„Bibliodrama“ wird nach wie vor praktiziert, obwohl der Hype der Anfänge längst Vergangenheit ist. Die ersten Versuche im deutschsprachigen Raum, biblische Texte mittels Rollenidentifikationen und wechselseitiger Interaktionsformen in Szene zu setzen, liegen bereits gut drei Jahrzehnte zurück. Obwohl sich seither viele Schulen und methodische Richtungen entwickelt haben, haftet diesen bibliodramatischen Dramaturgien immer noch ein experimenteller Charakter an. Experiment und Versuch sind gewissermaßen bleibende Qualitätskriterien für diese Form der Bibelauslegung.
Als ein gemeinschaftlich inszenierter, spielerischer Zugang zur Bibel hat sich das Bibliodrama seither in einer ungeheuer bunten Vielfalt weiterentwickelt und ist durch länderübergreifende Projekte in den letzten zehn Jahren in viele andere europäische Länder vorgedrungen. Die Inszenierungsvarianten ermöglichen den Teilnehmenden bestimmte Selbsterfahrungsprozesse und zugleich werden durch diese Prozesse hindurch die Texte neu ausgelegt. Die Bewegung zeigt sich nicht nur disziplinübergreifend und generationenplural, sondern auch interkonfessionell und interkulturell. Auf europäischer Ebene hat sich die bibliodramatische Arbeit mittlerweile als vernetzte Bewegung etabliert, deren Vertreter und Vertreterinnen regelmäßig mit anderen Religionen, Szenen und Kulturen Begegnungen initiieren.
„Bibliolog“ ist eine dem Bibliodrama verwandte, jüngere Form, die sich durch eine stärkere Zentriertheit auf Leiter und Leiterin sowie eine klarere Struktur auszeichnet. Entwickelt hat diese Variante des „Bibliodrama als Midrasch“ der US-Amerikaner und Jude Peter Pitzele.
In Deutschland wurde dieser Zugang anfänglich mit Skepsis betrachtet, vor allem weil hier die imaginierten Rollenphantasien nicht – wie beim Bibliodrama üblich – körperlich auf der Bühne ausgetragen werden, sondern in erster Linie verbal zum Ausdruck kommen.
Zur Textstelle, in der Jesus bei den Schwestern Maria und Marta zu Gast ist, würde im Bibliodrama beispielsweise die Leitung vor einer Annäherung an die Geschichte mit Körperarbeit im Raum beginnen, ehe die Teilnehmenden in die Rollen von Jesus, Marta und Maria schlüpfen und auf einer Bühne – wie in einem Theaterstück – miteinander in Beziehung treten.
Im Bibliolog hingegen bleiben alle Anwesenden auf ihren Stühlen sitzen. Die Leitung erklärt anfänglich die „Spielregeln“ im so genannten „Prolog“, führt kurz zur Textstelle hin und lädt alle Beteiligten ein, sich in eine bestimmte Rolle zu versetzen. Sie könnte zum Beispiel sagen: „Du bist Marta. Marta, du hast schon viel von diesem Jesus gehört. Jetzt ist er bei euch zu Gast. Marta, wie ist das für Dich?“ Im Bibliolog imaginieren die Teilnehmenden gewissermaßen die von der Leitung angebotene Rolle, beobachten, was die an sie gerichtete Frage in ihnen auslöst und antworten als diese Person. Damit wird das, was „zwischen den Zeilen“ des Textes steht, mit Leben gefüllt.
Mittlerweile hat sich auch für diesen spezifischen Zugang ein eigenes Netzwerk formiert, das bestrebt ist, Bibliolog zu verbreiten und Kurse mit entsprechend qualifizierten Trainern und Trainerinnen anzubieten.
