Das „Milieuhandbuch 2013“ zeigt der Kirche, was in ihr steckt„Noch drin, weil nicht ausgetreten“

Mit dem neuen „Milieuhandbuch 2013“ liegt jetzt das Update der ersten Sinus-Milieu-Studie zu den Lebenswelten der Katholiken aus dem Jahr 2006 vor. Die Diagnosen der Studie stellen Theologie, Kirche und Pastoral vor besondere Herausforderungen. So zeigt sich etwa, dass sich in allen zehn Milieus signifikante Anteile katholischer Christen finden. Kirche als Gemeinschaft der Getauften ist so vielfältig, wie es die Menschen in Deutschland sind. Und für viele Katholiken ist ihre Kirchenmitgliedschaft eine „Trotz-Beziehung“.

Lebensweltstudien gehören inzwischen zum Standard-Repertoire derjenigen, die für die Gestaltung der kirchlichen Präsenz Verantwortung tragen – in Kindergärten und Verbänden genauso wie in Pfarreien und Hilfswerken oder in der Erwachsenenbildung und der Exerzitienarbeit. Seit im Jahr 2006 die erste „Sinus-Kirchenstudie“ wie eine Welle durch die deutschsprachigen Länder ging, hat sich die „Milieusensibilität“ als ein bedeutsamer Faktor pastoraler Konzeption etabliert.

Eine Fülle an weiteren Analysen ist seither erschienen und hat die Perspektive vertieft. Hervorzuheben sind die Studien zu Lebenswelten von Migranten (2008), zu katholischen Jugendlichen und jungen Erwachsenen (2007) und zu Jugendlichen (2012). Die Rede von Milieus wurde in kurzer Zeit derart populär, dass Kritiker bereits argwöhnten, die Kirche leide an „Sinusitis“ – also der unreflektierten Fixierung auf ein neues Welterklärungsmodell. In der Tat lässt sich nach sieben Jahren Erfahrung mit „milieusensibler Pastoral“ kritisch auf den Umgang mit sozialwissenschaftlichen Daten blicken (vgl. HK, Januar 2013, 29 ff.). Allerdings stehen die eigentlichen Herausforderungen auf einem anderen Blatt. Das zeigt auch der Blick in die neueste Publikation: das „Milieuhandbuch 2013. Religiöse und kirchliche Orientierungen in den Sinus-Milieus“.

Mit dem neuen Milieuhandbuch liegt das Update der ersten Sinus-Milieu-Studie vor. Im Auftrag der Medien-Dienstleistung-Gesellschaft (MGD) haben Marc Calmbach, Berthold B. Flaig und Ingrid Eilers von der Sinus-Markt- und Sozialforschung die Lebenswelten der Katholiken in Deutschland auf der Basis ihres mittlerweile aktualisierten Gesellschaftsmodells unter die Lupe genommen.

Methodisch wurden wie schon bei der Vorgängerstudie die Basisdaten zu den einzelnen Lebenswelten – wie Informationen zum Lebensstil, zum Werteprofil oder zur Mediennutzung – aus der Grundlagenforschung des Heidelberger Instituts übernommen. Ergänzt wurden sie durch Erkenntnisse zur je milieuspezifischen Lebensphilosophie, zu Glücksmomenten, Spiritualität, Glaube und Religion, zur Wahrnehmung der katholischen Kirche, zu Erwartungen an die Kirche, zur Teilnahme am kirchlichen Leben, zur Wahrnehmung der kirchlichen Kommunikation sowie zum ehrenamtlichen Engagement.

Die Grundlage der Ergebnisse bilden insgesamt 100 Einzelexplorationen in den zehn Lebenswelten. Sie umfassen leitfadengestützte Interviews, die Foto-Dokumentation der Wohnwelten und „Hausaltäre“ sowie eine Hausaufgabe: Alle Befragten haben sich im Umfeld des Gesprächs kreativ mit den Aussagen „Das gibt meinem Leben Sinn“ oder „So stelle ich mir die ideale Kirche vor“ beschäftigt. Befragt wurden katholische Christen aus allen zehn Milieus in unterschiedlichen Teilen Deutschlands. Dabei wurde auf die Parität von Männern und Frauen ebenso geachtet wie auf die Abdeckung städtischer und ländlicher Regionen und die Repräsentanz aktiver wie passiver Kirchenmitglieder. So ermöglicht die Untersuchung trotz der kleinen Stichprobe in der Theorie ein qualitativ repräsentatives Ergebnis. Kritisch anzumerken bleibt nur: Es wäre schön gewesen, wenn die Zitate mit Angaben zu Alter und Geschlecht der Befragten versehen worden wären. Und wenn es ausführlichere Sehhilfen zur Deutung der Bilder gegeben hätte. Schließlich ist das Wahrnehmen die eigentliche Kunst.

