Eine Umkehrung von Klischees bedeutete es, als am 6. Dezember 1992 eine Menge von rund 100 000 Hindus auf die Babri-Moschee in der nordindischen Stadt Ayodhya zumarschierte und sie zerstörte. Zusammengebracht worden war sie von den hindu-fundamentalistischen Organisationen Rashtriya Svayamsevak Sangh, Vishva Hindu Parishad und Bharatiya Janata Party. Die darauf folgenden Unruhen kosteten Hunderte von Menschen das Leben.
Die Aktion hatte eine lange Geschichte und beruhte auf der Behauptung, es handele sich um den Ort, an dem der beliebte Hindu-Gott Rama der Mythologie zufolge vor 900 000 Jahren geboren sei, und bereits vor der Errichtung der Moschee durch den Mogul Babur habe dort ein Rama-Tempel gestanden, den die Muslime zerstört hätten – letzteres ist allerdings archäologisch nicht nachweisbar. Auch die Behörden machten die Sache der Hindufundamentalisten zu ihrer eigenen, stellten den provisorisch errichteten Tempel zu Ehren Ramas und seiner Frau Sita unter Polizeischutz und ließen den Wiederaufbau einer Moschee gerichtlich unterbinden.
Die sich hier spiegelnden Konfliktkonstellationen sind nicht ausschließlich religiös bedingt, sondern haben auch sozioökonomische Hintergründe und lassen uralte Ressentiments gegenüber der muslimischen Bevölkerung Indiens und die Forderung nach Genugtuung für Übergriffe unter (muslimischer) Mogulherrschaft wiederaufleben.
Im Jahre 1984 kulminierten im Nordwesten Indiens die Konflikte zwischen Hindus und militanten Sikhs, einer im indischen Bundesstaat Punjab konzentrierten Religionsgemeinschaft mit ihrem zentralen Heiligtum Golden Temple in der Stadt Amritsar. Die indische Armee stürmte am 5. Juni 1984 den Golden Temple (Operation Blue Star), da sich Jarnail Singh Bhindranwale, der Anführer des radikalen Flügels der Sikhs, dort versteckt hielt, und richtete ein Blutbad an. Diese Aktion kostete die damalige indische Ministerpräsidentin Indira Gandhi einige Monate später, am 31. Oktober 1984, das Leben durch die Hand zweier ihrer Leibwächter, die Sikhs waren. Auch diese Aktion hatte neben religiösen Komponenten politische und ökonomische Hintergründe – radikale Sikhs setzten sich für einen eigenen Sikh-Staat ein und sind im Durchschnitt den Hindus gegenüber eine wohlhabendere Bevölkerungsgruppe.
Mediale Präsenz konstruiert die gefühlten Wirklichkeiten
Dies sind nur zwei Beispiele, die zeigen, dass die Frage von Friedfertigkeit und Gewaltsamkeit einer Religion schwerlich (nur) aus ihren Schriften, ja streng genommen gar nicht eindimensional beantwortet werden kann. Eine Religionsform, die einen legendären Mahatma Gandhi hervorbrachte (dem übrigens aus seinem Elternhaus die Rama-Frömmigkeit weitergegeben worden war, die ebenfalls Hintergrund bei vielen Hindu-Fundamentalisten ist), kann auch gewaltsam werden, wenn die Interaktion mit anderen Machtgruppierungen und die Umstände dazu führen. Jedoch wäre es nicht legitim und sinnvoll, eine religiöse Tradition, deren Anhänger aus jeweils spezifischen historischen Gründen häufiger auf Grund von Gewalttaten in den Medien präsent sind, aus diesem Grunde als tendenziell gewalttätiger zu stigmatisieren als andere.
Eine wichtige Schrift des Hinduismus, die Bhagavadgita, ein Teil des großen Epos Mahabharata, wird auch von Befürwortern der Gewaltfreiheit (zum Beispiel Gandhi) hoch geschätzt, stellt jedoch auch den Konflikt zwischen Gesinnungsethik und Kastenethik dar und lässt keinen Zweifel daran, dass es Pflicht des Kriegers Arjuna sei, in den Krieg gegen seine Gegner zu ziehen und zu töten, vorrangig vor seiner Pflicht, Leben zu schützen und zu bewahren.