Lebensgeschichte und Text legen sich wechselseitig aus
Bibliodrama und Bibliolog sind faszinierende, aber auch herausfordernde Ansätze, weil sie die jüdisch-christliche Tradition unmittelbar personen-nah, gemeinschaftlich konstitutiv und niemals risikolos aufbrechen. Das verleiht ihnen einen ambivalenten Status: Bibliodrama und Bibliolog kommt einerseits pastoral und wissenschaftlich-theologisch ein kirchlicher Sonderstatus in der Nische zu, andererseits gerade angesichts der gegenwärtigen Brüchigkeit des Verhältnisses von Kultur und Religion auch eine hohe Attraktivität.
In bibliodramatischen und bibliologischen Prozessen ereignet sich eine sehr spezifische Konfrontation zwischen Existenz und Tradition. Eine Gruppe von Menschen folgt der szenischen Struktur eines biblischen Textes. Die Teilnehmenden treten in Rollenimaginationen ein und inszenieren ein Spiel in Interaktion, bei dem sich Lebensgeschichte und Text wechselseitig auslegen. Das Erleben wird gemeinschaftlich reflektiert und im wechselseitigen Austausch hermeneutisch genutzt.
Die Anwesenden erleben durch diese spezifische Anbindung an die jüdisch-christliche Tradition eine Form der Realisierung des Evangeliums, der explizit Bedeutung für ihr Leben und ihren Glauben zukommt.
Bibliodrama und Bibliolog sind zwar methodisch planbare, in ihren Abläufen jedoch unkontrollierbare, ereignisreiche Phänomene. Ihre Bezugspunkte zu Theologie und Kirche sind fragil. Es existieren zwar Offenheit, Interesse und vereinzelt intensive Berührungsmomente in beide Richtungen, zugleich kennzeichnen diese Bezugspunkte immer wieder eine bestimmte Zurückhaltung und Vorsicht.
Die pastoralen Praktiker und Praktikerinnen müssen auf diese spezifischen Bewegungen erst stoßen und sich darauf einlassen, um etwas von ihrer Bedeutung zu erfahren. Die Amtskirche misstraut ihnen, die wissenschaftliche Theologie nimmt sie nicht ernst. Umgekehrt existiert innerhalb der bibliodramatischen und bibliologischen Bewegung selbst eine bestimmte Reserviertheit gegenüber der Kirche. Es sieht so aus, als wäre für die Bibliodramatiker die in ihren Praktiken sich manifestierende Kirchlichkeit jener Anteil, der aus Angst vor Vereinnahmung nur äußerst vorsichtig preisgegeben wird.
Das trifft für den Bibliolog nicht in diesem Ausmaß zu. Er ist von seiner äußeren, in sich stärker strukturierten Form her den öffentlich-kirchlichen Praktiken in Liturgie und Verkündigung näher, als dies beim Bibliodrama der Fall ist, und passt sich deshalb auch zumindest formal leichter in die klassischen kirchlichen Formgebungen ein.
Die Fragilität und Heilsbedürftigkeit menschlicher Biografien
Kirche konstituiert sich von ihrem Wesen her immer dort, wo es zu einem kontrastreichen Aufeinandertreffen von Tradition und Existenz kommt. Bibliodramatisch beziehungsweise bibliologisch wird die darin liegende Konfrontation bewusst inszeniert, was bedeutet, dass diese religiösen Praktiken pastorale Handlungsfelder darstellen. Teilnehmende berichten, dass an jenen Orten das Evangelium real erlebbar und erfahrbar wird und sich Befreiung ereignet. Die Tradition beginnt sich durch die Präsenz der biblischen Texte in einer Art und Weise zu verflüssigen, dass Menschen darin mit ihren jeweiligen existenziellen Lebensthemen und Anliegen Anbindung erfahren.
In der Sicherheit eines Textes zu experimentieren, zu spielen und zu entdecken, sich nach innen und nach außen zu wagen und dabei in eine andere Entwicklung zu kommen, darin liegt die große Stärke dieser Zugänge. Welche neuen Erfahrungsdimensionen und Fragestellungen entwickeln sich, wenn Eva den Apfel nicht isst? Wie ist es, als Esau den Betrug Jakobs am eigenen Leib zu spüren? Was geschieht mit mir, wenn ich als Maria von Magdala voller Verzweiflung das leere Grab betrete?
