HK: Herr Professor Großbölting, die religiös-kirchliche Entwicklung in Deutschland ist derzeit eigentlich nicht dramatisch. An den Islam als für unsere Breiten neue Religion gewöhnt man sich inzwischen, die großen Kirchen können ihren Bestand im Großen und Ganzen halten. Erleben wir also auf diesem Gebiet eine Phase relativer Stabilität?
Großbölting: Nicht unbedingt. Das zeigt schon eine Reihe von Debatten der letzten Jahre, bei denen es um Religion oder um deren Platz im öffentlichen Leben ging. Nehmen Sie beispielsweise das Beschneidungsurteil oder die Diskussion um das Verhalten zweier katholischer Krankenhäuser in Köln gegenüber einer vergewaltigten Frau. Insgesamt wird der religionspolitische Status quo zunehmend infrage gestellt. Das hat damit zu tun, dass der Anteil der nicht religiös Gebundenen zunimmt. Schon die demographische Entwicklung wird dazu führen, dass in zehn bis fünfzehn Jahren nur noch fünfzig Prozent der Bevölkerung Mitglieder in einer der beiden großen Kirchen sein werden. Dann wird auch die Rede von einem christlich geprägten Deutschland viel begründungsbedürftiger sein als noch in den achtziger Jahren des letzten Jahrhunderts.
HK: Es gibt zwar immer wieder einmal religionspolitische Diskussionen, vor allem im Zusammenhang mit dem Islam. Aber in der breiten Öffentlichkeit spielt das Thema Religion nur eine untergeordnete Rolle. Wie ist das zu erklären?
Großbölting: Wenn in einer Schulklasse Religion überhaupt zum Thema wird, hat das meist mit dem Beispiel muslimischer Mitschüler und ihren Fragen zu tun. Dann taucht, so berichten Religionslehrer, in den Gesichtern der christlichen Schüler ein großes Fragezeichen auf, weil sie nicht mehr wissen, welches die Glaubensgrundlagen der Kirche sind, der sie formell angehören. Die Kirchen sind nach wie vor die größten Anbieter von Religion, die beiden großen Kirchen sind darüber hinaus seit den fünfziger Jahren eine enge Beziehung mit Staat und Gesellschaft eingegangen. Dadurch wurde ein Zustand erreicht, in dem sich Staat und Kirche ausbalancieren und sich gegenseitig nicht mehr groß herausfordern. Deshalb beinhalten religiöse Fragen eigentlich keine Spannung, und zwar im positiven wie im negativen Sinn. Es möchte einerseits niemand, dass Menschen wegen ihres religiösen Bekenntnisses auf der Straße attackiert werden oder anderweitig größere Religionskonflikte entstehen. Die Kehrseite dieses Prozesses ist allerdings, dass auch der christliche Glaube an Spannkraft verloren hat. Wo erleben Sie denn im normalen Alltag noch ein christliches Bekenntnis, das eine Ausstrahlung über die gewöhnliche Befindlichkeit der Menschen hinaus hat?
„Es gibt erste Anzeichen dafür, dass bisherige Selbstverständlichkeiten bröckeln“
HK: Gesamtgesellschaftlich ist Deutschland nach wie vor in dem Sinn christlich, dass christliche Feiertage staatlich anerkannt sind und christlich geprägtes Brauchtum wie im Advent und an Weihnachten allgemein akzeptiert wird. Aber wie lange werden sich solche Elemente angesichts der fortschreitenden Erosion des Christentums und der religiösen Pluralisierung noch halten lassen?
Großbölting: Es gibt erste Anzeichen dafür, dass bisherige Selbstverständlichkeiten bröckeln. Im Stadtstaat Hamburg hat man jetzt erstmals islamische Feiertage in den Katalog der gesetzlichen Feiertage aufgenommen, womit die Möglichkeiten muslimischer Arbeitnehmer verbreitert werden, an diesen Tagen frei zu bekommen. Eine aktive Religionspolitik wird insgesamt in diese Richtung arbeiten müssen, gerade im Blick auf die Muslime, die inzwischen nach den beiden großen Kirchen die mitgliederstärkste Religionsgemeinschaft in Deutschland darstellen.
