Ein Gespräch mit Misereor-Hauptgeschäftsführer Pirmin Spiegel„Die Kirche bekommt ein anderes Gesicht“

Mit seiner Lebenserfahrung und seiner Lebenspraxis steht Papst Franziskus für die „Option für die Armen“. Was bedeutet seine Forderung nach einer armen Kirche für die Armen für die Kirche in Deutschland mit ihrem hohen Grad an Institutionalisierung, Professionalisierung und staatskirchenrechtlichen Absicherung? Darüber sprachen wir mit dem Hauptgeschäftsführer des Bischöflichen Hilfswerkes Misereor, Pirmin Spiegel. Die Fragen stellte Alexander Foitzik.

HK: Pfarrer Spiegel, unmittelbar nach seiner Wahl erklärte Papst Franziskus, er wünsche sich eine „arme Kirche für die Armen“. Mit vielen weiteren Äußerungen, vor allem aber mit zahlreichen Gesten und Zeichen hat er seitdem seine Vorstellung von Auftrag und Wesen der Kirche bekräftigt. Weltweit begeistert Franziskus damit nicht nur säkulare Medienvertreter. Woher rührt diese Begeisterung?

Spiegel: Diese Begeisterung hat etwas zu tun mit der „Option für die Armen“. Diese Option, wie sie in den Evangelien begründet ist, hat es in der Geschichte der Kirche zwar immer schon gegeben; zuletzt wurde sie besonders stark durch die lateinamerikanische Kirche geprägt. Das Neue aber ist, und das erklärt auch die Begeisterung in den säkularen Medien, dass nun dieser Papst mit seiner Lebenserfahrung, durch seine Namenswahl, seine Gesten und eben auch durch seine Lebenspraxis für diese Option steht. Sein Lebensstil und seine Ansprachen bewirken Schritt für Schritt prozesshaft Veränderungen in der Kirche. Der Präsident des Lateinamerikanischen Bischofsrates, Erzbischof Aguiar Retes, hat jüngst sehr treffend gesagt, der Papst schreibe permanent an einer Enzyklika der Gesten.

HK: Ist es nicht dennoch überraschend, dass Franziskus mit dieser gleichermaßen schlichten wie anspruchsvollen Botschaft eine solche Resonanz findet, und was sagt das umgekehrt über das bisherige Image der Kirche aus?

Spiegel: Die Gesten des Papstes werden verstanden, weil sie mit dem konkreten Menschen zu tun haben, weil er selbst nahe am Menschen ist. Füreinander Zeit haben, Andere in den Arm nehmen, sich für die und den Anderen interessieren – dies ist doch in einem Kontext, wie wir ihn auch in Deutschland erfahren, alles andere als selbstverständlich. Ich habe jüngst selbst Franziskus am Petersplatz in Rom erlebt. Es ist schon erstaunlich, wie er es schafft, dass trotz tausender Menschen um ihn herum wirkliche Begegnungen mit Einzelnen geschehen. Oder nehmen Sie den Besuch auf der Flüchtlingsinsel Lampedusa, das Treffen mit Arbeitslosen auf Sardinien, seine Auftritte in Assisi. Immer hat er konkrete Namen genannt, Menschen direkt angesprochen. Flüchtlinge oder Arbeitslose bleiben so nicht länger anonyme Masse, sondern bekommen Gesichter und haben Geschichten. Das berührt. Dazu kommt vermutlich noch etwas anderes. Weltweit suchen Menschen nach Frauen und Männern, die Vorbild sein können und solchen, die eine Sehnsucht oder eine Vision zum Ausdruck bringen. In seinen Gesten lässt der Papst eine Vision erkennen, die für eine andere Art menschlicher Beziehung, für ein besseres Zusammenleben steht: respektvoll in der Begegnung auch gegenüber Andersdenkenden, parteiisch für die Schwachen und Ausgegrenzten, unabhängig von Statussymbolen und Konsum, bewusst im Umgang mit der Schöpfung.

 „Die Rede von der armen Kirche für die Armen ist ja nicht nur eine Floskel“

HK: Wie sieht denn aber nun eine „arme Kirche für die Armen“ konkret aus?

