HK: Frau Ueberschär, der Evangelische Kirchentag ist ein Kind der unmittelbaren Nachkriegszeit mit einer bewegten Geschichte. Wo steht er heute? Inwieweit sind die ursprünglichen Anliegen noch aktuell?
Ueberschär: Am Anfang stand die Überzeugung, dass die Laien in der evangelischen Kirche ein eigenes Forum brauchen, auf dem sie zwischen Glauben und Weltverantwortung ihre Themen selbst artikulieren können. Dieser Impuls ist immer noch wichtig. Natürlich war der Kirchentag in den fünfziger Jahren ganz anders, als er es heute ist, und hat viele Metamorphosen durchlebt. Die Maximen der Präambel, Menschen, die nach dem christlichen Glauben fragen, zusammenzuführen, sie für Verantwortung in der Kirche sowie für das Zeugnis in der Welt und letztlich auch die weltweite Ökumene zu stärken, sind weiterhin wichtig. Beim kritischen Nachdenken, ob wir nicht selbstzufrieden und satt geworden sind, bestätigt sich immer wieder, dass die Grundidee weiterhin stimmt. Es kommt freilich auch darauf an, sie lebendig zu erhalten.
HK: Ein Tiefpunkt der Kirchentagsgeschichte war das Treffen 1973, als gerade einmal 7000 Teilnehmer nach Düsseldorf kamen. Wie ist es gelungen, die Veranstaltung so zu beleben, dass seit längerem wieder konstant um die 100 000 Dauerteilnehmer zu verzeichnen sind?
Ueberschär: Zu Beginn war der Kirchentag eine Art volksmissionarische Synode. Dann kam die Krise der späten sechziger Jahre, wo diese Form von Kirchlichkeit und teils auch die Inhalte in Zweifel gezogen wurden – bis hin zum Krisenpunkt 1973. Es war eine unglaublich große Leistung der Menschen, die ihn damals verantwortet haben, zu sagen: Wir geben jetzt nicht auf, wir packen es an und verändern den Kirchentag. Das ist eines der Erfolgsgeheimnisse bis heute: Was uns an Impulsen aus Gesellschaft und Kirche entgegenkommt, nimmt der Kirchentag auf und bildet einen kritischen Resonanzboden. So geschah Bewusstseinsbildung im Protestantismus wie auch darüber hinaus. Die Folge war der Aufstieg eines sehr politischen Christentums in den siebziger und achtziger Jahren, wobei damals die Basis auch geklärt war. Helmut Schmidt konnte sagen: Mit der Bergpredigt kann man nicht regieren – und jeder wusste zumindest, was in der Bergpredigt steht. Heute ist es oft umgekehrt: Kaum ein Mensch weiß, was die Bergpredigt ist; aber manche bilden sich ein, man könne damit regieren.
HK: Dass sich das gesellschaftskritische Potenzial der Kirchentage der siebziger und achtziger Jahre längst abgeschliffen habe, wird immer wieder beklagt.
Ueberschär: Das finde ich eine sehr merkwürdige Sicht, die viele vertreten. Ich gehöre zu denen, die aufgrund der Erfahrungen in einem System, in dem das Christentum aus der Öffentlichkeit entfernt werden sollte, einen Systemwiderstand gegen unsere Gesellschaft nicht nachvollziehen können. Es ist vielmehr ein Erfolg, dass sich Vieles, was aus christlichem Verantwortungsgefühl vorangebracht wurde, durchgesetzt hat. Wir leben doch heute in einer viel freieren, für Friedensfragen sensibleren und ökologisch bewussteren Gesellschaft. Ein Anrennen gegen Autoritäten ist gar nicht mehr notwendig. Wenn der Kirchentag sich heute als Widerstandsnest organisieren würde, kämen nicht mehr als 300 Leute. Aber schon früher hat es nicht einfach die Widerstandsbewegung des Kirchentags mit seinen Basisgruppen auf der einen und die böse Gesellschaft auf der anderen Seite gegeben.