HK: Kann dieser Prozess ohne Auseinandersetzungen in Öffentlichkeit und Politik wie auch zwischen den Religionsgemeinschaften abgehen?
Großbölting: Ich bin mir gar nicht sicher, ob bei den großen christlichen Kirchen die Bereitschaft zu solchen Konflikten besteht. Sie sind ja eher darauf aus, die eigenen Vorrechte dadurch zusätzlich zu legitimieren, dass man sie nicht mehr nur exklusiv für sich in Anspruch nimmt, sondern ihre Ausdehnung auf die jüdische und jetzt auch auf die islamische Religionsgemeinschaften ausdrücklich unterstützt. Man verteidigt den konfessionsgebundenen christlichen Religionsunterricht an staatlichen Schulen, indem man darauf hinarbeitet, dass es gleiche Möglichkeiten auch für andere Religionsgruppen gibt. Man verteidigt die Existenz von Caritas und Diakonie als großen und ökonomisch bedeutsamen Wohlfahrtskonzernen durch das Drängen darauf, dass auch die islamischen Gemeinschaften einen ähnlichen Wohlfahrtsverband gründen sollen.
HK: Die für Deutschland charakteristische „hinkende Trennung“ von Staat und Kirche wird also auch weiterhin bestehen bleiben, nur auf weitere Partner ausgedehnt…
Großbölting: Dem ist zweifellos so. Allerdings fällt damit sozusagen unter den Tisch, dass die größte Gruppe im religiösen Feld die Menschen darstellen, die sich keiner Religionsgemeinschaft zugehörig fühlen. Gerade im Blick auf die immer noch gegebene und auf absehbare Zeit bleibende Spaltung der religiösen Szene in Deutschland zwischen Ost und West wird die Politik auch darauf achten müssen, dass die Ansprüche und Bedürfnisse der nicht religiös gebundenen Bürger durch diese „hinkende Trennung“ nicht eingeschränkt werden. Aber in diesem Bereich gibt es außer Splittergruppen, die im zivilgesellschaftlichen Konzert keine starke Stimme haben, keine Initiativen, die sich für die entsprechenden Anliegen einsetzen würden.
HK: Die großen Kirchen verteidigen auf der einen Seite das in Deutschland gewachsene und auch bewährte staatskirchenrechtliche System. Gleichzeitig ist offenbar kein Kraut gewachsen gegen die fortschreitende Erosion kirchlicher Praxis und christlicher Tradition. Wie lange ist der sich daraus ergebende Spagat auszuhalten?
Großbölting: Die Kirchenleitungen müssten sich fragen, ob die beiden Entwicklungen nicht zusammenhängen. Für mich ist das treffendste Beispiel der Religionsunterricht: Es wurde noch nie so viel, so gründlich vorbereitet, wissenschaftlich fundiert und so breit Religion unterrichtet wie in der Bundesrepublik Deutschland. Gleichzeitig ist zu beobachten, dass nicht nur das religiöse Wissen, sondern auch das religiöse Bekenntnis von Generation zu Generation nicht nur einfach abbröckelt, sondern dramatisch abnimmt. Das wirft die Frage auf, ob diese Form des rechtlich abgesicherten Einwirkens in die Gesellschaft im Sinn der Religionsgemeinschaften tatsächlich ihre Funktion erfüllt.
„In den großen Parteien haben religiöse Anstöße heute nur eine geringe Bedeutung“
HK: Ist nicht die Erosion des kirchlichen Lebens Teil eines geschichtlichen Großtrends, gegen den keine noch so überlegte missionarische Strategie oder noch so sensible Pastoral viel ausrichten kann?
Großbölting: Der Trend zu mehr Individualisierung und zu weniger Organisationsgebundenheit trifft nicht nur die großen Kirchen, sondern ebenso die Gewerkschaften und die so genannten Volksparteien oder Sportorganisationen wie den Deutschen Turnerbund. Aber die Kirchen sind von dieser Entwicklung in besonderem Maß betroffen, weil sie einerseits einen hohen Anspruch haben, auf die Gestaltung des gesamten Lebens ausgerichtet sind. Gleichzeitig sind sie aber auch selber Promotoren dieses Wandels. Man muss nur einmal darauf achten, wie sich die Bemühungen um Weitergabe des Glaubens in den letzten Jahrzehnten verändert haben. Es gibt heute viele pastoraltheologische Ansätze, die den Einzelnen in den Mittelpunkt rücken. In den fünfziger Jahren war der Idealtyp des Christen derjenige, der sich in die „acies bene ordinata“ einordnet. Dieser Vermittlungstyp wurde seit den sechziger, siebziger Jahren in der kirchlichen Praxis abgelöst vom Idealtyp des Suchenden: Man zeigt dem Christen, was Mutter Kirche anzubieten hat, aber letztlich ist er frei, sich für oder gegen diese Möglichkeiten zu entscheiden. Jedenfalls in Westeuropa propagieren die Kirchen stark diesen Trend zur religiösen Selbstbestimmung.