Zur öffentlichen Beurteilung der Friedfertigkeit oder Gewaltsamkeit von Religionen kommt hinzu, dass die mediale Präsenz die gefühlten Wirklichkeiten konstruiert. So ging die Zerstörung der stehenden Buddha-Statuen im Bamiyan-Tal in Afghanistan durch die Taliban im März 2001 als Akt islamischer Barbarei weltweit durch die Medien. Einige Jahre zuvor, 1998/99, war in Japan die unsinnige Zerstörung eines großen und architektonisch einzigartigen Versammlungshauses erfolgt, das die japanische buddhistische Laienbewegung Soka Gakkai am Fuße des Berges Fuji am Taisekiji, dem Zentrum der Mönchsorganisation Nichiren Shoshu, errichtet hatte.
Aus Zorn über die Trennung von der Soka Gakkai im November 1991 ließ der Mönchsorden das imposante Gebäude zerstören und an seiner Stelle 2002 ein eigenes neues Tempelgebäude bauen, was an der Weltöffentlichkeit weitgehend unbemerkt vorüberging, zumal es nicht in das Bild des friedlichen Buddhismus passte. Aber es war nicht nur „Gewalt gegen Sachen“, die sich in der Geschichte des Buddhismus findet. Insbesondere in der Geschichte des ostasiatischen Mahayana-Buddhismus sind zahlreiche Beispiele für Mönchsarmeen nachweisbar, die entweder im Auftrag eines Fürsten gegen einen politischen Gegner oder gegen eine andere Mönchsarmee zu Felde zogen.
Überwiegend pragmatische Haltung gegenüber Gewalt und Krieg im Buddhismus
Theorien zur Gewaltneigung in Religionen haben sich meist auf die monotheistischen Religionstraditionen konzentriert, zumal sich dies nach den Terroranschlägen des 11. September 2001 nahezulegen schien. Davor war die Gewaltdiskussion durch Thesen von Jan Assmann angeregt worden, der suggerierte, dass der Umschlag vom Polytheismus zum Monotheismus nicht nur religiöse Unterscheidungsschärfe, sondern auch Gewaltbereitschaft zur Durchsetzung monotheistischer Rechtgläubigkeit in die Geschichte eingeführt habe.
Wie sieht dies für den Buddhismus aus? Außer dem wohlwollenden Klischee, dass es sich um eine friedliebende Religion handele, nimmt der Buddhismus in der Tat neben einem grundsätzlichen lapidaren Gebot, Leben nicht zu zerstören, sondern zu erhalten, eine überwiegend pragmatische Haltung gegenüber den Entwicklungen in Politik, staatlicher Gewaltanwendung und Fragen von Krieg und Frieden ein. Er bietet eine Reihe von Geschichten und Bestimmungen in den Schriften des Pali-Kanon, der Mahayana-Sutren und der sonstigen Tradition, wie dies auszusehen habe.
Oliver Freiberger und Christoph Kleine haben herausgestellt, dass in den Reden des Buddha zwar grundsätzlich bei Wahlmöglichkeit empfohlen wird, einen Beruf zu ergreifen, in dem nicht getötet werden muss, jedoch ansonsten eine pragmatische Haltung vorherrscht: Es wird akzeptiert, dass es Viehzucht betreibende Bauern, Jäger, Schlachter, Soldaten und Henker gibt. Zugleich aber ging zum Beispiel die bis heute anhaltende Stigmatisierung von Berufsgruppen, die mit der Tötung und Verarbeitung von Tieren (Schlachter, Gerber, Lederwarengewerbe bis hin zu Schuhhändlern usw.) zugange waren und sind, oft auf den Buddhismus zurück, wie die traditionelle Diskriminierung und Ghettoisierung der „Buraku“ in Japan – der Verzicht auf das Töten schlägt hier um in die menschenrechtsverletzende Behandlung derer, die berufsbedingt töten müssen.