„Weder in eine Politveranstaltung abdriften noch nur auf Spiritualität setzen“
HK: Umgekehrt ist der ehemalige Rostocker Pfarrer Joachim Gauck zwischenzeitlich schon der vierte Bundespräsident, der zuvor dem Präsidium des Deutschen Evangelischen Kirchentags angehörte …
Ueberschär: Es gibt die bedauerlicherweise zu kleine Gruppe von Menschen, die sich auf allen Ebenen engagiert. Deshalb ist es auch kein Wunder, wenn Mitglieder des Kirchentagspräsidiums Bundespräsidenten werden, sondern Ergebnis eines wachen Verantwortungsbewusstseins dieser Persönlichkeiten. Das hängt sicher auch damit zusammen, dass sich bestimmte Milieus dieser Gesellschaft auf dem Kirchentag stärker wiederfinden als andere. Das sind Menschen, die den Wurzelboden des zivilgesellschaftlichen Lebens ausmachen, indem sie politisch wach den Alltag in ihrer Kirchengemeinde oder in der Kommune gestalten. Das macht gerade die friedvolle und schöne Atmosphäre aus, die auf Kirchentagen zu erleben ist. Wobei es sicher eine Schwäche des Kirchentags ist, nur wenige Menschen aus prekären sozialen Verhältnissen zu gewinnen.
HK: Inwiefern versteht sich aber der Kirchentag noch als protestantische Bürgerrechtsbewegung, wie das Helmut Simon, Bundesverfassungsrichter und zwei Mal Kirchentagspräsident, formuliert hat?
Ueberschär: Vielleicht ist der Schwerpunkt auf Bürgerrechten etwas eng für die heutige Zeit, aber die Idee, dass der Kirchentag ein zivilgesellschaftliches Forum ist, auf dem Leute versuchen zu beten, zu singen und gleichzeitig Argumente zu bringen, ist weiterhin Konsens. Das Besondere des Kirchentags ist die Kunst der Balance, weder in eine Politveranstaltung abzudriften noch nur auf Spiritualität oder Frömmigkeit zu setzen. Natürlich werden auf Podien zum Thema Umweltethik wie an anderen Orten Fachfragen diskutiert. Aber: Unmittelbar vor der Veranstaltung findet eine Bibelarbeit statt, in der darüber nachgedacht wird, wie man das Evangelium in die heutige Zeit übersetzen kann; danach ein offenes Singen und ein Mittagsgebet. Das ist der Unterschied zu einem wissenschaftlichen Kongress. Es geht nicht darum, nach jedem Diskussionbeitrag ein Gebetsanliegen zu formulieren, sondern um eine gesunde Spannung. Natürlich ist das Pendel auch in die eine und die andere Richtung ausgeschlagen. Vielleicht ist es heute so, dass wir uns der Quellen des Glaubens wieder gewisser werden müssen.
HK: Was sind denn im Moment die heißen gesellschaftlichen Fragen, die auf Kirchentagen diskutiert werden sollten?
Ueberschär: Es ist darüber zu streiten, was Gerechtigkeit heute in dieser Gesellschaft und weltweit bedeutet. Beim Hamburger Kirchentag diskutieren wir etwa über die Wirtschaft, die wir das erste Mal zu einem Großthema machen – nicht nur behandeln als Aspekt der Globalisierung und der Herausforderung, die Schöpfung zu bewahren. Es ist eine zentrale Zukunftsfrage, was für eine Art von Wirtschaften wir heute brauchen. Wichtig sind auch alle Fragen des interreligiösen und interkulturellen Zusammenlebens. Hier müssen Christinnen und Christen noch gute Wege finden. Der dritte Schwerpunkt ist das Thema Inklusion. Das mag ein sperriger Begriff sein, der Sache nach geht es darum, nicht nur Menschen mit Behinderungen in die Gesellschaft einzuschließen, sondern ebenso auf Ausgrenzungen anderer, etwa sozialer Art zu achten. Da geht es auch um Menschen mit Migrationshintergrund. Die Gesellschaft driftet auseinander, aber unser christliches Paradigma ist die Versöhnung – auch eine Übersetzung von Inklusion.