HK: Vor allem die katholische Kirche in Deutschland hatte einmal starke Transmissionsriemen, die ihre gesellschaftliche Präsenz ausdrückten und unterstützten, Parteien, Verbände, auch die Katholikentage als Großdemonstrationen dieser Organisationsstruktur. Das alles ist nicht einfach verschwunden, aber in seiner Wirkung nicht mehr mit den traditionellen Institutionen zu vergleichen. Was ist da passiert?
Großbölting: Es gibt nach wie vor eine statistische Wahrscheinlichkeit, dass katholische und auch evangelische regelmäßige Kirchgänger die Unionsparteien wählen. Aber aufs Ganze gesehen haben sich die früheren Formen der gesellschaftlichen Organisation von Christen überlebt. Das katholische Vereinswesen ist heute vielfach nur Traditionspflege, sofern es nicht in konkreten Zusammenhängen wieder eine tatsächliche Funktion hat. Ich denke dabei beispielsweise an die vielen Familienkreise gerade hier im Bistum Münster. Nur sind diese Kleinformen nicht mit Großorganisationen zu vergleichen, die einmal die Interessen bestimmter, auch politisch organisierbarer Gruppen vertreten haben.
HK: Früher waren die katholischen Verbände ein wichtiges Rekrutierungsfeld für den Führungsnachwuchs der C-Parteien. Davon ist kaum noch etwas zu merken …
Großbölting: Die Union, die nach wie vor das „C“ im Namen führt, ist längst keine konfessionell gebundene Partei mehr. Sie ist vielmehr weitgehend religiös neutral geworden. Natürlich gibt es immer noch Kreise, die das „C“ als Identitätsmerkmal stark betonen. Aber insbesondere an der Parteispitze achtet man sehr darauf, dass konfessionell-religiöse Hintergründe keine Rolle spielen. Das lässt sich etwa sehr deutlich am Umgang der CDU mit der Beschneidungsdebatte zeigen: Man hat tunlichst vermieden, an damit verbundene Grundsatzfragen auch nur zu rühren, sondern versucht, das Problem auf ein Niveau herunterzukochen, das den allgemeinen religionspolitischen Kontext nicht verletzt. Insgesamt haben in den großen Parteien heute religiöse Anstöße eine geringe Bedeutung, anders als bei den Fortsetzungen der neuen sozialen Bewegungen aus den achtziger Jahren, sei es die Ökologie- oder die Frauenbewegung.
„Der Katholizismus profitiert von der neuen Lust aufs Exotische“
HK: Im Unterschied zum Protestantismus in Deutschland gab es auf katholischer Seite das sprichwörtliche Milieu als soziale Organisationsform. Es ist auf kleine Reste zusammengeschrumpft. Warum ist das katholische Milieu innerhalb weniger Jahrzehnte so sang- und klanglos untergegangen?
Großbölting: Der Hauptgrund liegt darin, dass sich das katholische Milieu aus einer Antihaltung entwickelt hatte. Man wurde vom Staat und vom gesellschaftlichen Mainstream sozusagen in dieses Milieu hineingedrängt, musste sich gegen das protestantische Kaiserreich und gegen die eher protestantisch geprägten Eliten behaupten. In der Bundesrepublik ist das nicht mehr nötig; das Milieu hat seine Schutzfunktion gegenüber der Mehrheitsgesellschaft verloren. Dazu kommt, dass die einzelnen Segmente dieses Milieus für diejenigen, die sich darin integrieren ließen, auch eine bestimmte lebenspraktische Funktion erfüllt haben. Der Volksverein für das katholische Deutschland hat auch Qualifizierungen geboten oder auch Absicherungen im Fall von Krankheit. All das hat peu à peu der Sozialstaat übernommen, sodass auch in dieser Hinsicht das Milieu nicht mehr gebraucht wird. Demgegenüber haben etwa in den USA, wo der Sozialstaat viel weniger ausgeprägt ist, die religiösen Gemeinschaften diese Funktion nach wie vor. Entsprechend ist die Mitgliedschaft in religiösen Gemeinschaften dort auch wesentlich attraktiver.
