Ein Blick auf Charles Darwin als TheologenBesser als der Darwinismus

Sowohl Kritiker der Evolutionstheorie wie auch selbsternannte „Darwinisten“ berufen sich auf populäre Bilder des Gelehrten, die mit dessen Lebenswerk und Denken oft wenig zu tun haben. So gilt es stattdessen, jenseits der Zerrbilder wieder den Blick auf den Forscher, Gottsucher und studierten Theologen zu richten.

Wenn am 12. Februar anlässlich des Geburtstages von Charles Darwin (1809 bis 1882) in vielen US-amerikanischen und auch immer mehr europäischen Kirchengemeinden der „Evolution Day“ zur Würdigung der Schöpfung und ihrer Erforschung begangen wird, so wird man auch daran erinnern, dass Darwin bei der US-Abgeordnetenwahl 2012 im Landkreis Athens-Clarke im Bundesstaat Georgia immerhin 4000 Stimmen erhielt. Auslöser für diese Solidarisierung war der republikanische Alleinkandidat Paul Broun, der im September in einer baptistischen Kirche bekannt hatte: „Gottes Wort ist wahr. Ich kam dazu, dies zu verstehen. All das Zeug, das mir über Evolution und Embryologie und die Theorie vom Urknall gelehrt wurde, all dies sind Lügen direkt aus dem Schlund der Hölle.“ Da es außer Darwin keinen Gegenkandidaten gab, gewann Broun seinen Wahlkreis unangefochten. Er kündigte auch an, seinen Sitz im Wissenschaftsausschuss des Repräsentantenhauses wieder anzustreben.

Charles Darwin – ein Botschafter der Hölle? Sinnigerweise glauben nicht nur wenig informierte Kritiker des großen Gelehrten, dass er ein Reduktionist, Religionsfeind und Leugner von Gott, Fortschritt und Lebenssinn gewesen sei. Auch viele selbsternannte „Darwinisten“ verkünden ein Zerrbild, das ihn als Vorreiter von populären Religionskritikern wie Ernst Haeckel (1834 bis 1914) und Richard Dawkins vereinnahmt und mit der historischen Wirklichkeit wenig bis gar nichts zu tun hat.

Charles Darwins einziges Studium: Anglikanische Theologie

Bei Vorträgen vor Naturwissenschaftlerinnen und Naturwissenschaftlern gönnt sich der Autor immer wieder gerne den Spaß, anzukündigen, er würde jetzt erst einmal die Thesen eines Theologen vorstellen. Die unweigerlich skeptischen Gesichter wandeln sich dann verlässlich in Verblüffung und Gelächter, sobald das Porträt Darwins an der Wand aufscheint. Darwin – ein Theologe? Das kann doch nicht wahr sein!

Es ist aber wahr. Der einzige Studienabschluss, den der wohl bedeutendste Wissenschaftler des 19. Jahrhunderts nach Abbruch eines Medizinstudiums jemals erzielte, war der eines Bachelors in anglikanischer Theologie. Und er hatte mit der Universität Cambridge riesiges Glück, betrieben doch viele seiner Professoren neben der theologischen ausdrücklich auch empirische Forschungen – selbst, wenn sie damit etablierte Gewissheiten (konkret etwa zum Alter der Erde oder der Sintflut) in Frage stellten.

So hatte auch der Präsident des Debattierklubs der Universität während Darwins Studium, der anglikanische Priester, Naturtheologe und Wissenschaftsphilosoph William Whewell (1794 bis 1866) bereits 1833 bekannt: „Aber im Hinblick auf die materielle Welt können wir mindestens so weit wie folgt gehen – Wir können wahrnehmen, dass Ereignisse nicht durch vereinzelte, in jedem Einzelfall angestrengte, Eingriffe göttlicher Macht hervorgebracht werden, sondern durch die Etablierung allgemeiner Gesetze.“ Mit diesem Zitat sowie einem von Francis Bacon eröffnete Darwin seine erste englische Ausgabe der „Entstehung der Arten“. Leider wurden die beiden Zitate nicht in die deutschen Übersetzungen übernommen. Bis heute glauben viele Menschen, dass Darwin in einem Umfeld finsterster, vorwissenschaftlicher Enge studiert habe. Das Gegenteil ist richtig: Darwin lernte Theologie im Zeichen interdisziplinärer, empirischer Studien und eines wissenschaftlichen Aufbruchs.

