Die Mutter, die zu ihrer Tochter sagt: „Denkst du auch daran, Vater zum Geburtstag zu gratulieren!“, hat eine perfekte Falle gestellt. Denn was soll das Kind nun tun? Gratuliert die Tochter, ist sie brav und angepasst. Gratuliert sie aber nicht, ist sie widerborstig und renitent. In beiden Fällen – das ist die Tragik – handelt die Tochter weder aus eigenem Antrieb noch auf der Grundlage einer eigenen Entscheidung.
Als Mustertochter führt sie den Willen der Mutter aus, folgt aber nicht ihrem eigenen Impuls. Als sich Widersetzende bleibt sie in einer Art von Gegenabhängigkeit gerade in ihrer Weigerung an die Aufforderung der Mutter gebunden, von der sie sich abzusetzen meint. Die Tochter steht vor einem nahezu unlösbaren Dilemma. Wie immer sie sich entscheidet – sie kann nicht mehr aus freien Stücken das menschlich Normale tun: gratulieren oder eben nicht.
Das Besondere dieses nahezu alltäglichen Falles liegt nun darin, dass hier nicht nur allein die Tochter in der Falle steckt. Auch die Mutter nährt – gerade durch ihre überreglementierende Bevormundung – ein Klima, in dem die Tochter sich nur falsch entscheiden kann. Beziehungen nach diesem Muster bringen eine schleichende Vergiftung mit sich. Diese hat ihre Ursache sowohl in der über-verantwortlichen Allzuständigkeit seitens der Mutter als auch in der Bereitschaft zur Unterwerfung oder Auflehnung seitens der Tochter – beides Charakteristika für eine klassische „Doublebind-Situation“.
Im Hinblick auf den Geburtstag des Vaters, der in dieser Szene als Subjekt gar nicht vorkommt, ist der Mutter wie der Tochter keine autonome Entscheidung möglich. Man kann davon sprechen, dass sich beide anstelle ihrer je eigenen Impulse von einem an den Bedürfnissen des Anderen orientierten falschen Selbst leiten lassen. In ihrer unbewussten Abhängigkeit voneinander bleiben sie in einer die Entwicklung hemmenden Zweiheit, der dyadischen Struktur, aufeinander bezogen. Ein konstruktives Miteinander kommt so nicht zu stande.
Ein notwendiger Entwicklungsschritt für eine derartige Beziehung bestünde darin, sich auf das Dritte oder den Dritten – dies wäre hier der abwesende Vater – hin zu öffnen, damit eine triadische Struktur entsteht. Wo dies nicht gelingt, führen der Ausschluss des „Dritten“, der Verzicht auf das „Miteinander“ und die daraus folgenden Mechanismen der Überreglementierung und der Unterwerfung zu einem Problem aller Beteiligten.
Diese Musterszene aus der Erfahrung des alltäglichen Familienlebens erscheint hilfreich für ein vertieftes Verstehen des Dilemmas, welches die kontroverse Auseinandersetzung über die deutsche Übersetzung des „pro multis“ der Kelchworte anzeigt. Anders als in der Familienszene geht es dabei um die Regelung kirchlichen Miteinanders, hier im Herzen der Liturgie. Mit den Pontifikaten Johannes Pauls II. und Benedikts XVI. sind vielfältige Schritte verbunden, die Liturgie der Kirche zu regeln, vor allem durch die Instructio „Liturgiam authenticam“, die in Kürze zu neuen deutschsprachigen liturgischen Büchern führen wird. Dabei hatte der Papst zuletzt selbst noch einmal in die Diskussion eingegriffen, indem er mit seinem Brief vom 12. April 2012 an die Mitglieder der Deutschen Bischofskonferenz die Übersetzung des „pro multis“ im Eucharistiegebet durch „für Viele“ festlegte.