HK: Kulturprägend sind im heutigen Deutschland weder der Katholizismus noch der Protestantismus, obwohl letzterer zumindest in bestimmten Strömungen viel stärker mit der allgemeinen Kultur verwoben war. Gerade in nichtkirchlichen Kreisen gibt es allerdings da und dort ein auffälliges Interesse an der katholischen Ausprägung des Christentums. Wie sehen Sie die aktuelle Gemengelage von Christentum, Kirchen und Kultur?
Großbölting: Es besteht sicher gesellschaftlich-kulturell kein Katholikenmalus mehr, wie noch Anfang des 20. Jahrhunderts. Die Entwicklung politischer Kultur in der Bundesrepublik ist gleichermaßen von evangelischen wie von katholischen Anstößen mit geprägt. Das aktuell im Vergleich gesteigerte Interesse am Katholischen hängt vor allem damit zusammen, dass es einfacher ist, den Markenkern von Katholizität in der Gesellschaft zu identifizieren. Die Bandbreite dessen, was unter dem Dach der Evangelischen Kirche in Deutschland vertreten werden kann, ist eben noch größer als die entsprechende Bandbreite auf der katholischen Seite. Dazu kommt, dass in einer Zeit, in der Symbolpolitik wieder eine größere Rolle spielt, natürlich die bessere Sichtbarkeit des Katholischen in der Öffentlichkeit durchschlägt. Der Katholizismus profitiert sozusagen von der neuen Lust auf das Exotische, der Neugierde auf das Besondere.
HK: Aber ist nicht die Struktur des Protestantismus mit dem gesellschaftlichen Großtrend zur Individualisierung eher kompatibel?
Großbölting: Das stimmt insofern, als die evangelische Kirche weniger lehramtlich argumentiert als die katholische und sich weniger festlegt, gerade etwa in den wichtigen Bereichen von Ehe, Familie und Sexualität. Die damit gegebenen Chancen der evangelischen Kirchen schaffen gleichzeitig aber auch Schwierigkeiten. Wenn man, wie jetzt in der Orientierungshilfe der EKD zum Thema Familie, die Positionen so weit öffnet, dass kein Unterscheidungskriterium zur Gesamtgesellschaft mehr bleibt, erreicht man einerseits eine maximale Annäherung, verliert gleichzeitig aber immer mehr das eigene Profil. Das führt in einer Gesellschaft, in der immer mehr nach Fixpunkten gesucht wird, auch zu Aufmerksamkeitsverlusten.
„Das Profil der Theologie ist in der Gesellschaft weniger sichtbar“
HK: Deutschland ist traditionell von zwei konfessionellen Polen geprägt, und heute halten sich katholische und evangelische Kirchenmitglieder ziemlich genau die Waage. Sehen Sie diese Konstellation in der gegenwärtigen Situation eher als Chance oder als Hindernis für das christliche Zeugnis?
Großbölting: Der Zuschnitt des gelebten Christentums und nicht zuletzt auch der Theologie in Deutschland hat von der Konkurrenzsituation von Katholiken und Protestanten zweifellos profitiert, noch in den fünfziger Jahren des letzten Jahrhunderts sah man sich dazu herausgefordert, gegenüber der jeweils anderen Konfession zu zeigen, was es heißt, katholisch beziehungsweise evangelisch zu sein. Die traditionelle Bikonfessionalität dürfte aber in den kommenden Jahrzehnten eine immer kleinere Rolle spielen, vor allem deswegen, weil in der Breite der Mitglieder das Bewusstsein dafür schwindet, welcher Konfession man angehört. Wir werden uns insgesamt auf eine Situation zubewegen, in der sich die Unterschiede im Kernbestand zwischen den Konfessionen eher verwischen werden, wenn auch nicht in einigen ethischen Fragen.