Dass er in vielen nachfolgenden Darstellungen auf den bloßen „Naturforscher“ reduziert und damit umgedeutet wurde, ist auch im Hinblick auf seine Forschungsgegenstände falsch: Darwin arbeitete empirisch und evolutionär gerade nicht nur zur Natur, sondern auch zu Kultur und Geist. Mit der „Abstammung des Menschen“ von 1871 und dem „Ausdruck der Gemütsbewegungen bei Tieren und Menschen“ von 1872 befassen sich gleich zwei seiner bedeutendsten Werke mit der Evolution von Gefühlen, Sprachen, Ästhetik, Psyche und Selbstbewusstsein, Empathie, Moral, Gottesglauben und sogar Gebets- und Meditationserfahrungen – um nur wenige Beispiele zu nennen.

Ebenfalls grotesk verkürzend ist die populäre Annahme, dass Darwin jeden höheren Sinn und Fortschritt in der Evolution ausgeschlossen habe. Stattdessen schloss er zum Beispiel das fünfte Kapitel in seiner „Abstammung des Menschen“ optimistisch: „Allem Anscheine nach ist es eine richtigere und wohltuendere Ansicht, dass Fortschritt viel allgemeiner gewesen ist als Rückschritt, dass der Mensch, wenn auch mit langsamen und unterbrochenen Schritten, sich von einem niedrigeren Zustande zu dem höchsten jetzt in Kenntnissen, Moral und Religion von ihm erlangten erhoben hat.“

Als Maßstab von Fortschritt aber legte Darwin nicht etwa Komplexität, Biomasse, Wissen oder Technologie an. Vielmehr ziele evolutionäre Moral auf Mitgefühl und Kooperation bis zur „Goldenen Regel“, die er sowohl in den Religionen wie auch Philosophien, etwa des von ihm sehr geschätzten Marc Aurel, vorfand. Entsprechend ließ Darwin keinen Zweifel daran, dass dieser Berggipfel nicht von der Natur alleine, sondern nur im Zusammenspiel mit Kultur, Verstand und Religion erklommen werden könne: „Gutes zu tun in Erwiderung für Böses, den Feind zu lieben, ist eine Höhe der Moralität, von der wohl bezweifelt werden dürfte, ob die sozialen Instinkte für sich selbst uns dahin gebracht haben würden. Notwendigerweise mussten diese Instinkte, in Verbindung mit Sympathie, hoch kultiviert und mit Hilfe des Verstandes, des Unterrichts, der Liebe oder Furcht Gottes erweitert werden, ehe eine solche Goldene Regel je hätte erdacht und befolgt werden können.“ Über die heute noch im Namen Darwins popularisierten Reduktionismen, die etwa geistige Erfahrungen als bloße Epiphänomene abtun wollen oder problematische Begriffe wie „Gen-Egoismus“ popularisieren, ging der geisteswissenschaftliche Kenntnisstand des Gelehrten bereits weit hinaus.

Die Evolution von Religiosität und Gottesbildern

Sehr sorgsam unterschied Darwin auch zwischen biologischen Grundlagen wie Sprachfähigkeit oder Religiosität einerseits und kulturellen Traditionen wie Sprachen oder Religionen andererseits. Ihm war völlig klar: Wenn die Evolutionstheorie wahr sein sollte, so musste sie sich mit Bezug auf alle Lebensäußerungen des Menschen interdisziplinär bewähren. Gegen die auch heute noch vermeintlich „darwinistisch“ verbrämte These, dass Evolution ein nur biologischer Begriff sei oder gar die Eigenständigkeiten von Kultur und Geist bestreite, kämpfte er entschieden und mit bis heute gültigen Argumenten an.