Das Reich Gottes ist nicht indifferent gegenüber der Kartoffelgrafik

Eine bedeutende Entwicklung wird in der Untersuchung nur am Rande explizit erwähnt. Sie verbirgt sich in der Gestalt der „Kartoffelgrafik“ selbst. Mit jedem Update der Milieulandschaft wird nämlich sichtbar, wie sich die Gesellschaft als ganze bewegt. Wenn man so will, ist das Daumenkino der soziographischen Deutschlandkarten mit dem neuen Modell wieder um eine Szene reicher geworden. Diese Szene zeigt die Spuren, die die Jahre 2001 bis 2009 auf der gesellschaftlichen Makroebene hinterlassen haben. Schlagwortartig stehen für diesen Zeitraum Begriffe wie der 11. September und das Smartphone, der Afghanistan-Krieg und die Agenda 2010, ­Facebook und die Finanzkrise. Im Hintergrund stehen Dynamiken wie „die Flexibilisierung von Arbeit und Privatleben, die Erosion klassischer Familienstrukturen, die Digitalisierung des Alltags und die wachsende Wohlstandspolarisierung“ (49) oder die Angleichung von Sonn- und Werktagen.

In allen Milieus finden sich katholische Christen

Die Veränderung in der neuen Milieulandschaft kommt – neben dem Verschwinden der so genannten „DDR-Nostalgischen“ – paradigmatisch in einer Namensänderung zum Ausdruck: Die „Modernen Performer“ von einst sind nicht mehr modern. Ihre Logik der Effizienz und Leistungsorientierung ist zu einer Logik des Mainstreams avanciert. Sie zeigt sich auch in den Einstellungen der „Adaptiv-Pragmatischen“, die sich die Mitte mit der „Bürgerlichen Mitte“ teilen. Die Kartoffelgrafik dokumentiert hier eine längerfristige Verschiebung der Mentalitätsmuster – vom Solidaritätsprinzip zum Prinzip der Eigenverantwortung in allen Lebensbereichen. Und sie zeigt, wie in der Mitte die Abstiegsängste zunehmen und sich die Schere zwischen Arm und Reich weiter öffnet. Dabei geht es nicht primär um die Einkommensverteilung, sondern um die Spaltung der Gesellschaft einerseits in diejenigen, die dazugehören und entscheiden und andererseits diejenigen, die dazugehören wollen und über die entschieden wird.

So eng die Lebenswelten grafisch beieinanderliegen, so wirkmächtig sind die Demarkationslinien zwischen „oben“, „unten“ und der Mitte. Deutschland ist keine Aufstiegsgesellschaft mehr. Überhaupt nimmt die Heterogenität der Lebenswelten zu; Carsten Wippermann identifiziert in seinen ähnlich angelegten Delta-Milieus eigene Submilieus, die das Panorama der Lebensstile nochmals bunter macht.

Der Blick auf die Kartoffelgrafik als ganze hilft zu vermeiden, das Land vor lauter Milieus nicht zu sehen. Was er offenbart, geht die Kirche unmittelbar an. Schließlich ist, um es in Anlehnung an Johann Baptist Metz zu formulieren, das Reich Gottes nicht indifferent gegenüber der Kartoffelgrafik. Dabei geht es nicht um Sozialromantik oder das gebetsmühlenartige Beklagen eines vermeintlich zunehmenden Egoismus. (Auch davor kann die Studie übrigens bewahren.)