Die kreativen Inszenierungsprozesse, wie sie im Bibliodrama und im Bibliolog geschehen, geben den Lebens- und Glaubensgeschichten der Menschen einen zentralen Ort und setzen sie in unmittelbare Beziehung zur Tradition. Die so in Schwingung und Szene geratenen Körper und Psychen der Teilnehmenden machen die individuelle wie systemische Schuldanfälligkeit sowie die Fragilität, Zerstörbarkeit und Heilsbedürftigkeit menschlicher Biografien deutlich.
Insofern ist es nicht verwunderlich, dass die Biografienähe und die damit in Zusammenhang stehende Nähe zu Körper und Emotionen in Bibliodrama und Bibliolog auch mit Skepsis und Vorsicht betrachtet wurden und werden. Speziell das Bibliodrama hat mit seiner starken Betonung des Körpers und seinen vielfältigen Ausdrucksmöglichkeiten und Begegnungsformen Emotionalität, Eros und Sinnlichkeit und damit in Verbindung stehend neue Entdeckungsvarianten im Rahmen von Verkündigung in die kirchlichen Kontexte gebracht. Mancherorts hat das nicht nur Begeisterung hervorgerufen, sondern zu einer tiefen Verunsicherung geführt.
Sich auf körperliche Inszenierungen einzulassen, deren Ausgang nicht vorhersehbar ist und deren Prozesse sich der eigenen Machbarkeit und Verfügbarkeit entziehen, bringen Menschen auch in Kontakt mit ihren unbewussten psychodynamischen Seiten. Für die Kirche zeigen sich darin nicht selten ihre eigenen verborgenen Schichten. Bibliodrama wie Bibliolog erinnern sie an bestimmte verschämte Anteile und stellen an den jeweiligen Orten pastoraler oder theologischer Existenz selbst solche verschämte Anteile für sie dar.
Umgekehrt gibt es besonders innerhalb der Bibliodrama-Bewegung auch einen verschämten Anteil, der mit der eigenen Kirchlichkeit zu tun hat. Dieser Anteil hat die Bewegung zwar paradoxerweise in einem guten Sinne kirchlich selbstbewusst und autark werden lassen, sie zugleich aber auch in einer Nische belassen und wenig anschlussfähig für eine größere kirchliche Öffentlichkeit und in gewisser Weise auch für die theologische Wissenschaft gemacht.
Sowohl das Bibliodrama als auch der Bibliolog sind Bewegungen, denen es gelingt, durch ihre Praktiken Kirche in einem basiskirchlichen Sinne zu verwirklichen, die weder den institutionellen noch den selbsterfahrungsbezogenen Anteil verraten. Die im Bibliodrama vorhandene Scheu, sich für seine Praktiken den Kirchenbegriff zu eigen zu machen, hat mit der Angst zu tun, seinen experimentellen Freiraum zu verkaufen und sich womöglich zu sehr in die Kirchenstrukturen einpassen zu müssen.
Bibliodrama hat vor allem den selbsterfahrungsbezogenen Anteil von Kirchenbildung stark gemacht, was notwendig und richtig und wichtig war. Die darin liegende Gefahr ist, einer Selbstgerechtigkeit von unten verhaftet zu bleiben. Im Bibliolog bleibt hingegen die Selbsterfahrung zugunsten des Textes und seiner gemeinschaftlichen Auslegung im Hintergrund, was in diesem Verlauf systemisch betrachtet auch als kenotischer (hinabsteigender) Prozess, durch den die Szene hindurchgegangen ist, verstanden werden kann.
Die gegenseitige Verschränkung von Bewegung und Institution
Eine solche Sichtweise bedeutet, dass sich für mehrere Seiten Lernfelder auftun. Zum einen zeigt sie anderen pastoralen Handlungsfeldern etwas von der Kunst des sensiblen Ausbalancierens von Nähe zu kirchlichen Strukturen einerseits und der Notwendigkeit kirchlich distanzierter Selbsterfahrung andererseits. Zum anderen weist sie das Bibliodrama und den Bibliolog auf die Notwendigkeit ihrer wechselseitigen Bezogenheit hin. Die Stärke beider Zugänge liegt darin, Körper, Text und Gemeinschaft in ein besonderes Beziehungsverhältnis zu setzen.