HK: Wie nehmen Sie als Wissenschaftler die christlichen Kirchen und ihre Theologie als intellektuelle Größen wahr? Werden vor allem klassische Bestände verwaltet oder gehen auch heute Impulse und Gesprächsanstöße vom Christentum und seinen kirchlichen Vertretern aus?
Großbölting: Im hiesigen Exzellenzcluster „Religion und Politik“, in dem ich mitarbeite, gibt es zahlreiche Kontakte in die evangelische und katholische Theologie hinein. Es besteht eine wunderbare Zusammenarbeit, in der sich die verschiedenen Zugehensweisen sehr gut ergänzen. Gleichzeitig scheint sich die Rolle der Theologie als einer Art Leitwissenschaft ihrem Ende zu nähern. In den fünfziger Jahren hat man katholische und evangelische Theologen darum gebeten, Gutachten zu Fragen der nuklearen Bewaffnung zu erstellen, später hat man vor allem Theologen in den Bereichen der medizinischen Forschung um Rat gefragt. Heute würde man eine Kommission einrichten, in der auch noch ein Theologe säße, aber neben Vertretern anderer Wissenschaften. Das Profil der Theologie ist in der Gesellschaft weniger sichtbar, weil einfach das Spektrum der einschlägigen Experten größer geworden ist.
HK: Können es sich die Kirchen von ihrem Anspruch her leisten, intellektuell unansehnlicher zu werden? Geraten da nicht Dinge zunehmend ins Rutschen?
Großbölting: Sorgen müssten nicht zuletzt die Entwicklung des theologischen Nachwuchses machen, und zwar in beiden Kirchen. Das betrifft natürlich in besonderem Maß die katholischen Priesteramtskandidaten, deren Zahl dramatisch zurückgeht; aber auch in den evangelischen Fakultäten gibt es immer weniger junge Menschen, die Pfarrerin oder Pfarrer werden wollen. Das trägt natürlich zur intellektuellen Auszehrung der Theologie bei: Je weniger intellektuell wache, wirklich interessierte Leute sich durch das Fach anziehen lassen, umso geringer wird der intellektuelle Input für die Kirchen. Die Situation ist besonders bemerkenswert, weil global gesehen die Theologie in Deutschland auch wegen der Förderung durch den Staat lange einen besonderen Stellenwert hatte. Viele wichtige theologische Anstöße in der Weltkirche sind ja von deutschen Theologen ausgegangen.
HK: Die Kirchen hierzulande haben inzwischen bemerkt, dass ihnen die Felle gesellschaftlich-religiös davonschwimmen und reagieren darauf nicht zuletzt mit groß angelegten Reform- beziehungsweise Dialogprozessen, die sie nach innen festigen und nach außen ausstrahlungskräftiger machen sollen. Wie nehmen sich solche Bemühungen in der Perspektive eines Zeithistorikers aus?
Großbölting: Religiöse Gemeinschaften müssen sich in die Gesellschaft einbringen, sie müssen ihre Sicht auf die Kernprobleme artikulieren, die sich aktuell aufdrängen. Sie müssen diese Kernprobleme im Blick auf eine Transzendenz reflektieren und auch Lösungen in die Gesellschaft hinein anbieten, die mit diesem religiösen Bezug argumentieren. Die Kirchen könnten davon profitieren, wenn sie stärker die Gottesfrage stellen würden, ohne sich dabei auf die eigenen Reihen, in die kleine Herde zurückzuziehen. Es käme wesentlich darauf an, den religiösen Markenkern stärker in eine als plural akzeptierte Gesellschaft einzubringen, in der man eine Stimme unter vielen ist.
„Religiöse Gemeinschaften müssen sich in die Gesellschaft einbringen“
HK: Wo und in welcher Weise braucht eine Gesellschaft wie die unsere eigentlich Religion, die hierzulande traditionell in der Gestalt des christlichen Glaubens und seiner institutionellen Ausformungen vertreten ist?