Sondern es geht um die Frage, welche längerfristigen strategischen Optionen die katholische Kirche in Deutschland – in ökumenischer Verbundenheit – für die gesamtgesellschaftliche Entwicklung trifft: Wie sollte denn vor dem Hintergrund der kirchlichen Soziallehre die Kartoffelgrafik in zehn und 20 Jahren aussehen? Und wo sind Interventionen nötig – in politischen Prozessen genauso wie in der Gestaltung der eigenen Dienstverhältnisse? Dass gerade unter den „Prekären“ Beratungsangebote der Kirche weniger bekannt sind, macht nachdenklich (vgl. 398). Ebenso wichtig wie die Beschäftigung mit dem Wandel im Werterucksack der Deutschen auf der x-Achse des Milieumodells ist auch die Auseinandersetzung mit den Verschiebungen der sozialen Lage auf der y-Achse. Das renommierte Sozialwort der Kirchen ist bereits 16 Jahre alt. Es könnte ein Update gebrauchen.

In der aktuellen Studie wird ein Phänomen sichtbar, das bereits 2006 benannt wurde, damals aber angesichts der in der Rezeption geprägten Formulierung, die Kirche sei nur in drei Milieus präsent, kaum wahrgenommen wurde: In allen zehn Milieus finden sich signifikante Anteile katholischer Christen – von 29 Prozent im Milieu der „Prekären“ bis zu 41 Prozent unter den „Konservativ Etablierten“. Es gibt kein Milieu, in dem es eine zu vernachlässigende Zahl an Katholiken gäbe.

Das heißt, zur Kirche in Deutschland gehören, wenn auch in unterschiedlichen Anteilen, Menschen aus allen Milieus. So sind beispielsweise 17 Prozent der Katholiken den „Traditionellen“ zuzurechnen, 14 Prozent der „Bürgerlichen Mitte“, 7 Prozent den „Liberal-Intellektuellen“ oder 9 Prozent den „Prekären“. Mit anderen Worten: Die Kirche – als Gemeinschaft der Getauften verstanden – ist so vielfältig, wie es die Menschen in Deutschland sind.

Migranten erweitern das in der Studie abgebildete Spektrum sogar noch. Von daher ist zunächst einmal ein sensibler Umgang mit der Sprache gefragt: Von kirchennahen oder kirchenfernen Milieus lässt sich nur schwer sprechen. Vielmehr stellt sich die Frage, ob die Pluralität des deutschen Katholizismus, wie er sich in Feuilletons und Familienbildungsstätten, in Beratungsstellen und Beichtstühlen, bei Katholikentagen und Krankenbesuchen zeigt, von Theologen und kirchlichen Verantwortlichen als Gefährdung eines zur Einheitlichkeitsideologie reduzierten Einheitsideals beklagt wird – oder ob diese Vielfalt als Grundlage und Ausdruck der Präsenz des Evangeliums in der Gegenwart anerkannt und gefördert wird.

Auf diese Spur führt das vorliegende Update. Es zeigt nicht allein plastisch, dass es anders aussieht, als 74-jähriger Witwer katholisch zu sein, als 45-jährige Unternehmerin und Mutter oder als 23-jährige Praktikantin ohne Partner. Es hebt auch im abstrakten Werteprofil der einzelnen Milieus die unter den Katholiken besonders ausgeprägten Werte und Tugenden eigens hervor. Dabei zeigt sich, wenn man so will, wie breit das katholische Wertepanorama ist. Es reicht von Frömmigkeit über Behutsamkeit, Respekt, Gerechtigkeit, Gemeinsinn und Selbstverantwortung, bis hin zu Bescheidenheit und Verlässlichkeit in Beziehungen. Das wird nur bedauern, wer meint, Kirchlichkeit definiere sich in der unreflektierten Übernahme eines überzeitlich verbindlichen Prinzipienkanons. Für die anderen zeigt sich gerade darin die Alltagsrelevanz des Glaubens, dass er sich in unterschiedlichen Kulturen auch in je eigenen Wertorientierungen manifestiert. Selbst wenn, wie es Hans Joas ausführt, die religiöse Grundlage bestimmter Werte nicht mehr explizit präsent ist.

Wer noch etwas tiefer hinter die Kulissen blickt, wird in einschlägigen Zitaten auch die unterschiedlichsten Gottesbilder lesen können, die bei den Befragten zur Sprache kommen. Vom Herrgott der „Traditionellen“ über den Wegbegleiter der „Sozial-Ökologischen“, das höchste Wesen und den Grund des Seins der „Liberal-Intellektuellen“, die letzte, manchmal bitter enttäuschte Hoffnung der „Prekären“ und den rational umstrittenen Gott der „Performer“ bis zum Behüter der „Bürgerlichen Mitte“.