Spiegel: Es gibt drei Arten, sich für die Armen zu engagieren: Einmal kann ich ihnen durch das Geld, das sie von mir erhalten, helfen. Dazu sammeln Werke wie Misereor beispielsweise Spenden. Diese Solidarität ist wichtig und nicht schlechtzureden, im Gegenteil, sie ist wertzuschätzen. Für diese Hilfe muss ich nicht selbst arm sein. Die zweite Art besteht darin, in Solidarität mit den Armen sich mit ihnen immer wieder für eine Veränderung der ungerechten Verhältnisse zu engagieren. Hier werden die Engagierten nicht notwendigerweise arm, aber sie teilen zeitweise das Leben mit den Armen, gehen Seite an Seite mit ihnen. Die dritte Art besteht darin, selbst ein armes Leben zu leben und auf die Mittel der Armen zurückzugreifen. Es geht um menschliche Nähe, um eine Umarmung, um das Teilen, um eine Einfachheit im Lebensstil, eine andere Logik. Papst Franziskus unterstreicht diese Arten der Solidarität. Gleichzeitig findet er klare und unmissverständliche Worte wie auf Lampedusa und Sardinien. Er folgt damit dem Beispiel Jesu. Wäre dieser lediglich ein reicher Wohltäter gewesen, der den Armen zwar geholfen, nicht aber selbst arm gelebt hätte, dann wäre er eben als ein solcher Wohltäter in die Geschichte eingegangen. Er selbst hat aber den gesellschaftlichen Standort der Armen angenommen und von hier aus das Reich Gottes verkündigt. Jesus hat einen Lebensentwurf gelebt, in dem die Zärtlichkeit Gottes sichtbar wurde. Dieser Lebensstil ist zugleich für alle lebbar.

HK: Unterscheidet sich die arme Kirche für die Armen von einer Kirche, die nur „Kirche für die Armen“ ist?

Spiegel: Die Rede von der „armen Kirche für die Armen“ ist ja nicht nur eine Floskel, sondern in ihr drückt sich die Treue zum Projekt Gottes aus. Sie beschreibt auch weniger ein Programm, sondern berührt vielmehr die Identität, den Wesenskern der Kirche. Die vielfältig Armen, besser gesagt „Armgemachten“, sind an vielen Orten auf der Erde als Getaufte schon längst Kirche. Diese Sichtweise relativiert unsere überwiegend mittelschichtgeprägte Sicht von Kirche. Kirche ist schon Kirche der Armen. Die Generalversammlung des Lateinamerikanischen Bischofsrates in Aparecida hat dies so beschrieben: Die Kirche ist das Haus der Armen, nicht Vordach oder Veranda. Eine Kirche ohne Arme ist nicht die Kirche Jesu Christi. Die Armen müssten in Theologie und Kirche allerdings erheblich mehr gehört werden. Eine Kirche aber, in deren Mitte die Armen stehen, hat andere Prioritäten. Sie lebt die Vision einer größeren Gerechtigkeit, die Vision eines Lebens in Fülle für alle. Es geht in ihr um Beziehung, den barmherzigen Umgang miteinander, um das Teilen der Lebensgüter, um die Zeit, die wir füreinander haben. In seinem Interview mit den Jesuitenzeitschriften hat Papst Franziskus dies deutlich hervorgehoben: Die Verkündigung der Liebe Gottes, auch durch das entschlossene Handeln, steht vor einer Verkündigung der Moral. Darüber hinaus geht es um den Dienst der Kirche an den Armen, dass sie in Würde leben, heute und morgen, hier und weltweit. Kirche kann eine transformierende Kraft sein zur Lösung von großen Menschheitsproblemen. Es ist unabdingbar, Spiritualität auch in politischen, wirtschaftlichen und kirchlichen Strukturen zu leben.

HK: Stellt diese Rede von der armen Kirche für die Armen nicht auch eine ziemliche Zumutung dar, gerade für eine Ortskirche wie die deutsche?