Dabei werden jeweils andere Gewichtungen vorgenommen, die je nach Kontext und Öffentlichkeitsgrad mehr oder weniger angemessen beziehungsweise zielführend sind. Entscheidend ist, ob in der gegenwärtigen Lage der Kirche innerhalb ihrer pastoralen Handlungsfelder ereignisoffene, nach außen gerichtete, spannende Ermöglichungsräume geschaffen werden können. Beide Bewegungen – das Bibliodrama wie der Bibliolog – haben methodisch, theologisch wie personell die Ressourcen und das Know-how, solche strukturierten Bewegungsformationen zur Verfügung zu stellen. Sie kennen aus ihren eigenen Institutionalisierungsprozessen, wie wichtig die gegenseitige Verschränkung von Bewegung und Institution, von Geist und Form ist. Sie wissen, was es heißt, wenn Struktur und Form in die Starre führen oder eine bestimmte inspirierte Bewegung wie ein Feuer verbrennt und erlischt. Sie haben aber auch erfahren, dass der Geist das Feuer jederzeit wieder neu entfachen kann.
Von beiden Handlungsfeldern kann die Pastoral nicht nur lernen, was „experimentieren“ heißt, sondern auch welche Haltungen, Atmosphären und Formen der Ästhetik Experimente begünstigen. Experimente benötigen in allererster Linie Freiräume, und Freiräume entstehen vor allem dort, wo Erstarrtes mutig und vertrauensvoll losgelassen wird. Bibliodrama und Bibliolog gehen vom „alten Text“ aus, jedoch ist jeder Verlauf einmalig und einzigartig. Die Teilnehmenden üben in jedem Prozess neu ein, sich von den alten Vorstellungen und Verhaltensmustern zu befreien, die herkömmlichen Deutungen und Interpretationsweisen eines Textes loszulassen.
Das alles geschieht im Spiel, in der Bewegung, in der Kreativität, in gemeinsamen Reflexionsprozessen. Der gegenwärtigen Pastoral sind in gewisser Weise das Spiel und damit in Verbindung stehend auch die Lust und die dahinter liegende Ernsthaftigkeit abhandengekommen. Jene pastoralen Handlungsorte, die sich vor allem im binnenkirchlichen, parochialen Umfeld bewegen, sind in erster Linie darauf konzentriert, das noch Bestehende und Funktionierende zu erhalten. Kreativität im spielerischen Erproben neuer Handlungsweisen verursacht in diesen Kontexten vorwiegend Skepsis und Abwehr, weil sie unter Verdacht stehen, auch die letzten noch funktionierenden Strukturen in ihrem Bestand zu gefährden.
Jene pastoralen Handlungsorte wiederum, die sich kategorial verorten, sind vollends damit beschäftigt, sich inmitten des vorherrschenden Professionalisierungsdrucks zu profilieren. Um in ihrem Umfeld bestehen zu können, müssen die Akteure ihre spezifischen Fähigkeiten einsetzen, um den Erwartungen von außen gerecht zu werden. An beiden Orten jedoch sind die pastoral handelnden Subjekte gleichermaßen gefordert zu reflektieren, wie sich das Zusammentreffen von Tradition und Existenz ereignet und ob darin Kreativitäts- und Kontrastmomente in hinreichendem Maße ihren Platz finden.
Das spielerische und zweckfreie Sich-Einlassen auf einen gemeinsamen kommunikativen Begegnungsprozess, bei dem die Personen, die jeweilige Situation und die Tradition gleichermaßen beachtet werden und in ein reziprokes Spannungsverhältnis gelangen, sind im Bibliodrama wie im Bibliolog bewusst inszeniert. Diese spielerischen Zugänge erfordern eigene Zeit-, Raum- und Kommunikationsstrukturen, die in dieser Form nicht automatisch innerhalb der gegenwärtig bestehenden kirchlichen und pastoralen Handlungsfelder gewährleistet werden können.