Die entsprechenden Regeln wurden zunächst als Regeln für das monastische Leben der Nonnen und Mönche betrachtet. Auch Töten von Menschen konnte unter bestimmten Umständen erlaubt sein, so der „Tyrannenmord“ oder allgemein die Tötung, die Schlimmeres verhindern und den zu Tötenden vor der Anhäufung schlechten Karmas bewahren soll. Dies kann als „mitleidiges Töten“ bezeichnet werden und ist sogar geboten, nicht nur zulässig. Es wird jedoch – hierzu gibt es unterschiedliche Aussagen im Schriftgut – nur Bodhisattvas auf höheren (oder niedrigeren) Entwicklungsstufen gestattet. Die gewaltsame Verteidigung des Buddhismus war möglich und erlaubt, die Tötung von „Ungläubigen“ wird ausdrücklich von Mönchen gelobt in einer Anekdote über den singhalesischen König Dutthagamani aus dem zweiten Jahrhundert, der unter dem Schutz einer Buddha-Reliquie zahlreiche Feinde tötete. Die massenhafte Tötung von Nichtbuddhisten werde aufgewogen durch die verdienstvolle Verbreitung und Verteidigung des Dharma, der buddhistischen Lehre.
In Japan ist seit dem 10. Jahrhundert die Nutzung von Mönchsarmeen durch Landesfürsten bekannt – sowie Kämpfe von verfeindeten Mönchsarmeen gegeneinander. Nach der Annexion Tibets durch China kämpften tibetische Mönche in den fünfziger Jahren mit der Unterstützung des CIA bewaffnet gegen chinesische Truppen, bevor zu Beginn der siebziger Jahre der Dalai Lama einen gewaltfreien Kurs gegenüber China einschlug – der dann als der „eigentlich buddhistische“ Weg in die Geschichte einging und 1989 mit dem Friedensnobelpreis belohnt wurde.
Die Gesamtdynamik von Historie und gesellschaftlicher Realität berücksichtigen
Darüber hinaus gab es Autoren, die dem Dalai Lama und seiner Schulrichtung, dem tibetischen Gelug-Buddhismus, unabhängig von den bewaffneten Auseinandersetzungen mit den chinesischen Truppen gewaltsame Absichten unterstellten. Das Autorenpaar unter dem Pseudonym Victor und Victoria Trimondi entfachte 1999 mit seinem Buch „Der Schatten des Dalai Lama“ eine Kontroverse über den tibetischen Buddhismus und seine vermeintlichen gewaltsamen, undemokratischen und frauenfeindlichen Aspekte.
Das Buch nutzt für seine Kritik am Dalai Lama allerdings nicht geschichtliche Vorgänge von Gewalt und Krieg, sondern arbeitet mit einem buchstäblichen Verständnis buddhistischer Schriften, insbesondere des Kalachakra Tantra, der Grundschrift des Gelug-Buddhismus, und seiner apokalyptischen Szenarien. Die dort vorkommenden mit zeitgenössisch-mittelalterlichem Material angereicherten Kampfes- und Eroberungsszenen, die in einer symbolischen Darstellung der Veranschaulichung der spirituell-karmischen Mächte während der Tantra-Praxis dienen sollen, werden von den Autoren als Realschilderungen und politische Anspruchserhebungen gelesen: Der spirituellen Praxis feindlich gesonnene Mächte überfallen die zivilisierte Welt, die Beistand gegen sie aus dem Shambala-Reich erhält und sie abwehren kann. Es beginnt nun ein Goldenes Zeitalter, das der spirituellen Entwicklung förderlich ist.