Spiegel: Es gibt verschiedene Arten und Stile, Kirche zu leben. Jede Ortskirche befindet sich in einem bestimmten Kontext. So gibt es auch in Deutschland bestimmte Arten und Weisen, Kirche zu denken und zu leben. Die neue Perspektive, die Franziskus praktiziert und verkündet, stellt Organisation und pastorale Schwerpunkte der Kirche in Deutschland schon in Frage, den Grad an Institutionalisierung etwa oder auch eine gewisse Entfremdung von den alltäglichen Realitäten der Menschen. Aber ich würde nicht von Zumutung sprechen, eher von einer Art „Wachrütteln“. Durch Franziskus und seine Praxis entdecken wir viele Elemente wieder, die uns an Jesus selbst erinnern. Diese Rückbesinnung aber muss der Kirche überall und immer wieder zugemutet werden, weil das Leben Jesu Ausgangspunkt und Zentrum unseres Glaubens ist.

„Compassion und Solidarität gehören zum Selbstverständnis christlicher Existenz“

HK: In jedem Fall scheint dieses Pontifikat auch in der Kirche in Deutschland einiges in Bewegung zu bringen, zumindest vordergründig. Wenn jetzt die deutschen Bischöfe nach ihrem Lebensstil und konkret etwa nach ihrem Fuhrpark oder ihren Residenzen befragt werden, ist das albern oder nur konsequent?

Spiegel: Auch in einer armen Kirche kann es prioritär um Klerikalismus, um Karrieren, um Machterhalt und Geld gehen. Nur wegen der Tatsache, dass eine Ortskirche arm ist, entspricht sie noch nicht dem Evangelium. Und eine reiche Kirche ist nicht automatisch weiter weg von Jesus, nur weil sie eine reiche Kirche ist. Aber für sie ist es vermutlich schwieriger, Jesus nachzufolgen, weil sie mit ihrem Geld auf viele Sicherheiten bauen kann, die von unserem Glauben her keine wirklichen Sicherheiten sind. Aber solche Kausalitäten – eine arme Kirche entspricht dem Evangelium, eine reiche Kirche widerspricht ihm – lassen sich nicht sinnvoll behaupten, das ist schon etwas komplexer. Es kommt hier auf die Optionen an, von denen her der Weg gestaltet wird. Denken Sie an den Katakombenpakt, in dem sich zahlreiche, vor allem lateinamerikanische Bischöfe noch während des Zweiten Vatikanischen Konzils verpflichtet haben, so zu leben, wie Menschen um sie herum üblicherweise leben, etwa was die Wohnung, die Nutzung von Verkehrsmitteln oder das Essen angeht. Viele Deutsche können sich solche Autos, wie sie den Bischöfen hierzulande zur Verfügung stehen, nicht leisten.

HK: Also die edlen Limousinen verkaufen und auf günstige Mittelklasse umsteigen?

Spiegel: Viele Leitungspersonen, dazu gehören­­ die Bischöfe, weisen zu Recht darauf hin, dass sie auf ihren Reisen arbeiten müssen. Die Frage ist aber, wie sie reisen. Wir müssen die Dinge grundsätzlicher in den Blick nehmen. Wir leben in einer Welt, in der es stark um Bilder und Zeichen geht. Der Fuhrpark ist nur ein Beispiel dafür, wie wir als Christen und Christinnen sozusagen unterwegs sind. Ich war als Pfarrer in Brasilien, ebenso in Deutschland meist so unterwegs, dass ich die Leute und sie mich ansprechen konnten. Man hat miteinander gesprochen, zugehört und sich herzlich verabschiedet. Wenn ich mit dem Auto gefahren bin, war das ganz anders. Es geht also eher um die Nutzung des Fuhrparks. Bei Misereor versuchen wir das Auto nur als letzte Option zu nutzen. Darüber nachzudenken, stellt in jedem Fall eine konstruktive Unterbrechung des Bisherigen dar. Wir lernen zurzeit neu, wie die Kirche, wie wir als Christen und Christinnen in der säkularen Öffentlichkeit wahrgenommen werden. Die Öffentlichkeit lehrt uns, dass wir es zu wenig schaffen, arme Kirche für die Armen zu sein. Die Kritik wird uns helfen, authentischer zu werden und den Wandel voranzutreiben. Deswegen sollten das Auto oder das Haus des Bischofs nicht zu zentralen Symbolen der Kirche werden.