Entsprechend lehnte der Gelehrte die damals noch gängigen Thesen eines so genannten Urmonotheismus ab, wonach alle heutigen Religionen mehr oder weniger korrumpierte Formen einer einstmals vollkommenen Gotteserkenntnis waren. Für Darwin war der moralisch verbindliche Monotheismus vielmehr eine spätere Hoch- und Spitzenentwicklung: „Viele noch jetzt existierende abergläubische Züge sind die Überbleibsel früherer falscher religiöser Glaubensansichten. Die höchste Form der Religion – die großartige Idee eines Gottes, welcher die Sünde hasst und die Gerechtigkeit liebt – war während der Urzeiten unbekannt.“

Der Evolution des Gottesglaubens widmete Darwin eigene Seiten sowie unzählige verstreute Beobachtungen sowohl in der „Abstammung“ wie in den „Gemütsbewegungen“. Dabei ging er davon aus, dass der „Glaube an unsichtbare und geistige Wesenheiten“ aus völlig natürlichen Gehirnfunktionen erwachse, die er am Beispiel seines Hundes erläuterte und die die heutige Kognitionsforschung endlich mit Begriffen wie „HAD – Hyper-Agency Detection“ und „TOM – Theory of Mind“ beschreibt.

Demnach prägen komplexere Nervensysteme (tatsächlich auch bei Hunden) eine Überwahrnehmung von potenziell Belebtem, eine HAD, aus: Es ist evolutionär sehr viel relevanter, zwanzig Mal einen Busch für einen Bären zu halten als ein einziges Mal einen Bären für einen Busch. Außerordentlich sozial abhängige Lebewesen wie der Mensch, den Darwin wiederholt als „soziales Tier“ bezeichnete, fügen zudem überlebenswichtige Annahmen über den geistigen Zustand und die Haltung belebter Wesen hinzu: Wir müssen sowohl spontan wie auch nachdenkend erfassen können, wer sich warum als Freundin oder Feind entpuppen kann.

In diesen rudimentären Ansätzen der Annahme von (wie heute formuliert wird) beobachtenden, überempirischen Wesenheiten sah auch Darwin bereits die evolutionären Grundlagen von Religion. Von hier aus setze ihre kulturelle Weiterentwicklung zu zunehmend abstrakten und moralisierenden Gottheiten ein: „Der Glaube an spirituelle Wesenheiten (agencies) wird leicht in den Glauben an die Existenz eines Gottes oder mehrerer Götter übergehen; denn Wilde werden naturgemäß Geistern dieselben Leidenschaften, dieselbe Lust zur Rache oder die einfachste Form der Gerechtigkeit und dieselben Neigungen zuschreiben, welche sie selbst in sich fühlen.“

Auch eine inzwischen wissenschaftlich beschriebene, adaptive Funktion dieser Glaubensannahmen erkannte Darwin bereits richtig: Im gemeinsamen Glauben an beobachtende Ahnen, Geister oder Gottheiten verbinden sich die Menschen zu kooperativen Netzwerken, die sich gemeinsamen Traditionen und Regeln unterwerfen. Dabei tappte er jedoch nicht in die Falle, jede Form der Religion automatisch für gut zu halten, sondern erinnerte unter anderem an „Menschenopfer an eine blutdurstige Gottheit, das Überführen unschuldiger Personen durch Gottesgerichte mit Gift oder Feuer, Zauberei usw.“ Daher, so Darwin, „lohnt es sich, gelegentlich über diese Formen von Aberglauben nachzudenken, denn sie zeigen uns, in welch unendlicher Weise wir der Vervollkommnung unseres Verstandes, der Wissenschaft und unseren aufgestapelten Kenntnissen zu Dank verpflichtet sind“. Die im Natur- und auch Kulturzustand noch rohe und zum Aberglauben tendierende Religion muss also laut Darwin verständig und wissenschaftlich durchdacht und veredelt werden: Hier begründete der studierte Theologe Darwin also evolutionär die Notwendigkeit von akademisch-wissenschaftlicher Theologie!