Dennoch lassen sich an diesen spielerisch-kreativen Zugängen zu biblischen Texten wichtige Kriterien ablesen, die für pastorales Handeln generell entscheidend sind. Diese Kriterien haben zu tun mit den zu einem Spiel gehörenden Merkmalen: Rolle, Prozess, Risiko, Vertrauen sowie die Fähigkeiten des Ein- und Loslassens.
Das in bibliodramatischen und bibliologischen Prozessen immer wieder von neuem praktizierte Spiel lehrt der Kirche etwas über die Notwendigkeit, das Fremde zuzulassen, sich mit ihm zu konfrontieren, es im Gegenüber zu belassen, es anzuerkennen, an ihm zu wachsen. Bibliodrama und Bibliolog haben im Kontext spielerischer Praxis mit dem Fremden zu tun: mit dem fremden Text, mit dem/der unbekannten Mitspielenden, mit der anderen Kultur, Mentalität, Religion und Konfession. Im Spiel ist Raum für Formen von Angst, Ungewissheit und Bedrohung, die das Fremde in uns auslösen kann und zugleich macht es neugierig auf jene Anteile, die das Fremde dem Gegenüber in all seiner Ergänzungsbedürftigkeit bereithält.
Der vorsichtige, umsichtige und respektvolle Umgang mit dem Fremden sagt etwas über die Anschluss- und Inkulturationsfähigkeit kirchlicher Orte aus. Bibliodrama und Bibliolog sind für die Kirche paradigmatische Orte, wo Inkulturation aus Neugier- und Ergänzungsbedürftigkeit geschieht. Das fremde Andere wird dort dringend gebraucht, um die eigene zugesagte Botschaft und sich selbst darin zu entdecken.
Der Bibeltext braucht keinen Anwalt
Bibliodrama und Bibliolog sind experimentell- und spielerisch-inszenierte, mittlerweile langjährig erprobte Entdeckungspraktiken. Den Texten kommt dabei eine zentrale Funktion zu. Der kreative Textzugang ist nicht nur hinsichtlich der unterschiedlichen Zugänge und Methoden im Bibliodrama und im Bibliolog ein Thema, sondern auch in Bezug auf die mit der Problematik von Kirchenbildung verbundenen Themen. In der bibliodramatischen wie bibliologischen Praxis wird sehr traditionsbewusst mit den biblischen Texten umgegangen.
Das methodische und didaktische Spektrum der unterschiedlichen Zugänge zeigt, dass mit den Texten achtsam und respektvoll, jedoch ohne Scheu hantiert wird. Im Bibliodrama und im Bibliolog werden die Texte und ihre Inszenierungen genauso ernst genommen, wie die wissenschaftlich-exegetische Beschäftigung mit den Texten oder andere, klassische Auslegungsweisen und Verkündigungsformen. Die Stärke, die in den bibliodramatischen und bibliologischen Zugängen liegt, ist, dass sie es schaffen, eine unmittelbare Anbindung an die Quelle der Texttradition zu finden. Menschen können Heil und Befreiung für ihr Leben erfahren, wenn sich Bewegungs- und Verflüssigungsprozesse dieser Art ereignen.
Die Kirche ist dazu da, Orte zur Verfügung zu stellen, wo das geschieht. Nicht nur die biblischen Texte, auch die Lehr- und Glaubenssätze der Kirche, ihre Dogmen und Konstitutionen benötigen Orte, an denen sich ihre Bedeutungs- und Existenzrelevanz zeigen. Die biblischen Texte stellen ein Mahn- und Erinnerungsmal dafür dar, ob es in der Kirche beziehungsweise an den entsprechenden pastoralen Orten beim Volk Gottes das Vertrauen gibt, dass sich die Botschaft des Evangeliums in jeder Generation von neuem erfüllen kann. Die existenzielle Bearbeitung der Texte, wie sie im Bibliodrama und im Bibliolog geschehen, verlangen zum einen das Vertrauen, dass die Texte wirklich inspiriert sind und zum anderen, dass auch ein freier Zugang zum Text diesem nichts anhaben kann.
