fühle sich von diesem „bedroht“. Die Kunst von Balkenhol, immerhin einem auch außerhalb von Kirchenkreisen weithin renommierten Künstler, sei nicht adäquat.
Insgesamt mangele es der Kirche an Respekt vor der Weltkunstausstellung. Die evangelische Kirche habe dies besser verstanden, als sie in diesem Jahr zum ersten Mal seit den achtziger Jahren auf eine eigene Begleitausstellung verzichtet hatte, nachdem die Documenta-Leitung nach der Vorstellung des Projekts Bedenken geäußert und erklärt hatte, dass diese nicht erwünscht sei.
Man stutzt, reibt sich die Augen und wundert sich. Ist es nicht skurril, wenn sich Kunst vor Kunst fürchtet? Wäre es nicht naheliegender, dass unabhängig von persönlichen Einstellungen zur Religion im Allgemeinen und den Kirchen im Besonderen, eigenständige Beiträge anderer Akteure aus Anlass der Documenta ihr auf diese Weise Ehre erweisen und deshalb auch goutiert werden? Sie sind immerhin ein Beleg dafür, dass gelingt, was auch Künstler in aller Regel für sich beanspruchen: in die Gesellschaft hinein wirken zu wollen.
Die künstlerische Leiterin der Documenta wertet die Balkenhol-Ausstellung allerdings eher als eine Art Trittbrettfahrerei. Immerhin liegt die Kirche in unmittelbarer Nähe zum Museum Fridericianum, einem der zentralen Ausstellungsorte der Documenta, sodass kaum ein Besucher die Installation wird übersehen können.
Vor allem jedoch, die Documenta-Chefin hatte sich in der Folge zu verteidigen. Sie musste sich fast unisono vorhalten lassen, einen bestimmten Kunstbegriff vorschreiben zu wollen. Der vom evangelischen Verzicht betroffene Künstler, Gregor Schneider, wie Balkenhol Kunstschaffender von Rang, nannte es „zynisch und beschämend“, dass Christov-Bakargiev ausgerechnet die Absage seiner Ausstellung herangezogen hatte, um jetzt auch ein Verbot der Balkenhol-Ausstellung zu rechtfertigen.
Der evangelische Theologe Andreas Mertin, der die letzten evangelischen Begleitausstellungen verantwortet hatte, warf ihr gar ein „totalitäres“ Kunstverständnis vor (vgl. auch das Online-Magazin „Tà katoptrizómena“, Nr. 77). Umgekehrt lobten andere, wie etwa der langjährige Leiter der Documenta-Besucherschule, Bazon Brock: Es sei hier die Kirche, die die Freiheit der Kunst verteidige.
Insgesamt haben nicht wenige darüber hinaus mit Amüsement verfolgt, wie wenig sensibel man auf Seiten der Documenta mit dem eigenen Anliegen umgegangen ist. Die Kirchen haben in den vergangenen Jahrzehnten zumindest hierzulande mühsam gelernt, dass selbst in den Fällen unmittelbarer Provokation beispielsweise durch Künstler, nichts fataler ist, als sich provozieren zu lassen. Mit der Forderung nach Verboten oder Zensur erreicht man stets das Gegenteil: nämlich Aufmerksamkeit und damit ein gesteigertes Interesse und eine größere Medienöffentlichkeit und – wo dies möglich ist, auch einen größeren ökonomischen Erfolg.
So trat denn auch ein, was Christov-Bakargiev befürchtet haben mag, aber eben selbst mit Kräften befördert hat. Am ersten Tag der diesjährigen Documenta hob die „Frankfurter Rundschau“ in einem Teil der Auflage zur Illustration die Balkenhol-Figur aufs Cover – und musste in einer Folgeausgabe die Gegendarstellung auf Seite 1 bringen.
Zur Eröffnung der Balkenhol-Ausstellung kamen mehr als 1000 Menschen – wobei man durchaus um Entkrampfung der Lage bemüht war. Balkenhol selbst beteuerte, dass ihm nichts an Konfrontationen liege, er aber auch keinen Grund gesehen habe, klein beizugeben und die Ausstellung abzusagen. Festredner Elmar Salmann, Benediktiner und Theologe, sprach die neuen Schattierungen der Schwierigkeiten im Verhältnis von Kunst und Kirche direkt an: Bei diesem Dialog handele es sich offenkundig um eine Tiefenbohrung von zwei Seiten, bei der völlig unsicher sei, ob man sich treffe. Aber vielleicht seien immerhin „Klopfzeichen zu hören“.