HK: Auch mit Blick auf die verfasste Kirche hat die Kirchentagsbewegung ihre Unabhängigkeit immer wieder hervorgehoben. Margot Käßmann, seinerzeit Generalsekretärin, hat 1999 geschrieben: „Der Kirchentag wird der Versuchung widerstehen müssen, Teil der Kirche zu werden.“ Ist er nicht Teil der evangelischen Kirche?
Ueberschär: Von außen gesehen ist er das natürlich längst. Der Unterschied ist oft gar nicht mehr leicht zu erklären. Da hat sich etwas weiterentwickelt, nicht zuletzt weil Margot Käßmann selbst Teil der Kirche geworden ist. Im Übrigen sind alle christlichen Milieus nicht gerade am Wachsen. Viele der Binnendifferenzierungen der Vergangenheit sind sinnvollerweise gar nicht mehr zu pflegen. Aber man muss natürlich immer wieder schauen, ob wir noch das öffentliche und kritische Forum im Gegenüber zur Kirche sind. Eine gewisse gesunde, natürliche Distanz und vor allem institutionelle Unabhängigkeit sind überlebenswichtig. Wenn es das nicht gäbe, bräuchten wir den Kirchentag nicht. Dann könnten die Landeskirchen Kirchentage veranstalten und gut wär’s. Das würden dann aber schnell Bischofsfestspiele. Das will der Kirchentag nicht sein – auch wenn es manchmal schwerfällt, das durchzuhalten, wenn Menschen, die vorher beim Kirchentag waren, auf einmal auf der anderen Seite sitzen.
„Schauen, wo Menschen etwas zu sagen haben“
HK: Der Kirchentag dürfe nicht zu einer Bühne für die Präsentation kirchlicher Würdenträger verkümmern, ist in der Festschrift zum 60-jährigen Jubiläum in diesem Sinne zu lesen. Steht das letztlich nicht quer zum Interesse der Medien an Personalisierung heute?
Ueberschär: Mediengesetzlichkeiten hin oder her: Die Anzahl der bischöflichen Köpfe, die für die Medien von herausragendem Interesse sind, ist nicht so groß. Die Medien befragen bisweilen lieber eine prominente Kirchentagspräsidentin als den Landesbischof. Wir müssen immer wieder deutlich machen, dass wir als Kirche nicht von der Hierarchisierung leben, sondern aus der Gemeinschaft. Deshalb haben wir auch bei jedem Kirchentag einen neuen Präsidenten. Wir könnten es uns einfacher machen, eine medienwirksame Person suchen und die das zehn Jahre lang machen lassen. Das ist aber nicht unser Prinzip. Wir leben heute in einer Gesellschaft, in der eine Person nicht mehr ohne weiteres für alle sprechen kann.
HK: Inwiefern gilt das auch für den Kirchentag mit einer vergleichsweise einheitlichen Teilnehmerschaft?
Ueberschär: Unsere separierte Gesellschaft hat dazu geführt, dass Menschen, die für manche geradezu götterhafte Qualitäten haben, anderen völlig unbekannt sind. Wir haben einmal die Bibelarbeiten durch Studierende evaluieren lassen. Das Witzige war, dass bei ihnen gerade die Veranstaltungen mit mehr als 5000 Leuten sehr schlecht abgeschnitten haben, aber eine Bibelarbeit von einem Physiker und einer Psychoanalytikerin mit vielleicht einmal 200 Teilnehmenden diese geradezu euphorisiert hat. Man soll nicht immer nur auf die Zahlen gucken, sondern schauen, wo Menschen etwas zu sagen haben.
