Auf den ersten Blick konnte es aussehen wie kirchliche Alltagsroutine: Der Pariser Kardinal André Vingt-Trois, im Nebenberuf auch Vorsitzender der Französischen Bischofskonferenz, versandte an alle Bistümer Frankreichs den „Vorschlag“, wie es offiziell hieß, eines Fürbittgebets zum Fest Mariä Himmelfahrt am 15. August. Die darin enthaltenen vier Bitten thematisierten Anliegen verschiedener Bevölkerungsgruppen: die Solidarität mit den sozial Benachteiligten in wirtschaftlich schwierigen Zeiten; die Verantwortung der politisch Gewählten für das Gemeinwohl; die gesellschaftliche und individuelle Unterstützung für die Familien; die Zuneigung der Eltern für die Kinder und Jugendlichen.
Mit diesen Fürbitten zum Wohl des Landes und seiner Menschen haben die französischen Bischöfe zurückgegriffen auf eine Tradition, die lange zurückreicht. Pius XI. erhob die leibhaftig in den Himmel aufgenommene Gottesmutter zur Patronin Frankreichs, am 2. März 1922. Bereits seit 1638, der Zeit Ludwigs XIII., gab es die Angewohnheit, am Fest von Mariä Himmelfahrt für die Anliegen Frankreichs zu bitten, ein Brauch, der sich nach 1945, vor allem in den sechziger Jahren und danach, verlor. In letzter Zeit aber ist er hier und da wieder aufgetaucht – vor allem in charismatischen und konservativen Milieus.
Diese Tradition ließen die französischen Bischöfe nun wieder aufleben – und zwar in einem bestimmten politischen Kontext: Zwei Themen sorgen im Moment gerade in kirchlichen Kreisen in Frankreich für erhebliche Unruhe. Der neue sozialistische Staatspräsident François Hollande stieß eine nationale Debatte über die aktive Sterbehilfe an und richtete unterdessen für das Thema eine eigene Ethik-Arbeitsgruppe ein. Außerdem hatte er bereits im Wahlkampf seine Absicht geäußert, Eheschließung und Adoption durch Homosexuelle zu ermöglichen.
Bereits bei einem persönlichen Gespräch am 17. Juli im Elysée-Palast hatte Kardinal Vingt-Trois Präsident Hollande die kirchliche Haltung zu diesen Fragen erläutert: Die Ehe sei nicht dazu da, „die Echtheit der Bindung zwischen zwei Personen zu bestätigen, die sich lieben“, wird der Pariser Kardinal in den Medien zitiert. Die Ehe sei vielmehr eine „soziale Institution zur Sicherung einer guten Erziehung der Kinder“. Man dürfe die unterschiedlichen Institutionen nicht miteinander verwechseln.
Im Briefwechsel mit den Diözesen zum Fest Mariä Himmelfahrt legte Vingt-Trois jedenfalls Wert auf die Feststellung, es bedürfe in dieser Situation eines „starken Signals“. Und dieses politisch starke Signal sollten die Fürbitten für Mariä Himmelfahrt sein. Zwei Textstellen fallen dabei besonders auf: Einmal die Bitte für „alle diejenigen, die kürzlich gewählt worden sind, um Gesetze zu machen und zu regieren, auf dass ihr Gespür für das Gemeinwohl der Gesellschaft stärker“ ausfalle „als für Partikularinteressen“. Zum anderen die Bitte für die Kinder, „damit sie nicht länger die Wunschobjekte der Erwachsenen“ seien, sondern „die Liebe eines Vaters und einer Mutter“ erfahren. Letzteres wurde vielfach als ein ausdrücklicher Verweis auf die Absicht der Pariser Regierung gewertet, die Adoption durch homosexuelle Paare freizugeben.
Auch wenn das Meinungsbild bis zuletzt unübersichtlich war: Der Vorschlag des Pariser Kardinals mit den Fürbitten blieb umstritten. Weniger des konkreten Inhalts wegen. Die konservative Tageszeitung „Le Figaro“ (3. August 2012) zitierte einen namentlich nicht genannten Priester der Erzdiözese Paris, der zu bedenken gab: „Dadurch, dass man laut schreit, hat man noch kein Monopol des Wortes, noch weniger der Gedanken.“ In der eigentlichen Debatte, also mit Argumenten, müsse man eine Rolle spielen.
Ein Vertreter des „Parti radical de gauche“ sah in den Fürbitten den Versuch, Widerstand gegen die geplante neue Gesetzgebung über die homosexuelle Ehe zu mobilisieren. Die Kirche verfüge aber über keine demokratische Legitimation, sich in die politische Debatte in Frankreich einzumischen, hieß es in einem sehr laizistisch argumentierenden Kommuniqué.
François Soulage, Präsident des „Secours catholique“, der französischen Caritas, bedauerte die Bezeichnung dieses Textes („Bitte für Frankreich“) und den Zeitpunkt seiner Veröffentlichung – darin könne mancher eine Verbindung zum rechtsextremen „Front National“ sehen. Und Jérôme Vignon, Präsident der „Semaines sociales de France“, hatte den Eindruck, die Botschaft der Kirche werde gar nicht verstanden. Die kirchlichen Positionen würden wahrgenommen, als stehe man den Homosexuellen feindlich gegenüber. Die Kirche müsse sich Gedanken machen, auf welche Weise sie sich öffentlich äußere.
Was die Angelegenheit nicht einfacher machte: Die Fürbitten waren nicht nur eine Stellungnahme in der Sache – die innerkirchliche Stimmungs- und Interessenlage war unübersehbar. Den Bischöfen bot das Fest Mariä Himmelfahrt mit den Fürbitten die Gelegenheit, dieses Thema nicht den „Integralisten“, den katholischen Fundamentalisten zu überlassen. Die Bischöfe in Frankreich haben ein elementares Interesse daran, dass die katholische Stimme in der Öffentlichkeit nicht von traditionalistischer Seite beherrscht wird. In der öffentlichen Debatte gerade um die Anerkennung einer homosexuellen Ehe samt Adoptionsrecht könnten sonst extremere katholische Positionen die kirchenamtlichen Stimmen verdrängen.
Die Auseinandersetzung um die Fürbitten von Mariä Himmelfahrt 2012 deutete ein Thema an, das sich mit diesem Datum nicht erschöpft hat. Isabelle de Gaulmyn von der Tageszeitung „La Croix“ glaubt in der Vorgehensweise der Bischöfe gar Hinweise für einen neuen Umgang mit der Politik in der katholischen Kirche in Frankreich zu erkennen, schrieb sie in ihrem Blog (www.la-croix.com). Auf die hochpolitischen siebziger Jahre sei eine „anti-politische“, eine „unpolitische“ Phase der Kirche gefolgt, mit der Gefahr, damit extremen Minderheitsgruppen das Feld zu überlassen. Moderatere Katholiken seien nur allzu lange nicht bereit gewesen, öffentlich von ihrem Engagement zu sprechen. Gebet und Politik ließen sich aber durchaus vereinbaren – das Fest Mariä Himmelfahrt habe dafür den Beweis geliefert.