Der Text braucht keinen Anwalt, auch wenn er in Frage gestellt oder bekämpft wird. Seine Botschaft wird aber immer nur durch die eigene Existenz hindurch wahrgenommen. Diese Form der gegenseitigen Durchdringung kann Schmerz bedeuten, weil sie Text wie Lebensgeschichte aussetzt und in Frage stellt.
Bibliodrama und Bibliolog betreten jene Sphären, in denen sich entscheidet, ob die Tradition der Wirklichkeit beziehungsweise die Wirklichkeit der Tradition standhalten kann. Dass dem wirklich so ist, zeigt sich nicht immer sofort, sondern entwickelt sich langsam im Prozess. Die wiederkehrende Erkenntnis dabei ist, dass sich Tradition und Wirklichkeit messen können. Die damit einhergehenden, sich ereignenden Entdeckungen gelingen gemeinschaftlich und betreffen die biografischen Eigenanteile ebenso wie das Verständnis des jeweiligen Textes.
Der Befund, dass in bibliodramatischen und bibliologischen Verläufen den tradierten Texten prozessimmanent eine zentrale Bedeutung zukommt, ist nicht neu. Beachtenswert ist aber, dass sich an diesem spezifisch kreativen und spielerischen Umgang durch die Texte Potenziale eröffnen, die für die Kirche insgesamt von Bedeutung sind. An den Texten und durch die Texttradition werden im Bibliodrama und im Bibliolog Entdeckungen gemacht, welche die sensiblen Naht- und Bruchstellen zwischen binnenkirchlichen Glaubenspraktiken, christlich-theologischer Tradition und der Alltagspraxis des Volkes Gottes berühren.
Das Entscheidende ist, dass dabei herrschaftliche Normierungsversuche – egal von welcher Seite – nicht funktionieren. Es benötigt den Freiraum für gemeinsame Suchbewegungen, reziproke Lernverhältnisse und gemeinschaftliches Experimentieren. Im Bibliodrama wie im Bibliolog kommt es bei den Teilnehmenden regelmäßig wiederkehrend zu spirituellen Erfahrungen. Entdeckungspraktiken dieser Art ermöglichen, dass im Zusammentreffen von Biografie und Tradition Gottes Präsenz erfahren wird.
Wenn es stimmt, dass für diese Form von Ereignishaftigkeit ein gewisser Freiraum, eine bestimmte Leere, das unbeabsichtigte, risikoreiche, spielerische Erproben eine Notwendigkeit darstellen, dann bedeutet das für pastorale Handlungsfelder in kreativer Art und Weise durchzubuchstabieren, was das für ihren je spezifischen Ort heißen könnte. Dabei können sie noch etwas von den kreativen Zugängen zur Bibel lernen: Entdeckungen geschehen zumeist nicht dadurch, weil unter großer Anstrengung in großem Ausmaß verändert und gestaltet wird, sondern ereignen sich häufig „zwischen den Zeilen“, en passant, unvermutet und unverhofft.
In der gegenwärtigen Lage der Pastoral geht es deshalb auch in erster Linie um das vertrauensvolle Loslassen von belastenden, unfrei machenden Zwängen und um das Ausschau-Halten, wo sakrale Räume, Zeitangebote, Handlungsweisen und anderes kreativ in die Gegenwart hinein verschenkt werden können. Die Kirche kann den pastoralen Handlungsorten die dafür notwendigen finanziellen und strukturellen Ressourcen zur Verfügung stellen. Die Tradition gibt sie dabei nicht auf, setzt sie aber aus und riskiert in ihrem Auf- und Zerbrechen, dass sie sich neu formatiert.