Die theologischen Argumente in dieser Diskussion sind alle ausgetauscht. Und sie sind gewichtig und schwierig, dass es selbst einem Fachtheologen schwerfällt, sich dieser oder jener Meinungsrichtung anzuschließen. Doch eine Fragerichtung wurde bisher kaum bedacht. Was wird denn konkret in den Gemeinden geschehen, wenn das neue Messbuch erschienen ist? Hier treibt uns die Sorge um, dass es ähnlich gehen wird wie in der beschriebenen Familiensituation. Denn wie in der Familie, so greifen die beschriebenen Mechanismen gleichermaßen in Organisationen, Institutionen und Systemen. Somit sind sie auch ein durchaus virulentes Thema kirchlicher Praxis, gerade dann, wenn es um die Regelung des „Miteinanderlebens“, also die Praxis kirchlich-gemeindlicher Communio geht.
Dies wird unseres Erachtens anhand der kontroversen Diskussion um die Übersetzung des „pro multis“ anschaulich. Zunächst einmal kommen Gemeinden und Priester in eine äußerst schwierige Situation, denn hier deutet sich ein Konflikt im relationalen Zentrum des rituell praktizierten Glaubens an. Wiewohl es keinesfalls nur ein Problem des zelebrierenden Priesters ist, für welche Übersetzung er sich nun entscheidet, kann der Konflikt zunächst aus der Perspektive des Liturgen in seiner Beziehung zur mitfeiernden Gemeinde angeschaut werden.
Unter dieser Perspektive liegt die Frage auf der Hand, wie der Priester vor Ort angesichts unterschiedlicher Auffassungen und Ausrichtungen in den Gemeinden denn jene vom Papst gewünschte Änderung handhaben wird. Da ein Ritual geändert wird – und Rituale leben von der Gewohnheit wie vom Miteinander – wird die Neuübersetzung auf jeden Fall erklärungsbedürftig sein. Und sie wird – unter relationalem Aspekt – kommentiert werden müssen.
Droht hier nicht ein ähnliches Dilemma wie in der besagten Familie? Übernimmt der Priester die Neuübersetzung des Messbuchs, wird der eher fortschrittliche Teil der Gemeinde ihn als papsttreu und angepasst einstufen, etwa nach dem Motto: Kaum kommt eine Änderung aus Rom, wird sie bereitwillig übernommen. Bleibt der Priester bei der bisherigen Übersetzung, wird der eher konservative Teil der Gemeinde ihm ein renitentes Verhalten unterstellen, dem das „sentire cum ecclesia“ (wobei unter „ecclesia“ lediglich die Hierarchie verstanden wird) fehlt. Wie auch immer, es gibt aus diesen Zuordnungen kein Entrinnen.
Dies hat seinen Grund zweifelsohne darin, dass wir uns mit den Kelchworten im Zentrum unseres Glaubens bewegen. Es sind ja die in der Gemeinschaft der feiernden Kirche gesprochenen Einsetzungsworte, die als Deutungsworte die Communio der feiernden Gemeinde mit ihrem Herrn konstituieren. Die Frage, welche Übersetzung nun für das „pro multis“ gewählt wird, ist damit nicht nur ein Problem des Priesters oder aber der kirchlichen Ordnung. Vielmehr offenbart sich hier ein großer Konflikt im Zentrum der feiernden Gemeinde selbst. Dann aber geht es nicht allein darum, dass eine Gemeinde den Priester anhand seiner Zelebrationspraxis kirchenpolitisch zuordnet. Dies entspräche dem dyadischen Modell, und das gab es schon immer.
Das Dilemma ist vielmehr, dass dies in Zukunft im inneren Zentrum kirchlichen Lebens und damit im Herzstück der Eucharistiefeier geschieht, dem innersten Heiligtum liturgischen Betens. Ein Priester wird – zumindest in einer ersten Phase nach der Änderung – nicht mehr unbefangen die Herrenworte sprechen können, weil sie verraten, welche kirchenpolitische Position er einnimmt. Das allerheiligste Zentrum liturgischen Feierns wird damit „politisiert“ und verliert seine doch so wichtige Einheit und Erlösung stiftende Funktion. Das Heiligtum ist durch eine Überreglementierung des gewohnten liturgischen und rituellen Feierns in seinem Kern bedroht, wenn nicht gar vergiftet.