HK: Wird dem Kirchentag deshalb auch eine Avantgardefunktion für die Kirche zugeschrieben …
Ueberschär: Menschen, die hauptberuflich in der Kirche arbeiten und sich beim Kirchentag engagieren oder teilnehmen, probieren dort etwas aus, das vor Ort nicht so leicht zu bewerkstelligen ist. Länger schon organisieren wir einen Gottesdienst zur Segnung von Schwangeren und ihren Angehörigen. Das kann man in einer Kleinstadt schon mangels betroffener Menschen gar nicht so ohne weiteres anbieten; auf dem Kirchentag ist das ein erfolgreiches Angebot von einer Pfarrerin, die auch Hebamme ist, mit mehr als 500 Teilnehmenden. Schon Reinhold von Thadden, dem Kirchentagsgründer, lag daran, im Vorfeld der Kirchen zu experimentieren. Es kann sein, dass das dann in den Gemeinden aufgenommen wird – oder eben nicht. Die Feierabendmahle, die heute in der evangelischen Agende stehen, wurden Ende der siebziger Jahre auf Kirchentagen ausprobiert, weil manche davon überzeugt waren, dass es um der inneren Beziehung willen eine Belebung der evangelischen Abendmahlskultur brauchte. Gesucht wurde eine Form, die die politischen Anliegen mit dem gemeinschaftlichen Kraftschöpfen aus dem Glauben verbindet.
HK: Wie hoch ist der Anteil derer, die alle zwei Jahre kommen, zwischendurch aber kaum Kontakt zur Kirche haben?
Ueberschär: In der Religionssoziologie gibt es unter dem Motto „believing without belonging“ die These eines Glaubens ohne Zugehörigkeit, die leider auch Anwendung auf den Kirchentag gefunden hat. Das ist nachweislich unzutreffend. Die meisten Menschen, die zum Kirchentag kommen, sind in ihren Gemeinden engagiert – ohne dass sie deshalb zwingend jeden Sonntag in die Kirche gehen müssten. Man darf sich nicht einbilden, der Kirchentag wäre eine frei flottierende Gemeinde, die sich alle zwei Jahre versammelt und ansonsten nichts mit Kirche zu tun hat. Die meisten Menschen kommen über engagierte Gemeindegruppen zum Kirchentag. Aber natürlich laden wir auch andere Menschen ein, die überhaupt keine Beziehung zur Kirche haben.
HK: Täuscht der Eindruck, dass das Kirchentagspublikum in den vergangenen Jahren älter geworden ist?
Ueberschär: Die Kirchentagsteilnehmenden werden älter, aber nicht stärker als der Durchschnitt der Gesellschaft. Natürlich sind heute weniger Unter-Dreißigjährige dabei als Anfang der achtziger Jahre. Aber seit wir als Frucht des Ersten Ökumenischen Kirchentags ein Kinderzentrum eingerichtet haben, konnten wir eine ganze Menge junger Familien mit kleineren Kindern gewinnen. Da haben wir inzwischen wieder besseren Zugang zur Altersgruppe zwischen 20 und 40 oder auch 50 Jahren, die man in den Gemeinden weniger antrifft. Und immer noch ist es so, dass 25 Prozent der Teilnehmenden Schülerinnen und Schüler sind. Das Problem ist vor allem die Gruppe derer zwischen 20 und 25 Jahren. Durch die Veränderungen des Studiums gibt es offensichtlich weniger Leute, die sich in dieser Phase für fünf Tage während der häufiger gewordenen Prüfungszeiten freinehmen können. Wir werben deshalb verstärkt um sie.
„Auch die Digitalisierung wirkt sich auf den Kirchentag aus“
HK: Mit Blick auf welche Themen kann der Kirchentag denn seine Unabhängigkeit gegenüber den Kirchenleitungen beweisen?
Ueberschär: Ein wichtiger Punkt ist die Frage, wie wir mit anderen Religionen zusammenleben wollen. Angesichts der Diskussionen über das Religionsverfassungsrecht sind wir als Kirchentag freier als jemand, der in kirchenleitender Verantwortung steht. Gleichzeitig sehen wir, dass im evangelischen Milieu viel an Überzeugungsarbeit notwendig ist. Bei empirischen Studien kommen immer wieder viele Ressentiments und erhebliche fremdenfeindliche Vorbehalte an den Tag, die wir durch Begegnungen und Diskussionen abbauen wollen. Wie leben Muslime, aber auch: Wie leben Christen aus Afrika in diesem Land? Was ist ihnen verwehrt, können sie etwa ihre Religion nur auf dem Hinterhof in einem Gewerbegebiet leben? Und wollen wir das? Hier haben wir eine Vorreiterfunktion. Als es im christlich-islamischen Dialog die Krise wegen der EKD-Denkschrift „Klarheit und gute Nachbarschaft“ gab, war die Unabhängigkeit besonders hilfreich – bis hin zu konkreten Ini-tiativen für eine religionssensible Krankenhausseelsorge.