Großbölting: Mit dem Brauchen von Religion ist es gar nicht so einfach. Die Vorstellung, wonach jeder im Grunde genommen nach etwas Transzendentem fragt oder gar ein „anonymer Christ“ ist, halte ich nicht für zwingend. Gerade in den neuen Bundesländern stößt man auf Bevölkerungsgruppen, die reflektiert und in einer gut abgesättigten Weise religionslos sind. Sie empfinden das in keiner Weise als Defizit. Es gibt also in dieser Hinsicht kein Ruhekissen, auf dem sich die Kirchen ausruhen könnten. Auch die Idee, dass sie als so etwas wie eine „Bundeswerteagentur“ einen Dienst leisten, auf den der Staat nicht verzichten kann, hat sich mittlerweile erledigt. Es gibt Werte in der Gesellschaft, die auch christlich begründet werden können, aber auch viele Werte, die eher gegen die Kirche erstritten wurden, etwa die Gleichberechtigung von Frauen oder die Anerkennung der besonderen Rechte von Kindern. Die Zivilgesellschaft bringt inzwischen Werte hervor und setzt sie um, was zwar durchaus zusammen mit den Kirchen geschehen kann, aber nicht mehr exklusiv durch sie.
HK: Sollten die Kirchen nicht eigentlich froh darüber sein, dass sie nicht mehr exklusive Werteagenturen sein müssen und damit nicht mehr dem vergangenen Idealbild einer christlichen Gesellschaft nachzutrauern brauchen? Worauf sollten sie statt dessen setzen?
Großbölting: Auch wenn nicht jeder Zeitgenosse sozusagen automatisch religiös ansprechbar ist, gibt es doch auch in unserer Gesellschaft ein religiöses Bedürfnis, das sich beispielsweise im Aufkommen eines neuen religiösen Marktes zeigt. In jeder Buchhandlung finden Sie regalweise Literatur zu den Themen Lebenshilfe und Spiritualität, die Protagonisten dieser Anliegen von Margot Käßmann über Notker Wolf bis zu Anselm Grün reden vor vollen Sälen. Die Kirchen wären deshalb gut beraten, auf religiöse Sucher neu stärker zuzugehen.
HK: Über Religion in Deutschland lässt sich nicht mehr sprechen, ohne den Faktor Islam einzubeziehen. Wie kann der Islam zu einem selbstverständlichen Teil der religiösen Landschaft werden?
Großbölting: Ob es der Königsweg ist, den Islam und die islamischen Gemeinschaften stärker kirchenförmig organisieren zu wollen, wage ich zu bezweifeln. Auf jeden Fall werden sich Staat und Gesellschaft dafür offen zeigen müssen, die Definition dessen zu verändern, was in unseren Verhältnissen Religion sein darf und das Staatskirchenrecht zu einem Religionsrecht zu erweitern. Auf dieser Grundlage darf der Staat dann auch legitimerweise von islamischen Gemeinschaften die Bindung an Recht und Gesetz in der Bundesrepublik verlangen. Der allergrößte Teil der Muslime praktiziert im Übrigen diese Bindung. Das schließt Konflikte mit der islamischen Religionsgemeinschaft nicht aus; diese müssen aber im positiven und produktiven Sinn ausgefochten werden.
HK: Wie kann sich zukünftig in Deutschland das Verhältnis von religiös neutralem Staat, in weiten Teilen nur schwach religiöser Gesellschaft und nach wie vor einflussreichen, aber kleiner werdenden Kirchen einspielen? Gibt es dafür Modelle?
Großbölting: In den USA hat sich auf der Grundlage einer strikten Trennung von Staat und Religionsgemeinschaften eine lebendige Zivilreligion entwickelt, die durchaus eine starke Verwurzelung in den einzelnen Religionsgemeinschaften aufweist. Dieses Modell konnte sich in Deutschland deshalb nicht herausbilden, weil es immer eine enge Zuordnung von Staat und Kirche gab. Eine Zivilreligion, die über die Religionsgemeinschaften hinaus von anders- oder nichtgläubigen Bundesrepublikanern akzeptiert werden könnte, konnte sich nicht entwickeln. Wenn man hierzulande zu einer deutlicheren formalen Trennung von Staat und Kirche käme, wäre das zwar ein schmerzhafter Einschnitt für die organisatorische Stärke der Kirchen. Aber auf Dauer gesehen würden meiner Meinung nach davon sowohl die Religionsgemeinschaften selbst wie auch der Staat und die Gesellschaft insgesamt profitieren.