HK: Kommen mit dieser neuen Aufmerksamkeit für die Option für die Armen jetzt auch hierzulande wieder diejenigen mehr in den Blick, die sich dieser Option immer schon verpflichtet fühlen, Ordensleute etwa oder auch die nicht wenigen Ehrenamtlichen, die sich beispielsweise für Obdachlose oder Flüchtlinge einsetzen? Bekommt auch ein Hilfswerk wie Misereor plötzlich Aufwind?

Spiegel: Diejenigen, die sich mit „Compassion“ und in christlicher Nächstenliebe für die Würde von Obdachlosen und Flüchtlingen einsetzen oder einen Dienst an sozialen Brennpunkten übernommen haben, tun dies ja nicht um des Papstes oder ihres Bischofs wegen, sondern um ihrer Überzeugung willen in der Nachfolge Jesu. Aber natürlich erfahren sie eine wichtige Bestätigung in ihrem Tun, wenn der Papst ähnliche Zeichen setzt, wenn das, was bisher an der Peripherie lag, auf einmal ins Zentrum rückt und als wesentliche Aufgabe der Evangelisierung der Kirche wahrgenommen wird. Ähnlich erfahren wir das bei Misereor. Seit unserer Gründung im Jahr 1958 haben wir den Auftrag, die Ursachen von Armut und Hunger weltweit zu bekämpfen. Bei seinem Besuch auf Sardinien beispielsweise beklagte jetzt der Papst, dass Menschen in Arbeitslosigkeit und Hunger getrieben, ihrer Würde beraubt werden um des Götzen Geld willen. Diese Analyse ist wahrlich nicht neu. Aber neu ist, dass ein Papst dieses so sagt, gedeckt durch eine authentische Lebenspraxis. Kirchliche Werke wie Misereor und viele ihrer Partner, mit denen sie zusammenarbeiten, empfinden dies als Ermutigung und Stärkung.

HK: Was bedeutet die Forderung nach einer armen Kirche für die Armen für die Kirche in Deutschland mit ihrem hohen Grad an Institutionalisierung, Professionalisierung oder auch einer komfortablen staatskirchenrechtlichen Absicherung ihres Tuns auf vielen Ebenen?

Spiegel: Es gilt auf allen Ebenen des kirchlichen Lebens zu fragen, wie der Kern des Evangeliums verwirklicht wird, nämlich dem Leben der Menschen zu dienen, besonders der Armen. Pfarreien, Verbände, Werke, Orden und Bewegungen sind immer wieder zur Frage eingeladen: Wie dienen unser Gebet und unsere Arbeit den Armen? Werke wie Misereor haben die Aufgabe, in Gesellschaft und Kirche bei der Unterscheidung der Geister zu helfen. Nicht jede und jeder ist irgendwie arm. Nicht jede und jeder ist bei den Armen irgendwie mitgemeint. Nein, es gibt Milliarden Menschen, die kämpfen tagtäglich um ihr Überleben. Die sind es, die gemeint sind. Papst Franziskus zeigt, dass Compassion und Solidarität zum Selbstverständnis christlicher Existenz gehören. Die Sorge um Flüchtlinge und alleinerziehende Mütter in Deutschland, um Hungernde in Uganda und verfolgte Menschenrechtler in Kolumbien ist Aufgabe aller – und sollte in Zusammenarbeit mit anderen solidarischen Organisationen geschehen. Das heißt, der Papst erklärt keine neue Doktrin, erhebt keine neuen Dogmen, sondern durch seinen Stil schafft er Inhalte.

HK: Ist für die deutsche Kirche ein Bekehrungsprozess denkbar oder womöglich sogar notwendig, wie ihn die Kirche Lateinamerikas unter dem Stichwort „Option für die Armen“ nach dem Konzil durchlaufen hat?