Selbstverstümmelungen und rituelle Selbsttötungen
Die Trimondis schließen aus diesen Passagen des Kalachakra-Tantra auf einen realpolitischen Anspruch der Tibeter, mit magisch-symbolischen Mitteln eine „buddhokratische“ Weltherrschaft zu erlangen, auch unter Inkaufnahme von Gewalt und Krieg. Darüber hinaus werden Linien zum Faschismus und zum „esoterischen Hitlerismus“ gezeichnet, die die Trimondis in einem weiteren Buch („Hitler, Buddha, Krishna“, 2002) vertiefen, mit ähnlich geringer Überzeugungskraft wie schon im vorgenannten Buch. In der Mitte der neunziger Jahre führte die Anweisung des Dalai Lama, in seiner Schule des Gelug die Schutzgottheit Shugden nicht mehr kultisch zu verehren, zur Ermordung einiger Gelug-Mönche vermutlich durch Anhänger des Shugden-Kultes.
Ein Phänomen durch die buddhistische Geschichte hindurch ist die an sich selbst verübte Gewalt in Form von Selbstverstümmelungen und rituellen Selbsttötungen. Im Unterschied zu ablehnenden ethischen Argumentationen in den monotheistischen Religionen kennt die buddhistische Tradition unterschiedliche Positionen zu dieser Thematik. Ein Strang der Argumente besteht darin, im Mahayana-Buddhismus die Motivation zur Tat höher zu bewerten als die Tat selbst: Hierzu wird gerne die Beispielgeschichte des werdenden Buddha herangezogen, der sein eigenes Fleisch zur dringend notwendigen Ernährung eines Tigerjungen anbietet.
Wenn es einerseits nicht gestattet ist, heftigen Schmerz durch Selbsttötung abzukürzen, so kann andererseits der Zustand des Bewusstseins der entscheidende Faktor zur Beurteilung sein: Ist der Betreffende in einen höchsten Zustand des Bewusstseins gelangt, in dem er in perfekter Nicht-Anhaftung, Ausgeglichenheit und Klarheit denken und handeln kann, so ist ihm die Selbsttötung erlaubt. Ein Beispiel aus dem japanischen Buddhismus des Reinen Landes veranschaulicht dies: Der Betreffende wirft sich ins Wasser, sein Geisteszustand kann aber daran erkannt werden, ob das Seil, das ihm um die Hüfte gebunden ist, sich bewegt. Ist es so, das heißt das Bewusstsein unruhig, wird er an dem Seil wieder herausgezogen. Die Beispiele sind nicht einheitlich im Schriftgut, zumal nicht in späteren ostasiatischen Mahayana-Traditionen.
Gewaltfacetten des Buddhismus sind, darauf weist auch Michael von Brück hin, nicht einfach mit dem Unterschied von Theorie und „eigentlicher“ Religion auf der einen und ihrer geschichtlichen Wirklichkeit auf der anderen Seite zu verrechnen, geschweige denn letzteres mit Hinweis auf ersteres abzutun, sondern es ist immer eine Gesamtdynamik in der Geschichte und gesellschaftlichen Realität zu berücksichtigen, in der Religionsgemeinschaften und religiöse Menschen existieren und sich entfalten.
Im Rahmen dieser Dynamik ist es in geschichtlichen Konfliktsituationen auch zu phantasievollen und nicht in der Schrifttradition vorgezeichneten Aktionen gekommen. 1997 fand aus Anlass eines großen Erdgas-Pipeline-Projektes der Regierungen von Thailand und Myanmar eine Aktion buddhistischer Mönche statt, die weltweit Aufsehen erregte. Die Pipeline sollte sich vom Yadana-Gasfeld am burmesischen Golf bis hin zum Kraftwerk im thailändischen Ratchaburi erstrecken, quer durch Urwaldgebiete mit reichhaltigem Tier- und Pflanzenbestand und einem Rodungsbedarf von 17 Hektar.
Die Mönche unterzogen zahlreiche Bäume im fraglichen Gebiet einer „Ordination“ und erklärten sie auf diese Weise für „heilig“. Weihung, Segnung und eine safranfarbene Robe wurden jedem einzelnen der zu ordinierenden Bäume zuteil. Die Mönche setzten auf diese Weise die Regierungen beider Länder unter einen erheblichen Druck und erwirkten immerhin, dass zunächst ökologische Gutachten eingeholt werden mussten – leider mit dem Resultat, dass das Projekt unter Ableistung von ökologischen Kompensationsmaßnahmen doch durchgeführt werden durfte.