HK: Wie positioniert sich der Kirchentag in und zum Reformprozess innerhalb der evangelischen Kirche?
Ueberschär: Der Kirchentag selbst nimmt keine Position ein. Im Unterschied zum Zentralkomitee der deutschen Katholiken als Träger des Katholikentags verabschiedet das Präsidium des Kirchentags keine Stellungnahmen. Wir wollen bewusst Forum sein. Der Reformprozess in seinen unterschiedlichen Teilen wird natürlich auf Kirchentagen aufgegriffen, etwa die Verbesserung der Predigtkultur in der großen Gottesdienstwerkstatt. Auch andere Fragen, angefangen von der Zentralisierung kirchlicher Arbeitsbereiche, werden kritisch diskutiert. Logischerweise verfolgt der Reformprozess aber vor allem binnenkirchliche Anliegen. Auf Kirchentagen gibt es heute jedoch keinen größeren Bedarf, darüber zu reden – im Unterschied zu den sechziger Jahren. Es gibt sogar viele kirchliche Mitarbeiter, die richtig froh sind, auch einmal über andere Themen als in den Gemeinden und kirchlichen Gremien sprechen zu können.
HK: Was heißt das für die Inhalte? Jeder Großveranstaltung dieser Art wird regelmäßig vorgeworfen, eine schlichte Addition von vielfältigen Äußerungen zu sein.
Ueberschär: Ich kann den Vorwurf der Addition nicht nachvollziehen. In einer Demokratie sind auch nicht alle gleichförmig, denken nur in eine Richtung und wünschen sich dieselbe Gesellschaft. Christlich sind wir politisch nicht festgelegt und können mit sehr unterschiedlichen Anschauungen christlich sein. Das zu zeigen, ist ein Mehrwert des Kirchentages, der für viele Menschen attraktiv ist. Im Übrigen gibt es immer noch das Instrument der Resolutionen. Seit wir das digitalisiert haben, hat es eine Renaissance gegeben. Es ist schon möglich, dass eine größere Gruppe, etwa die Teilnehmer eines Forums, einen Text veröffentlichen und mithilfe der Presseöffentlichkeit eine Diskussion anstoßen. In Dresden 2011 gab es eine Resolution zum Thema Wachstum, die große Resonanz gefunden hat. Jetzt geht der Dialog auf dem Kirchentag weiter.
HK: Und wo sind auf einem Kirchentag die Grenzen der Pluralität erreicht?
Ueberschär: Wie im gesellschaftlichen Leben auch: Wenn andere Menschen in ihrer Würde verletzt werden, wenn Gruppen oder Einzelne nicht dialogbereit sind. Für den Markt der Möglichkeiten mit mehr als 800 Gruppen gibt es eigene Regelungen, die etwa vorgeben, dass niemand mit Darstellungen und Bildern brüskiert werden darf. Natürlich gibt es immer wieder auch kritische Diskussionen. Wo beginnt der Synkretismus? Welche religiösen Gemeinschaften dürfen auf einem Kirchentag Werbung machen? Immer wieder umstritten ist auch, derzeit wieder heftiger als im vergangenen Jahrzehnt, die Entscheidung, dass aus historischen und theologischen Gründen keine judenmissionarischen Gruppierungen auftreten dürfen.
HK: In den vergangenen Jahren hat sich ein Verein der Freunde des Kirchentags gegründet, einschließlich einer eigenen Zeitschrift, Sponsoren spielen eine wichtigere Rolle. Wo erfindet sich der Kirchentag gegenwärtig neu?