Spiegel: Ja, es braucht einen solchen Prozess der Selbstbekehrung. Dabei geht es aber nicht zuerst darum, alte Strukturen durch neue zu ersetzen, einen genauen Plan zu entwickeln, wie die deutsche Kirche zu einer armen Kirche wird. Es ist ein Prozess. In seinem Interview mit den Jesuitenzeitschriften mahnt Franziskus, nicht auf Machtstrukturen zu bauen, sondern sich mit Geduld auf Prozesse einzulassen; Prozesse, die auch Umwege verlangen können. Diese Prozess-Geduld sollten wir jetzt auch in Deutschland haben, denn wir können nicht einfach eine Struktur durch eine andere ersetzen.

HK: Wie sieht dieser Selbstbekehrungsprozess für den einzelnen Gläubigen, für Gemeinden, kirchliche Gruppen aus? Von einer armen Kirche lässt sich abstrakt ja relativ leicht reden …

Spiegel: Das ist eine ganz spannende Frage, und wir versuchen sie bei Misereor immer wieder durchzubuchstabieren: Wie lässt sich die arme Kirche für beziehungsweise mit den Armen konkret und im Alltag leben? Misereor ist als Fastenaktion gegründet worden, und Fasten hat immer mit Umkehr zu tun. Aus eigener Erfahrung kann ich antworten: Wenn ich versuche, die Perspektive der Armen einzunehmen, vom Ort der Armen her zu denken, und mir vergegenwärtige, was es etwa bedeutet, nicht drei Mal am Tag sicher etwas zu essen zu haben oder keinen Zugang zu einem Krankenhaus zu erhalten, dann verändert und prägt das mein Leben. Die wirkliche Begegnung mit Anderen kann nicht ohne Konsequenz für den eigenen Lebensstil bleiben.

HK: Wie könnte beispielsweise ein so folgenreicher Perspektivwechsel in unseren Pfarrgemeinden beginnen?

Spiegel: Warum sollten sich beispielsweise Pfarrgemeinderäte nicht mit den Herausforderungen der demographischen Entwicklung in ihrer Gemeinde auseinandersetzen? Wissen unsere Gemeinden, wo bei ihnen Flüchtlinge leben, wer arbeitslos ist und wer von „Hartz IV“ lebt? Wo man in einen solchen Prozess einsteigt, wird dies das Bild von Gemeinde und von Kirche tiefgreifend verändern. In der Diözese Speyer beispielsweise haben der Katholikenrat, die Diözese und Misereor gemeinsam eine Aktion „Gutes Leben. Für alle!“ gestartet. Dahinter steht der Gedanke, sich gegenseitig von gelingendem Leben zu erzählen. Das heißt zum Beispiel, konkret nach dem Geld zu fragen, das der Gemeinde zur Verfügung steht, und zu prüfen, wo und wie man es einsetzt. Versuchen wir mit unserem Geld soziale Wunden in unserer Umgebung und weltweit zu heilen oder setzen wir es für Statussymbole ein? Es wird sehr konkret, wenn wir die Perspektive wechseln. Die Kirche bekommt ein anderes Gesicht.

 „Die Armen sind Subjekte mit eigener Würde und eigenen Potenzialen“

HK: Wie lässt sich für einen solchen Bekehrungsprozess werben? Vielen von uns wird der Papst mit der Rede von der armen Kirche für die Armen vielleicht ein schlechtes Gewissen machen. Aber mit moralischen Appellen beispielsweise konnte man ja noch nie Menschen zum Umdenken, zur Umkehr bewegen …

Spiegel: Ja, wegen eines schlechten Gewissens lässt sich auch niemand für diesen Perspektivwechsel gewinnen. Der Perspektivwechsel erfolgt als Konsequenz einer Option, aus Überzeugung, aus der Vision des bereits angebrochenen Reiches Gottes heraus: Den Armen wird eine frohe Botschaft verkündet, wie es im Lukasevangelium heißt. Hungernde essen, Fremde werden aufgenommen, Kranke geheilt, wie Matthäus sagt. Wo ich dies als Lebenssinn entdecke, werde ich Energie einsetzen, werde ich auch von Freude angetrieben. Moralischer Rigorismus ist hingegen etwas ganz anderes. Ich handle dann nicht aus einer persönlichen „Mission“ heraus, eher als Getriebener, bin wie ein Auto mit vier platten Reifen, das mühsam angeschoben werden muss. Ein solcher Perspektivwechsel geschieht in der Regel nicht von heute auf morgen.