Auch die fortschreitende Auslegung der Heiligen Schriften fand seine Anerkennung: „So schön die Moralität des Neuen Testamentes auch ist, so kann doch schwer bestritten werden, dass ihre Perfektion teilweise von den Interpretationen abhängt, die wir Metaphern und Allegorien auflegen.“

Im Gegensatz zu manchen heutigen Schnellschüssen in die eine oder andere Richtung war bereits Darwin völlig klar, dass sich theologisch-metaphysische Fragen zwar empirisch anreichern, aber nicht entscheiden lassen: „Natürlich ist diese Frage von der andern völlig verschieden, ob ein Schöpfer und Regent des Weltalls existiert; und diese ist von den größten Geistern, welche je gelebt haben, bejahend beantwortet worden.“

Darwins persönlicher Glaubensweg

Darwin selbst stellte in Briefen und auch in seiner Autobiografie dar, wie er aus einem religiös eher skeptischen Familienumfeld in eine zeitweise intensive Bibelfrömmigkeit hineingewachsen sei. Noch auf der HMS Beagle habe er die – ebenfalls durchaus frommen – Offiziere durch eifrige Bibelzitate erheitert. Seine Abschlussprüfung in Theologie bestand er über das Werk des Naturtheologen William Paley (1743 bis 1805), von dem er später schrieb: „Ich glaube nicht, dass ich je ein Buch mehr bewunderte als Paley’s Natürliche Theologie: Ich konnte es fast auswendig aufsagen.“

Doch mit wachsendem Alter wuchsen seine Glaubenszweifel und er bezeichnete sich zunehmend als „Agnostiker“. Gleichwohl verbanden ihn lebenslange Freundschaften nicht nur mit evolutionären Christen wie dem Botaniker Asa Gray (1810 bis 1888), sondern auch mit John Brodie-Innes (1815 bis 1894), der in Darwins Heimatort Down genau das Amt ausübte, das Charles Darwin einst angestrebt hatte: das des Landgeistlichen.

Beide engagierten sich in zwei lokalen Hilfsorganisationen und einem Sparverein für Ärmere, dessen Vorsitz Darwin später von Innes übernahm. Der fromme Pfarrer verteidigte ihn wiederum gegen Kritiker aus den Kirchen und betonte, dass er Darwin nie als religionsfeindlich“ erlebt habe. Auch wenn sie über die Evolutionstheorie debattiert hätten, so habe Darwin erklärt: „Ich möchte Fakten entdecken ohne zu berücksichtigen, was in der Genesis geschrieben steht. Ich attackiere Moses nicht, und ich glaube, Moses kann auf sich selbst aufpassen.“

Als im September 1881 die beiden erklärten Atheisten Edward Aveling und Ludwig Büchner zu Besuch kamen, um den bereits berühmten Entdecker der Evolutionstheorie für ihre Sache zu gewinnen, luden die Darwins auch Innes hinzu und es entspann sich eine kontroverse Debatte, die Darwins ebenfalls anwesender Sohn Francis wie folgt zusammenfasste: „Dr. Aveling versuchte zu zeigen, dass die Begriffe ‚Agnostiker‘ und ‚Atheist‘ praktisch gleichbedeutend wären – dass ein Atheist jemand ist, der, ohne die Existenz Gottes zu leugnen, ohne Gott ist, insofern er von der Existenz einer Gottheit nicht überzeugt ist. Die Antworten meines Vaters zeigten seine Präferenz für die nichtaggressive Haltung eines Agnostikers. Dr. Aveling scheint das Fehlen von Aggressivität in den Ansichten meines Vaters als unwesentlichen Unterschied zu seinen gesehen zu haben. Aber nach meinem Urteil sind es genau Differenzen dieser Art, die ihn so vollständig von der Klasse an Denkern (class of thinkers) unterscheiden, zu der Dr. Aveling gehört.“

Gerne wird angenommen, die wachsenden Glaubenszweifel Darwins am Theismus hätten vor allem wissenschaftliche Gründe gehabt: Mit der Widerlegung von Paley’s Naturtheologie habe Darwin die Unvereinbarkeit von Evolution und Gottesglauben erkannt. Auch dieses populäre Vorurteil ist falsch, was wir sehr gut beurteilen können, da der Gelehrte wieder und wieder mit diesen Fragen rang und seine Gedanken dazu auf Papier brachte.