Freilich dürften innerhalb der Milieus die Spiritualitätsmuster nochmals deutlich komplexer sein. Dafür lohnt ein Seitenblick in das inspirierende Buch „Gott 9.0“ von Marion und Tiki Küstenmacher sowie Tilman Haberer (Gütersloh 2010). Doch wird beim Blick in die Milieus bereits dreierlei klar: zum einen, welcher Schatz an Gottesbildern und -beziehungen in der Kirche präsent ist – nicht zu unterschätzen ist dabei übrigens die mehrfach genannte Rolle der Mütter und Großmütter für die Glaubenstradition. Zum zweiten, wie groß die Sprachlosigkeit über die eigene Religiosität jenseits kirchlicher Formeln ist – sei es zur Bestätigung oder Abgrenzung der eigenen Erfahrung. Und drittens, wie wenig Kompetenz der Institution Kirche für die eigene Auseinandersetzung mit diesem Gott zugesprochen wird. Das trifft ins Mark.

Die spirituelle und theologische Tiefenstrukturen der Milieus

Diese Diagnose stellt Theologie und Kirche vor zwei Herausforderungen. Die erste ist, die Theologie der Milieus lesen zu lernen. Kurz gesagt hieße das, sich den Fragen zu stellen: Welche mir verborgene Facette Gottes nehmen Menschen in bestimmten Milieus wahr? Für welches Evangelium Gottes legen Menschen in bestimmten Milieus Zeugnis ab? Die Antworten auf diese Fragen sind eine Bereicherung, manchmal auch eine Infragestellung bisher dominierender Theologien. Sie sind auch das Fundament für eine veränderte Haltung derjenigen, die im Namen Gottes und seiner Kirche auftreten.

Wer ernsthaft glaubt, Gott hinter der Tür im dritten Stock des heruntergekommenen Wohnblocks, im zweiten Satz einer Klaviersonate Beethovens oder in einem flauschigen Sessel in der vierzehnten Reihe eines Kinosaals neu kennen zu lernen, der wird diese Orte anders betreten und den Leuten dort ­anders begegnen. Der Bochumer Pastoraltheologe Matthias ­Sellmann hat in seinem Buch „Zuhören – Austauschen – Vorschlagen“ tiefgehende theologische Reflexionen dazu vorgelegt. Er geht aus vom wagemutigen Artikel 44 der Pastoralkonstitution „Gaudium es spes“, in dem die „dem Fassungsvermögen aller als auch den Erfordernissen der Gebildeten (…) angepasste Verkündigung (praedicatio accomodata) des geoffenbarten Wortes (…) (zum) Gesetz aller Evangelisation“ erklärt wird.

Darauf baut Sellmann nicht nur die Akkommodation als pastoraltheologisches Programm auf, sondern entdeckt im Stil einer Exploration spirituelle und theologische Tiefenstrukturen der Milieus, die er in einem je eigenen Horizont deutet: so etwa die „Konservativen“ im Horizont von Vorsehung, die „Hedonisten“ im Horizont von Prophetie, die „Postmateriellen“ im Horizont von Befreiung und die „Benachteiligten“ im Horizont von teurem Segen.

Kirchendistanz aus religiösen Gründen

Die zweite Herausforderung besteht darin, auch in der Praxis der Frage nachzugehen, welche Räume und Formate angemessen sind, um heute „das Gerücht von Gott wachzuhalten“ (Paul-Michael Zulehner). Es geht dabei nicht um eine kräftezehrende „Fernstehendenpastoral“, die nach neuen Mitgliedern für einen schrumpfenden Verein sucht. Sondern darum, wie heute kirchliche Räume, Programme und Personen so wahrnehmbar werden, dass die Sinn-Finder unserer Tage sagen können: „Wir wollen mit Euch gehen, denn wir haben gehört, Gott ist mit Euch“ (Sach 8,23). Diejenigen nämlich, die – wie die „Sozial-Ökologischen“ oder die „Expeditiven“ – aktiv auf der Suche nach Sinn sind, geraten gerade deshalb in Distanz zur Institution: Es gibt eine Kirchendistanz aus religiösen Gründen.