Hier wird offenkundig, in welches Dilemma die Neuregelung die Gemeinden bringt: Es wird nur ein Wort verändert. Dies wirkt sich jedoch im Kern auf das gesamte Koordinatensystem und damit auf alle Dimensionen kirchlich-gemeindlichen Lebens aus. Und wie in der eingangs geschilderten Familienszene wird durch die Reglementierung und die daraus folgende „Politisierung“ der Liturgie eines verhindert, nämlich eine würdige Feier der heiligen Geheimnisse.
Reform ohne das Volk Gottes?
Der Konflikt um die „richtige“ Übersetzung des „pro multis“ ist alles Andere als ein marginales Randthema gegenwärtiger kirchlicher Praxis. Man hört in diesem Zusammenhang leider nicht wenige Stimmen – durchaus auch von Seelsorgerinnen und Seelsorgern vor Ort – denen die Übersetzung einfach nur egal ist und die derzeit wichtigere Themen im Leben der Kirche ausmachen. Eine solche Haltung indifferenter Beliebigkeit in dieser Angelegenheit erscheint uns als äußerst fatal und wird der Bedeutung des Konfliktes nicht gerecht. Denn die Übersetzung zielt in das rituelle Zentrum der Kirche, das nicht nur ihre Existenz begründet, sondern auch Identität verleiht. Und hier geht es um die relationale Dimension der Kirche, ihre konstitutionelle Bezogenheit zum dreieinen Gott, zu ihren Gliedern und zu allen Menschen. Damit geht es zugleich um die missionarische Dimension des Kirche-Seins für alle.
Dann aber steht viel mehr auf dem Spiel als die Entscheidungsnot der Priester, sich der Übersetzungsanweisung des Papstes entweder zu widersetzen oder ihr Gehorsam zu leisten. Vertan wird eine Möglichkeit gemeindlich-kirchlichen Miteinanderlebens, die das Heil-sein-von-Gott-her für die ganze Welt erfahrbar machen kann. Die Liturgiereform des Zweiten Vatikanischen Konzils, die unter anderem auf basiskirchliche Prozesse wie die Liturgische Bewegung reagierte, bezog das Volk Gottes zumindest ansatzweise in die Reformprozesse ein. Im gegenwärtigen Verfahren hingegen ist – mit dem Gottesvolk – der gesamte deutsche Episkopat von der Entscheidung ausgeschlossen.
Damit bietet die Entscheidung eine dramatische Steigerung des oft beklagten schismatischen Gefälles zwischen Klerus und Laien. Die Kirche dürfte durch die Übersetzung des „pro multis“ also nicht nur bezüglich ihrer Sendung für alle Menschen in eine Identitätskrise kommen. Durch die – gegen die Intention des Konzils – über viele Jahre stetig zurückgenommene Teilhabe des ganzen Gottesvolkes an seinen innersten Angelegenheiten leidet die Kirche auch an einer Krise der Entfremdung zwischen Leitung und Basis. Dies entspricht, wenn man es aus relationaler Perspektive betrachtet, faktisch einer „Ex-Kommunikation“.
Die Praxis Roms führt zunehmend zu einer Gestalt der Kirche, in der – um eine Formulierung von Leo Karrer zu übernehmen – die Wahrheitssuche und die kirchlichen Entscheidungen auch fünfzig Jahre nach dem Konzil weiterhin ohne Volk Gottes beziehungsweise ohne die so genannten Laien und deren Glaubenssinn erfolgen. Der größte Teil des Gottesvolkes ist, wie so oft, nicht an den seine Identität betreffenden Entscheidungen beteiligt. Dies lässt die Kirche gemessen an ihren Aussagen über sich selbst unglaubwürdig erscheinen.
Nun wird man seitens der Kirchenleitung sagen, das Volk sei deshalb nicht von den Prozessen ausgeschlossen, weil eine Katechese über das rechte Verständnis des Kelchwortes vorgesehen sei. So versteht der Vorsitzende der Deutschen Bischofskonferenz, Erzbischof Robert Zollitsch, den Brief des Papstes vom 12. April 2012 mit den darin dargelegten theologischen Voraussetzungen, den übersetzerischen Grundentscheidungen und seinem Inhalt nach selbst bereits als eine Art Katechese. Dies trifft die Intention des Papstes, der mit seinem Schreiben die Absicht verfolgt, die inhaltlichen Grundlinien der von ihm geforderten und von den deutschen Bischöfen zu erarbeitenden Katechese anzudeuten, „mit der nun so bald wie möglich Priester und Laien auf die neue Übersetzung vorbereitet werden sollen“.