Demnach machte Darwin nie den bis heute gängigen Fehler, Gott für eine wissenschaftliche und also falsifizierte Hypothese zu halten. Der Hauptgrund für seine wachsenden Zweifel war die Theodizee-Frage: Die Frage nach Schmerz und Tod in der geschaffenen Welt. Die gängigen Argumente dagegen ließ Darwin nicht gelten, da doch gerade auch unzählige Tiere zu leiden hatten, die sich kaum für oder gegen Gott entscheiden oder sich moralisch veredeln lassen konnten. 1856 notierte er: „Welch ein Buch könnte des Teufels Kaplan schreiben über die stümperhaften, verschwenderischen, fehlerhaft niederträchtigen und grausamen Werke der Natur?“

Abgesehen von einer selbst lebenslang schwächelnden Gesundheit betraf die Theodizee-Frage mit dem qualvollen Tod gleich mehrerer Kinder den zu Hause arbeitenden Darwin auch unmittelbar. Den sonntäglichen Kirchenbesuch stellte er nach dem Tod seiner geliebten, zehnjährigen Tochter Annie ein, deren über ein Jahr dauerndes Siechtum er mit täglichen, beklemmend zu lesenden Notizen begleitet hatte.

Auch wurde schon viel über das berüchtigte „delicate arrangement“ am 1. Juli 1858 geschrieben, nach dem auf Betreiben von Darwins Freunden in der Linnean Society Texte von ihm und Alfred Russel Wallace (1823 bis 1913) verlesen wurden, die nachweisen sollten, dass Darwin schon vor Wallace das Prinzip der natürlichen Selektion entdeckt hatte. Selten wird aber erwähnt, warum der Gelehrte bei dieser für ihn so wichtigen Präsentation nicht anwesend sein konnte: Er trug an genau jenem Tage seinen mutmaßlich mit dem Down-Syndrom geborenen Sohn Charles Waring zu Grabe, der im Alter von fünf Jahren vermutlich an Scharlach gestorben war.

Eine weitere Tochter, Mary Eleanor, wurde nur wenige Wochen alt – und Darwin machte sich schließlich sogar Vorwürfe, ob er seine schwache Gesundheit an seine Kinder „vererbt“ habe und also an ihrem Leiden mitschuldig war. Die Theodizee war für Darwin und seine Frau Emma keine nur akademische Übung, sondern existenzielle Anfechtung.

Ein zweiter Kritikpunkt bezog sich auf den Heilsexklusivismus insbesondere christlicher Gruppen. In Großbritannien war bereits viel Religionsfreiheit erkämpft worden und entsprechend viele Gemeinschaften versuchten eifrig konkurrierend Anders- und Nichtglaubende „zu retten“. Auch in Down hatte sich bereits eine wiedertaufende Gemeinde von der anglikanischen Kirche abgespalten, in der auch Darwins langjähriger Gärtner und Mitarbeiter Henry Lexington als Diakon wirkte. Biblisch hergeleitete Höllendrohungen lehnte der Gelehrte jedoch entschieden ab: „Ich kann kaum sehen, wie es jemand wünschen würde, dass das Christentum die Wahrheit sei; denn wenn das so wäre, schiene die eindeutige Sprache des Textes zu zeigen, dass die Menschen, die nicht glauben, auf ewig bestraft würden, und das würde meinen Vater, meinen Bruder und fast alle meiner besten Freunde betreffen. Und das ist eine verdammenswerte Lehre.“ Die Vielzahl existierender Religionen galt ihm als ein weiteres Argument gegen die Alleingeltung eines exklusiven Wahrheitsanspruchs.