Es gibt keinen Grund, die zunehmende gesellschaftliche Bedeutungslosigkeit der Kirche mit einem schwindenden Interesse an Spiritualität zu begründen. In der Tat haben nämlich diejenigen Recht, die von der Verdunstung des Glaubens sprechen. Der Glaube hat in der Spätmoderne seinen Aggregatzustand verändert. Er ist von einem festen, in kirchlichen Formeln und Formen fassbaren Zustand in einen fluiden oder gar gasförmigen übergegangen. Der verdunstete Glaube liegt buchstäblich in der Luft.

Für die Kirche geht es nun darum, Orte und Gelegenheiten zu bieten, an denen er sozusagen kondensieren kann. Also Orte, an denen einerseits diejenigen fündig werden, deren Spiritualität über institutionalisierte Formen hinausgeht – und andererseits diejenigen, denen diese Formen schon zu kompliziert sind. Dass quer durch die Milieus Lebensglück mit sozialer Geborgenheit in Partnerschaft, Familie oder Gruppe sowie in der Natur und in der Abgrenzung zum leistungsgetriebenen Tagesgeschäft gefunden wird, ist mehr als ein erster Anknüpfungspunkt für solche spirituellen Biotope (vgl. 13). Die Pluralität der Lebensstile von Katholiken, die Breite ihrer als christlich identifizierten Werte und die Weite der Gottesbilder könnten sogar Impulse zu jener Selbstevangelisierung der Kirche sein, die gemäß der einschlägigen Enzyklika Pauls VI. „Evangelii nuntiandi“ der Beginn aller Evangelisierung ist.

Die Kirche in Deutschland erlebt eine „blendende“ Stabilität

Mit ihrer These von der „Vicarious Religion“ („Stellvertreter-Religion“) beschreibt die britische Religionssoziologin Grace Davie eine spezifisch westeuropäische Form der Religiosität: „Kirchen und Kirchenführer praktizieren Rituale im Auftrag anderer, Kirchenführer und Kirchgänger glauben im Auftrag anderer, Kirchenführer und Kirchgänger verkörpern im Auftrag anderer moralische Werte, Kirchen können schließlich Räume bieten für die stellvertretende Debatte über die ungelösten Fragen der modernen Gesellschaften“ (Is Europe an Exceptional Case?, in: The Hedgehog Review, Spring & Summer, 23–34, 25). Die Kirchen würden, wie Strom- und Wasserversorger, als Einrichtungen der Daseinsvorsorge angesehen, zu denen man zwar nur selten in persönlichen Kontakt tritt, die aber zum Wohl der Gesellschaft erhalten werden. Diese Haltung sei eine Folge der historisch engen Verflechtung von Staat und Kirche auf dem Kontinent.

Eine Merkwürdigkeit, die in der aktuellen Sinus-Studie zum Ausdruck kommt, wird vor diesem Hintergrund plausibel: Quer durch die Milieus zeigt sich zwar die deutliche Exkulturation der Kirche aus der Lebenswelt ihrer Mitglieder. Dennoch steht für viele ein Kirchenaustritt nicht zur Diskussion. Ausnahmen bilden nur die „Expeditiven“, die diesen Schritt rational erwägen (vgl. 204) sowie die „Sozial-Ökologischen“, die zwar die höchste Austrittsneigung aufweisen, und dennoch Kirchenmitglied bleiben, um sich die eigenen Anstellungschancen nicht zu verbauen. Schließlich arbeiten viele von ihnen in therapeutischen, pädagogischen und pastoralen Berufen (vgl. 317).

Man könnte also sagen: Die Kirche in Deutschland erlebt eine blendende Stabilität. 24,5 Millionen Menschen gehören ihr an, das sind fast 30 Prozent der Bevölkerung. Und selbst in den Jahren massiver Skandale wie der Debatte um die Aufhebung der Exkommunikation für die Bischöfe der Pius-Bruderschaft und der Missbrauchskrisen ist nicht einmal ein Prozent der Mitglieder ausgetreten.