Kein Einheitsbild römisch-katholischer Kirchlichkeit
Ob aber eine solche Katechese als eine von vielen Formen der Beteiligung des Volkes am Leben der Kirche angesichts der existenziellen Bedeutung der Übersetzung des „pro multis“ der geeignete Weg ist, das Volk Gottes hieran aktiv zu beteiligen, darf alleine deshalb bezweifelt werden, als das Ergebnis der Katechese ja schon feststeht: die von Benedikt XVI. in Bezug auf die Kelchworte angeordnete deutsche Übersetzung. Interessanterweise ist dem Papst selbst durchaus bewusst, dass die Veränderung liturgischer Formeln und Texte die Menschen und die Liturgie in ihrem Innersten trifft: „Wir wissen alle durch die Erfahrung der letzten 50 Jahre, wie tief die Veränderung liturgischer Formen und Texte die Menschen in die Seele trifft; wie sehr muss da eine Veränderung des Textes an einem so zentralen Punkt die Menschen beunruhigen.“
Aber dass diese Einsicht auch eine relational-communionale Dimension hat und zu einer völlig anderen Positionierung führen müsste, wird völlig ausgeblendet. Angesichts der Auswirkung der Neuübersetzung auf den ganzen Menschen in den Dimensionen des Rituellen und des Relationalen kann eine Katechese allein deshalb nicht greifen, als sie sich vorrangig diskursiv versteht: Es geht um ein kognitives Einsehen einer theologisch diffizilen Unterscheidung. Der innere Widerspruch besteht darin, im rituellen Vollzug nicht mehr genau das zum Ausdruck zu bringen, was man glaubt: Dass Christus für alle gestorben ist, wird aufgrund einer zumindest fragwürdigen Texttreue revidiert. Dem Volk Gottes kommt dabei lediglich die passive Rolle des Rezipienten zu.
Auch verkennt die Intention, die Gläubigen mit einer Katechese gezielt erreichen und belehren zu können, die jüngst neu erhobene Pluralität zwischen den unterschiedlichen Milieus, in denen die Kirchenmitglieder beheimatet sind. Wir können ja schon lange nicht mehr von einem Einheitsbild römisch-katholischer Kirchlichkeit ausgehen. Vielmehr gilt es, gerade hier die hoch differenziert beschriebene Vielfalt von Lebenswelten und Lebensentwürfen zu berücksichtigen und die vielen Menschen, die die Liturgie einfach ohne die hier beschriebenen Prozesse der Umwandlung „erleben“, nicht außer Acht zu lassen. Nur wenige von ihnen werden durch eine Katechese erreicht. Die meisten jedoch werden, wie Benedikt XVI. es selber ahnt, in ihrer Seele erschüttert sein, wenn ihnen die Worte, die sie im Herzen der Liturgie immer gebetet haben, nun aus dem Munde genommen werden.
Unter relationalem Aspekt wird deutlich, wie sehr die Übersetzung des „pro multis“ Sache der ganzen Kirche und all ihrer Glieder ist und werden wird. Unter dieser Voraussetzung ist es geradezu fatal, wenn in der Entscheidung des Papstes das Volk Gottes als Subjekt gar nicht vorkommt, da es von Entscheidungsprozessen dieser Art ausgeschlossen ist. Selbst wenn das in der amtlich-hierarchischen Struktur oder in der Praxis der Kirche so vorgesehen sein sollte – die Kirchen- und die Pastoralkonstitution des Zweiten Vatikanischen Konzils sprechen hier allerdings eine andere Sprache –, hat dies vielfältige dynamische Konsequenzen. Sie entfalten, und dies wäre dringend zu beachten, ihre Wirksamkeit auf der Ebene des Bewussten und – da im Kern des Rituals – des Unbewussten der Gläubigen und der Gemeinden.