Die Rückkehr der großen Fragen

Entscheidend für seine zunehmende Hinwendung zum Agnostizismus aber waren die evolutionär begründeten Zweifel an der Erkenntnisfähigkeit des Menschen, die er in zahlreichen Texten über Jahrzehnte hinweg thematisierte, so auch in einem Brief an Gray: „Ich empfinde sehr stark, dass dieses ganze Thema zu schwierig für den menschlichen Intellekt ist. Ein Hund könnte ebenso über den Geist Newtons spekulieren. – Lasst jeden Menschen hoffen und glauben, was er kann.“

Vor allem unter evangelikalen Christen hält sich die schlecht belegte Überzeugung, wonach sich Darwin noch auf dem Sterbebett „bekehrt“ habe. Dagegen spricht, dass er einen solchen Schritt kaum vor seiner geliebten und christlichen Frau Emma verheimlicht hätte. Seine ihn bis zum Tode pflegende Tochter Etty erinnerte sich an die letzten Stunden: „Oft rief er: ‚O Gott, o Gott der Herr‘, aber ich glaube, das zeigte nur, wie sehr er litt.“

Bei all den oft pietätlosen Debatten um sein Sterben geriet jedoch völlig aus dem Blick, dass sich Darwin in seinem letzten Lebensjahr tatsächlich noch einmal intensiv religiösen Fragen zugewandt hatte. Auslöser war der Philosoph William Graham (1839 bis 1911), dessen Buch „The Creed of Science“ („Das Bekenntnis der Wissenschaft“) einen evolutionären Theismus entwarf und sogar den heute gängigen Begriff der „Emergenz“ vorweg nahm. Graham entwarf das Bild einer aufsteigenden Entfaltung der Materie von der Physik und Chemie über die Biologie bis zu den Kultur- und Geisteswissenschaften. Der dahinter stehende, göttliche Wille werde stets nur unvollkommen erkannt, aber durch bedeutende Religionsstifter wie Buddha, Mohammed und insbesondere Jesus Christus verkörpert und vorangetrieben.

Bewegt schrieb Darwin in seinem letztem Juli dem Autor: „Es ist sehr lange her, dass mich irgendein Buch so sehr interessiert hat.“ Graham habe seine „innerste Überzeugung ausgedrückt, allerdings viel lebendiger und klarer als ich es hätte tun können, dass das Universum kein Resultat des Zufalls ist. Dann aber steigt in mir immer der furchtbare Zweifel auf, ob die Überzeugungen des menschlichen Geistes, der aus dem Geist niedriger Tiere entwickelt worden ist, irgendeinen Wert hätten oder überhaupt vertrauenswürdig wären. Würde jemand den Überzeugungen eines Affengeistes trauen, wenn in solch einem Geist Überzeugungen wären?“

Graham antwortete umgehend und es entspann sich eine Korrespondenz und Verabredung zum Gespräch. Dazu kam es aber wegen Darwins Gesundheitszustand leider nicht mehr. Grahams Glaubensbuch und Darwins Begeisterung dafür gerieten in Vergessenheit.

Das reduktionistische und vermeintlich autoritäre Bild, das Kritiker wie Anhänger des gängigen „Darwinismus“ zeichnen, hat mit dem lebenslang interdisziplinär forschenden, suchenden und aufrichtig fragenden Charles Darwin wenig bis nichts zu tun. Eher ist zu konstatieren, dass wir in vielen empirischen und philosophischen Fragen rund um Evolution und Religion sogar noch hinter den Erkenntnis- und Diskussionsstand zurückgefallen sind, den der Bürgerwissenschaftler doch bereits erreicht hatte. Bislang blieb die Chance weitgehend ungenutzt, über Disziplinen und Weltanschauungen hinweg am echten Charles Darwin zu wachsen.

Anzeige: Ich bin, wie Gott mich schuf von Sabine Estner und Claudia Heuermann

Die Herder Korrespondenz im Abo

Die Herder Korrespondenz berichtet über aktuelle Themen aus Kirche, Theologie und Religion sowie ihrem jeweiligen gesellschaftlichen und kulturellen Umfeld. 

Zum Kennenlernen: 2 Ausgaben gratis

Jetzt testen