Eine solche Perspektive ist allerdings buchstäblich blendend. Sie lässt sich von einem oberflächlichen Blick auf die Kirchenmitgliedschaft, genauer: die Kirchensteuergemeinschaftszugehörigkeit, blenden. Unter dieser Oberfläche aber knirscht es. Wer genauer hinschaut, erfährt, dass die Kirchenmitgliedschaft für nicht wenige inzwischen eine „Trotz-Beziehung“ ist: Man ist Mitglied nicht wegen, sondern trotz der Erfahrungen, die man mit dieser Kirche gemacht hat: Mit den Worten eines Befragten: „Ich bin nur noch drin, weil ich nicht ausgetreten bin.“ Die Kirchensteuer ist „eine Art Eintrittsgeld ins Museum“ (319).

Insbesondere das Öffentlichwerden zahlreicher Fälle von sexueller Gewalt von Klerikern und Ordensleuten gegenüber Kindern und Jugendlichen und der Umgang damit haben das Vertrauen in die Institution tief erschüttert. Auf die Selbstverständlichkeit der „Vicarious Religion“ sollte man sich langfristig also nicht verlassen. Darauf weist auch Grace Davie hin. Schließlich sei zum einen das Verhältnis zwischen den wenigen Aktiven und den vielen Passiven bereits sensibel, zum anderen könnten in Zukunft gerade diejenigen, die sich freiwillig und aktiv engagieren, produktiver mit den Veränderungen in der religiösen Landschaft umgehen als jene, die Kirchlichkeit als eine historische Selbstverständlichkeit ansehen.

Um angesichts dieser Diagnose handlungsfähig zu bleiben, ist eine Differenzierung wichtig: Wer die spontanen Meinungsbilder zur katholischen Kirche in der Studie betrachtet, kann erkennen, dass sich hinter dem Begriff „Kirche“ bei den Befragten zwei ekklesiale Wirklichkeiten verbergen, die sich nur teilweise überschneiden.

Das ist zum einen jene „virtuelle Kirche“, die einem vor allem in den Medien gegenübertritt und deren Lustfeindlichkeit, Dogmatismus, Klerikalismus, Diskriminierung von Frauen und Strukturdebatten man äußerst kritisch gegenübersteht. Auch unter „Traditionellen“. Zum anderen ist es die „spürbare Kirche“, der man – je nach Milieu mehr oder weniger – vor Ort begegnet und die häufig mit positiven persönlichen Erfahrungen verknüpft ist: Kasualien, Weihnachtsgottesdienste, Jugendarbeit, Gespräche mit Seelsorgerinnen und Seelsorgern oder Religionslehrern und die überzeugende Arbeit der Caritas haben einfach gute Eindrücke hinterlassen. Auch im „Hedonistischen Milieu“. Die Ergebnisse der Studie auf die Formel zu reduzieren, die Gläubigen rückten von der Kirche ab, stimmt also nicht ganz. Sie distanzieren sich von der „virtuellen Kirche“, deren Haltungen und Handlungen weder als hilfreich erfahren noch verstanden werden. Die „spürbare Kirche“ genießt nach wie vor viel Vertrauen.

Die Herausforderung liegt auf der Hand. Die Kirche wird dort am Leben bleiben, wo sie buchstäblich am Leben der Menschen dran-bleibt. Die Entdeckung des Evangeliums in bisher unbekannten (Lebens-)Welten ist die pastorale Aufgabe der Gegenwart schlechthin. Es gibt Orte, an denen sie längst – und mit beeindruckenden Ergebnissen – gewagt wurde. Eine strategische Orientierung der Diözesanleitungen an diesem pastoralen Programm ist aber nicht erkennbar.

In zwei Bereichen wäre deren Unterstützung dringend notwendig: Das ist zum einen die Präsenz der Kirche in der Öffentlichkeit. Hier wäre zu hoffen, dass die Repräsentanten der Kirche den Gläubigen das Leben durch unprofessionelles Agenda Setting wenigstens nicht schwer machen. Zum zweiten ist es die Strukturentwicklung der Diözesen. Flächendeckende Pfarrstrukturen sind nämlich nicht gleichbedeutend mit lokaler Präsenz. Es wäre zu prüfen, inwiefern die Strukturen dazu dienen, die überkommene Art der Pfarrseelsorge noch länger aufrechtzuerhalten – oder ob sie eine neue Form kirchlicher Präsenz in der Pluralität ermöglichen. Die Frage ist nicht, ob die Kirche vor Ort bleiben soll, sondern als was sie dort bleiben soll. In dieser Frage kann man mit der Studie buchstäblich etwas anfangen.

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