Auf der Ebene des Bewussten führt die römische Praxis des Ausschlusses der beteiligten Subjekte gerade dort, wo es um den Kern communionaler Selbst-Konstitution der Kirche geht, zu den aufgezeigten Konflikten zwischen Priestern und Gemeinden wie auch zum vielfach beklagten Rückzug und zur Distanzierung vieler Gläubiger. Die Ebene des Unbewussten spricht der Papst in seinem Brief – unbewusst? – selber an, wenn er zum Ausdruck bringt, „wie tief die Veränderung liturgischer Formen und Texte die Menschen in die Seele“ treffen und sie beunruhigen kann.
Liturgiereformen im Miteinander angehen
Nun sollen die vorgetragenen Überlegungen keinesfalls dazu führen, künftig einen gänzlichen Verzicht auf Liturgiereformen zu legitimieren. Sie sind allerdings ein Plädoyer dafür, Reformen unter Einbeziehung der Tradition und ihrer rituellen und relational-communionalen Dimensionen zu vollziehen, sie also nicht an den Menschen vorbei schlichtweg anzuordnen. Es gilt, Liturgiereformen entsprechend ihrer Notwendigkeit und Ambivalenz im Miteinander anzugehen. Es erscheint fast wie eine Ironie, dass ausgerechnet jener Papst „von oben“ in das rituelle Gefüge der Kirche eingreift, der ansonsten das Bild organischer Liturgieentwicklung stark macht: „In der Liturgiegeschichte gibt es Wachstum und Fortschritt, aber keinen Bruch“, so schreibt der Papst in seinem Brief vom 7. Juli 2007 anlässlich der verstärkten Wiederzulassung der Alten Messe.
Doch wird man sagen müssen, dass die Übersetzungsänderung im Herzen der Eucharistiefeier genau einen solchen Bruch markiert: Ohne Not wird eine über vierzigjährige Praxis geändert. Die seit Jahren organisch an einer deutschen Liturgiesprache weiterdenkenden Kommissionen wurden vor einiger Zeit einfach „von oben“ aufgelöst, stattdessen nun die Kurie und der Papst selbst als Garant des Wachstums installiert. Auch bei grundsätzlicher Zustimmung wird man an der Liturgiereform nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil kritisieren können, sie sei ohne religionsgeschichtlichen Befund gemacht worden. So hat man beispielsweise auf ritualtheoretische Überlegungen verzichtet, die zur Vorsicht bei vorschnellen Änderungen des historisch Gewachsenen mahnen könnten.
Eine Ironie der Geschichte
Die derzeitigen Sympathiebewegungen für die Alte Messe zeigen zur Genüge, welche Wirkung es hat, zu schnell vom Liebgewordenen und Gewachsenen Abschied zu nehmen. Es zeigt sich die Bedeutung des Rituellen. Hier einzugreifen ist nicht gefahrlos. Vielleicht hätte man damals wirklich den Alten Ritus weiterbestehen lassen sollen, gerade damit es nicht zu einer Konkurrenz, Abgrenzung und Polarisierung kommt, sondern zu einer gesunden, kommunial abgesicherten Pluriformität. Nun hat es den Anschein, man habe aus alledem nichts gelernt: Das Ritual, das sowieso schon per se Unterbrechung ist, wird nochmals unterbrochen, und zwar unter Verzicht auf Plausibilität schaffende kommunikative Prozesse.
Zudem ergibt sich ein nicht geringes theologisches Dilemma, wenn künftig an einer solch zentralen Stelle das „Gesetz des Betens“ (lex orandi) nicht mehr mit dem „Gesetz des Glaubens“ (lex credendi) übereinstimmt. Das Bekenntnis, Jesu Tod sei für das Heil der ganzen Welt und alle Menschen geschehen, wird künftig im konkreten Kelchwort nicht mehr anklingen. Nur mehr am Gründonnerstag wird das 1. Hochgebet, der Canon Romanus, mit der Wendung „Am Abend, bevor er für unser Heil und das Heil aller Menschen das Leiden auf sich nahm – das ist heute“ im Zentrum der Eucharistiefeier von der Universalität des Heilswillens Gottes Zeugnis geben.