Der kambodschanische Mönch Maha Ghosananda (1929–2007) führte regelmäßig seit 1992 Friedensmärsche von Pnom Penh aus durch, die der strikten Auflage von Gewaltlosigkeit, Neutralität und dem Geist des Mitgefühls unterlagen. Er hatte sich von dem japanischen Mönch Fuji Nichidatsu in die Prinzipien und Methoden von Frieden und Gewaltlosigkeit einweisen lassen und war bis zu seinem Tode gemeinsam mit dem Dalai Lama, dem thailändischen Sozialreformer und Aktivisten Sulak Sivaraksa und dem vietnamesischen Mönch Thich Nhat Hanh einer der Schirmherren des Internationalen Netzwerks Engagierter Buddhisten, das 1989 gegründet wurde.
Ghandi ließ die friedlichen Aktionsmittel des Hinduismus zu Mythen werden
Der Hinduismus hat eine Figur wie „Mahatma“ Mohandas K. Gandhi (1869–1948) hervorgebracht, der das alte indische Prinzip des ahimsa, des Nicht-Verletzens, zu einer umfassenden politischen Methode entwickelte und es zugleich mit dem Anspruch des Festhaltens an der Wahrheit (satyagraha) verband. Die beiden wichtigsten Strategieaspekte Gandhis, die (legale) Nicht-Zusammenarbeit und der (illegale) zivile Ungehorsam, wurden in weltweit wahrgenommenen Massenkampagnen angewendet und ließen die friedlichen Aktionsmittel des Hinduismus und Gandhi selbst zu Mythen werden. Jedoch forderte gerade der Aspekt der freiwilligen Übernahme und Inkaufnahme von Leiden und Schmerz im Rahmen dieser Aktionen einen hohen Blutzoll aufgrund gelegentlicher politischer Fehleinschätzungen Gandhis, so etwa sein „Salzmarsch“ (1930) gegen das britische Salzmonopol und einige Aktionen auf den Dörfern, die in unkontrollierbarer Gewalt endeten.
In vielen Fällen ist religiöse Gewalt eingebettet in umfassendere Zusammenhänge
Gandhis Ideen von autarker Volksdemokratie haben maßgeblich die sri-lankische buddhistische Bewegung Sarvodaya-Shramadana beeinflusst, die sich seit 1958 in sri-lankischen Dörfern in Gemeinwesenarbeit für die Befriedigung von zehn Grundbedürfnissen einsetzt. Gandhi ist jedoch zusätzlich zu den zu Beginn gebotenen Beispielen ein wichtiger Beleg für die Ambivalenz des Hinduismus, der nicht in seiner „Substanz“ als eine friedliche, tolerante, Gewalt ablehnende Religion betrachtet werden kann, sondern unter historischen Bedingungen agiert und den Gewaltversuchungen der jeweiligen geschichtlichen Situation nicht widersteht.
Der Augenblick des Agierens entfaltet, so Hans-Martin Gutmann (Gewaltunterbrechung. Warum Religion Gewalt nicht hervorbringt, sondern bindet, Gütersloh 2009), seine Momente der Suggestion und Faszination von Gewalt, die gegenüber vorauslaufenden ideologischen oder religiösen Hemmungen in Bezug auf Gewalt doch gewaltsames Handeln generieren und sich als eigendynamisch erweisen. In der Regel bedarf es eines Impulses, eines „Funkens“, der das Feuer der Gewalt entzündet, nicht jedoch ohne dass eine Reihe von Beeinflussungsfaktoren in einer Konfliktkonstellation vorliegen. Umgekehrt sind, so Gutmann, religiöse Mechanismen denkbar, die diese Gewalt des Augenblicks unterbrechen und in genau den Kairos der Gewaltfaszination hinein die Gewalt bindende und unterbrechende andere Dimension aufleuchten lassen. Das „Entzündbarkeitspotenzial“ kann dabei in einer Religion geringer sein, die nicht direkt als Bekenntnisreligion in Erscheinung tritt, sondern eher als kulturprägende und -gestaltende Kraft in großer Heterogenität.