Ueberschär: Es gab immer ein Magazin, nur war es nicht so chic. Es ist natürlich der Versuch, etwa mit Pro- und Contra-Debatten über die fünf Tage hinaus Kirchentag zu praktizieren. Die Neuerfindung des Kirchentags besteht aber weniger darin, ihn in Erinnerung zu halten. Wichtiger ist es, die Veranstaltungen zu verändern. Was bedeutet etwa die Digitalisierung unserer Welt und wie wirkt sich das auf den Kirchentag aus? Wir diskutieren ja nichts weniger als die Verfasstheit einer neuen Gesellschaft, wenn es darum geht, nach welchen Regeln das Internet zu organisieren ist: Wer äußert sich wie, wer gewinnt auf welche Weise Menschen und wie verdient man dort Geld? Was heißt es, wenn das Private jetzt plötzlich öffentlich ist? Und was bedeutet es, wenn man bei einer Veranstaltung persönlich anwesend ist, gleichzeitig aber die vielen Facebook-Freunde dabei sind? In Dresden gab es bereits so genannte Twitter-Bibelarbeiten, in Hamburg gibt es auch eine Kirchentags-App, mit der man sein Programm besser organisieren kann. Es ist völlig klar, dass das auch das Verhalten der Teilnehmer hin zu mehr Spontaneität verändern wird. Gleichzeitig werden dadurch aber auch die Veranstaltungen interessanter und profilierter, bei denen man nicht nur oberflächlich dabei ist. Es geht darum, die Entgrenzung, von der auch die Ökumene als älteste Globalisierungsbewegung profitiert, positiv anzunehmen. Insgesamt sind wir dabei, viel stärker auf partizipative Formate zu setzen.
„Wir bekennen uns deutlich und klar zu unserer ökumenischen Orientierung“
HK: Was heißt das im Einzelnen?
Ueberschär: Letztlich war doch der Kirchentag der Erfinder der Talkshow-Formate. Jetzt gibt es eine Inflation solcher Runden. Wichtiger ist heute das Bedürfnis, mitreden zu können. Alle Teilnehmer eines Kirchentags sind hochkompetente Menschen, die selbst viel beizutragen haben. Ein Beispiel: Jeder Kirchentag hatte seine Veranstaltung zum Verhältnis von Israel und Palästina: In Bremen 2009 gab es zum ersten Mal ein so genanntes World-Café zu diesem Thema, bei dem sich alle in kleineren Gesprächsgruppen einbringen konnten. Es war völlig überfüllt. Das Bedürfnis, die eigenen Meinungen und neue Ideen auch in den Veranstaltungen selbst auszutauschen, ist enorm groß. Auch mit anderen Großgruppenmethoden experimentieren wir, in Hamburg etwa jetzt zum Thema Ökumene: Was müsste ein gesamtökumenisches Konzil besprechen, wenn es jetzt zusammentreten würde?
HK: Auf Kirchentagen wie auf Katholikentagen spielt die Ökumene inzwischen in vielfältiger Weise eine Rolle. Phänotypisch gleichen sich die Treffen inzwischen sehr. Was ist der Unterschied zwischen beiden Veranstaltungen?
Ueberschär: Der Hauptunterschied liegt in der Art, wie die Veranstaltung zustande kommt und wer sie trägt. Für den Katholikentag sind die katholischen Verbände und anderen Vereinigungen viel wichtiger. Der Kirchentag lebt ausschließlich davon, dass Menschen freiwillig mitmachen. Wenn wir die Begeisterung der Ehrenamtlichen nicht mehr haben, dann haben wir auch keinen Kirchentag mehr. Es ist ein sehr sensibler Punkt, dass das unser eigentliches Kapital ist. Wir haben in dem Sinne keine Institutionen, die hinter dem Kirchentag stehen. Die meisten protestantischen Verbände und Vereine haben sich nach 1945 dafür entschieden, organisatorisch nicht wiederzuerstehen. Dadurch sind auch die jährlichen Verbandstreffen weggefallen – aber: es gibt den Kirchentag auf einer stärker freiwilligen als institutionellen Basis.
HK: Haben die Ökumenischen Kirchentage den Evangelischen Kirchentag verändert?