„Pro multis“ – „für Viele“ oder „für alle“? Zuletzt steht die Frage im Raum, ob die Verwendung der richtigen Übersetzung des „pro multis“ als eine Frage kirchlichen Gehorsams angesehen werden muss. Man könnte in die Diskussion einfügen, dass sich Priester und Gemeinden deshalb nicht zu positionieren brauchen, weil die Kirchenleitung sich bereits für sie positioniert hat. Den römischen Forderungen ist einfach Gehorsam entgegenzubringen. Dies war ja bislang in der jüngeren Kirchengeschichte gegenüber den liturgischen Richtlinien gefordert worden, und Kritik entzündete sich vor allem dann, wenn im Bereich des Experimentellen dieser Gehorsam nicht geleistet wurde.
Schwierig an dieser Argumentationsstruktur ist die Erfahrung gerade im Pontifikat Benedikts XVI., wie sehr sich permanenter Ungehorsam auszahlt: Die hinter der so genannten Alten Messe stehenden Gruppierungen haben so lange und konsequent Ungehorsam gegenüber den nach einem allgemeinen Konzil erlassenen liturgischen Normen gezeigt, bis die Kirchenleitung zugunsten des hohen Gutes der Kircheneinheit nachgab. Die Lesart von zwei Formen des einen römischen Ritus ist der brüchige Versuch, eine liturgische Einheit vorzustellen, die de facto längst nicht mehr existiert. Der Hinweis darauf, der Alte Ritus sei rechtlich nie abgeschafft worden, ist kirchenrechtlich so problematisch wie hilflos.
Fast könnte man von einer Ironie der Geschichte sprechen: Gerade dasjenige Pontifikat, das sich um die Einheit der Kirche und ihrer Liturgie sorgte, schuf und legitimierte eine liturgische Pluriformität. Man wird nicht fehlgehen zu prognostizieren, dass die damals vom Papst vorgetragenen Argumente für die Alte Messe als außerordentlicher Form neben der ordentlichen modifiziert zur Anwendung kommen werden, indem sie auf das bisherige und das kommende deutsche Messbuch übertragen werden: „Was früheren Generationen heilig war, bleibt auch uns heilig und groß; es kann nicht plötzlich rundum verboten oder gar schädlich sein“, so der Papst im bereits zitierten Schreiben von 2007.
Die über vierzig Jahre geübte Version „für alle“ – von Johannes Paul II. in seinem Gründonnerstagsbrief von 2005 als adäquate Interpretation gewürdigt – wäre von hierher mit denselben Maßstäben zu messen wie der Alte Ritus. Und dann, so die Prognose, steht neben der außerordentlichen Form die ordentliche Form in zwei approbierten Fassungen, der von 1970 und der zukünftigen. Postmoderne Beliebigkeit wird in Zukunft die Feier der Eucharistie im deutschen Sprachraum prägen – von Einheitlichkeit im Beten keine Spur. Dies wäre an und für sich kein Problem – vorausgesetzt, man könnte solche Vielfalt als Reichtum des Katholischen positiv werten.
Es steht zu befürchten, dass in Folge der Entscheidung Roms bezüglich der Übersetzung der Kelchworte der Schaden groß sein wird. Zu verantworten ist er von der Hierarchie, nicht von denen, die das Messbuch nutzen – oder es eben nicht nutzen. Wie auch immer: Wir erleben eine unnötige Diskussion zur falschen Zeit. Seitens Roms wurde sie eröffnet und für beendet erklärt. Dies ist Grund genug, sie nun im neuen Pontifikat weiterzuführen, mit dem Ziel, Schaden vom innersten Heiligtum der Eucharistie abzuwenden. Wie immer dies ausgehen mag, man hat die Sorge, dem neuen deutschen Messbuch hafte weit vor seinem Erscheinen bereits ein struktureller Geburtsfehler mit weitreichenden Konsequenzen an.