Dies bedeutet, dass ungeachtet anderer Faktoren tendenziell Judentum, Christentum und Islam als bekenntnisorientierte und identitätsmarkierende Religionen eher dazu neigen, als Komponenten in gewaltgeprägten Situationen eine Rolle zu spielen, weshalb auch Kippenberg („Gewalt als Gottesdienst“) Beispiele aus dem Bereich der monotheistischen Religionen bemüht – seine Theorie ist allerdings auf alle Religionen anwendbar. Das Stichwort des „Kairos“, der augenblicksgenerierten Gewalt, hat auch zur Folge, dass Gewaltanwendung nicht immer als Mittel zu einem Zwecke zu verstehen wäre, sondern gegebenenfalls als performative Handlung, die ihre Bedeutung in sich selbst trägt.
In vielen Fällen jedoch ist religiöse Gewalt eingebettet in umfassendere Zusammenhänge, sie ist ein „Produkt von Handlungsverläufen“ (Kippenberg 206), was auf die zu Beginn geschilderten Beispiele zutrifft. An diesen Handlungsverläufen sind neben den religiösen zahlreiche Faktoren politischer, sozialer und wirtschaftlicher Art beeinflussend und prägend beteiligt – die hindu-muslimischen Konflikte in vielen Teilen Indiens veranschaulichen dies sehr deutlich. Aus diesem Grunde kann es zwar zur Klärung religiöser Motivationslagen sinnvoll sein, auch auf gewaltbezogene oder gar gewaltbefürwortende Texte in den Schriften der Religionen einzugehen und mögliche intrinsische Motivationen aufzudecken (so Georg Schmid in: Reinhard Hempelmann und Johannes Kandel [Hg.]: Religionen und Gewalt, Göttingen 2006). Damit ist jedoch meist nur ein kleiner und oft keineswegs zentraler Teil eines komplexen Feldes von Bedingungen benannt und insofern oft eher eine verständnishemmende hermeneutische Engführung vorgegeben.
Der Buddhismus offenbart die größeren Friedenspotenziale
Was ist also der Befund für Hinduismus und Buddhismus? Religiös geprägte Gewaltvorgänge sind nach unseren Erkenntnissen in historische, in soziokulturelle Vorgänge eingebettet und werden von vielen Faktoren geprägt, die nur mittelbar etwas mit den betreffenden Religionen zu tun haben. Auch die Schriften sprechen eine ambivalente Sprache – sowohl Hinduismus als auch Buddhismus kennen Gewalt verhindernde und Gewalt fördernde Texte. Jedoch von religiöser Gewalt geprägten Vorgängen ausschließlich historische Kontingenz zuzuschreiben, die nichts mit den religiösen Grundlagen und Texten zu tun habe, griffe zu kurz in Anbetracht der Erfahrungswerte – auch wenn man hier nicht in die Falle der Gegenüberstellung „Ideal der Religion“ und „Missbrauch durch gewalttätige Menschen“ fallen darf.
Die Geschichte des Buddhismus offenbart Friedenspotenziale umfangreicher Art und ein großes Reservoir gewaltfreier Phantasie, die Geschichte des Hinduismus ist zu komplex, um hierzu eine Tendenzaussage machen zu können – auch die Bhagavadgita, die ja ihrerseits zum Thema mehrdeutig ist, steht nur für einen Ausschnitt hinduistischer Tradition und Frömmigkeit. Die alten Texte und Epen Indiens, zum Beispiel das Mahabharata und das Ramayana, enthalten große Geschichten einschließlich zahlreicher Kampfszenen und sonstiger Gewaltszenarien, aber auch Momente von Frieden und Gewaltverzicht. Sie sind nicht einschlägig nutzbar.
Die Friedenspotenziale von Buddhismus und Hinduismus, die seit dem 19. Jahrhundert neu entdeckt worden sind, bedürfen jenseits ihrer vielfältigen Traditionen der Interessenträger, die sie fruchtbar machen und gegen den Augenschein der politischen Realität zur Geltung bringen.