HK: Wie können die Werke mit ihren Erfahrungen und denen ihrer Partner diesen Prozess begleiten? Oder umgekehrt, wo können sie auch vor Missverständnissen warnen? Eine besondere Rolle sollten sie ja innerhalb einer armen Kirche für die Armen schon spielen können.

Spiegel: Bei meiner Amtseinführung hat der damalige Nuntius, Erzbischof Périsset, in Anspielung auf meinen Namen gesagt: Ihre Aufgabe ist es, all das widerzuspiegeln, was in vielen Ländern des Südens passiert an Ausgrenzung und Elend, die Situationen der Entwürdigung, aber genauso die Entwürfe von Hoffnung. Spiegeln Sie diese Erfahrungen in der Kirche in Deutschland wider und zeigen Sie damit, dass wir alle auf einem Erdplaneten zusammenleben. Eine weitere wichtige Aufgabe ist das, was Kardinal Frings bei der Gründung von Misereor als „den Mächtigen ins Gewissen zu reden“ bezeichnet hat. Wenn heute 842 Millionen Menschen auf der Welt hungern, obwohl genug Nahrung für alle produziert wird, bestehen Asymmetrien, die wir mit unserer gegenwärtigen politischen Praxis nicht überwinden. Hier haben Hilfswerke die prophetische Aufgabe, daran zu erinnern, dass die Armen nicht Objekte sind, denen geholfen werden muss. Sie sind Subjekte mit eigener Würde und eigenen Potenzialen. Um unserer selbst willen brauchen wir den Dialog mit ihnen. Von daher sind kirchliche Werke in erster Linie keine Institutionen. Sie laden zu einem Lebensstil ein, zu gelebter Compassion und Solidarität.

HK: Muss sich ein so großes Werk wie Misereor trotz dieser Aufgabenbeschreibung nicht auch selbst immer wieder fragen, ob es noch der Vision der armen Kirche für die Armen folgt?

Spiegel: Misereor will nicht zuerst Institution sein, sondern den Schrei der Armen hören und versuchen, mit den Partnern eine Antwort darauf zu geben. Misereor benötigt ein Minimum an Struktur, um seinen Dienst zu tun. Es wäre ein Widerspruch, um der weltweiten Solidarität willen Strukturen der Solidarität abzuschaffen. Misereor steht vom Namen her für eine Grundorientierung. Diese bedeutet Unterwegssein zu einem gelingenden Leben für alle. Die Struktur gibt es um der Orientierung willen. Immer wieder fragen wir uns, ob diese Struktur nicht zu sehr auf uns selbst ausgerichtet ist. Auch hier hilft der Blick ins Evangelium, konkret auf die Versuchungen Jesu. Wenn es Misereor nur noch darum geht, „groß sein zu wollen“, haben wir die Orientierung verloren. Im Dialog mit unseren rund 2500 Partnern in über 90 Ländern werden wir immer wieder überprüft und befragt.

HK: Spielt es dabei eine Rolle, dass Misereor beispielsweise den Löwenanteil seiner Mittel vom Staat erhält?

Spiegel: Diese Mittel machen uns nicht zum verlängerten Arm des Bundesministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung. Wenn wir unsere Unabhängigkeit durch diese Mittel verlieren würden, müssten wir das ändern. Die Mittel erhalten wir aber nach der Logik des Subsidiaritätsprinzips, gerade unserer Unabhängigkeit wegen und einer großen Wertschätzung unserer Arbeit. Und die Steuergelder erhalten wir ja letztlich nicht als Geschenk des Ministeriums, sondern von den Bürgerinnen und Bürgern in Deutschland.

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