Ueberschär: Der Erste Ökumenische Kirchentag war der Impuls des Jahrzehnts schlechthin. Aber auch einzelne Elemente sind gewandert: Die Tagzeitengebete hatten wir vorher nicht in der Konsequenz, während der Katholikentag die Bibelarbeiten stärker für sich entdeckt hat. Nach dem Fall der Mauer war die Funktion des Evangelischen Kirchentags, auch Klammer für Ost und West zu sein, weggefallen. Deshalb wurden die neunziger Jahre stark vom Thema Ökumene bestimmt, was der ÖKT von 2003 bis heute ausstrahlt, nachdem der Zweite Ökumenische Kirchentag schon in einer ökumenisch schwierigeren Zeit stattgefunden hat – Kirchentage sind schließlich nicht unabhängig davon, was sich ökumenisch bewegt.
HK: Auch bei den Teilnehmerzahlen der jeweils anderen Konfession gibt es Stagnation. Hätte man das nach zwei Ökumenischen Kirchentagen nicht anders erwarten müssen?
Ueberschär: Ich hätte auch gedacht, dass nach den Ökumenischen Kirchentagen gegenseitige Neugierde und das Interesse größer sind. Ein Teil der Erklärung könnte sein, dass die Menschen die jeweilige Veranstaltung zur Selbstvergewisserung besuchen. Auch bei ökumenisch Interessierten ist die Verwurzelung in der eigenen Tradition ein ganz wichtiges Movens. In einer so großen Gemeinde den eigenen Glauben zu leben, hat eine eigene Faszination. Diejenigen der jeweils anderen Konfession fühlen sich da möglicherweise – zumindest emotional – ausgeschlossen. Es hat aber sicher auch damit zu tun, dass bestimmte Themen nicht gleichermaßen angesprochen werden. Bei uns spielt das Thema Diakonat der Frau, das ich als Katholikin erheblich vermissen würde, natürlich keine Rolle. In Hamburg versuchen wir jetzt, die Ökumene wieder stärker voranzubringen – was dort nicht schwerfällt, weil das Verhältnis sehr gut ist und es eine sehr große katholische Gastfreundschaft gibt. Das Erzbistum stellt den Marien-Dom für unsere Gottesdienstwerkstatt zur Verfügung. Auch die katholischen Gemeinden sehen sich als Gastgeber und den Kirchentag auch als ihr Fest.
HK: In wenigen Wochen findet in Köln ein Eucharistischer Kongress statt, auf der anderen Seite wird das Reformationsgedenken 2017 jetzt schon heftig diskutiert. Was bedeuten diese Profilierungsversuchungen für die Organisation eines weiteren Ökumenischen Kirchentags?
Ueberschär: Es gibt den Beschluss, einen Dritten Ökumenischen Kirchentag anzustreben. Daran arbeiten wir. Wir sollten uns auch nicht von allen anti-ökumenischen Aktivitäten irritieren lassen. Wenn man sich vor Augen hält, wie sich die Gesellschaft entwickelt, gibt es für die Christen keinen anderen Weg, als ihn gemeinsam weiterzugehen. Die Gegeneinanderprofilierungen sind in jedem Fall falsch und führen in die Irre. Da spielen auch sehr kleine Dinge eine sehr große Rolle, weil man sich jeweils auch gegen die anderen Fraktionen in den eigenen Kirchen wehren muss. Natürlich wäre es schön, wenn wir eine Stimmung wie vor dem Ersten ÖKT hätten, wo eine gemeinsame Eucharistie- oder Abendmahlsfeier fast schon am Horizont stand. Wir sind als Kirchentag jedenfalls die evangelische Institution, die sich deutlich und klar zu ihrer ökumenischen Orientierung bekennt, auch wenn das trotz bester Zusammenarbeit in Dresden wegen der Zahlenverhältnisse so nicht auffallen konnte. In der ökumenischen Lage, in der wir uns befinden und die nicht gerade von Begeisterung und Aufbruch geprägt ist, finde ich es viel, wenn wir unsere Gemeinsamkeiten leben und selbstverständlich festhalten, weil auch das alles einschlafen oder versanden kann. Nur wenn wir gemeinsam deutlich machen können, dass Versöhnung unser Paradigma ist, werden wir überhaupt eine Zukunft haben.