Ein Marschbefehl: Franziskus, stell mein Haus wieder her! Nach den Biographen hat ihn Franz von Assisi beim Beten vor dem Kreuz in San Damiano erhalten. Er umschreibt auch die Aufgaben, die auf Papst Franziskus im Vatikan warten. Der Bann ist gebrochen. Ein neu gewählter Papst hat sich nach 800 Jahren zum ersten Mal für den Namen des Armen aus Assisi entschieden. Viele verbinden mit der Namenswahl die Hoffnung, dass dieser Papst in der Kirche wieder Ordnung schafft (vgl. HK, April 2013, 163 ff. und Juni 2013, 271 ff.).
„Vergiss die Armen nicht!“, die Bitte von Kardinal Claudio Hummes aus Brasilien an den neu gewählten und neben ihm sitzenden Jorge Mario Bergoglio markiert den Augenblick, in dem sich die Namenswahl entschieden haben soll. Und in der Tat: Auftritte und Ansprachen von Papst Franziskus in den folgenden Wochen belegen, dass er die Armen nicht vergessen hat.
Er wendet sich auf dem Petersplatz Behinderten zu. Er feiert am Gründonnerstag in der Kapelle des römischen Jugendgefängnisses „Casal del Marmo“ die Abendmahlsmesse und scheut sich nicht, Häftlingen – darunter auch zwei Frauen – die Füße zu waschen. Liturgen, Kirchenrechtler und Traditionalisten raufen sich die Haare; „Bruch des Kirchenrechts“ meldet „Spiegel online“ (am 29. März). Der Papst stellt sich auch hinter die Opfer des sexuellen Missbrauchs und nimmt den Präfekten der Glaubenskongregation, Erzbischof Gerhard Ludwig Müller in die Pflicht: Kinder sollen geschützt, den Opfern geholfen und die Schuldigen bestraft werden.
Franziskus legt sich mit der Mafia an und spricht den Priester Pino Puglisi selig, der 1993 von der sizilianische „Cosa Nostra“ ermordet wurde. Dabei findet der Papst Sätze, die um sein Leben fürchten lassen. Nach der Seligsprechung dieses Priesters darf man hoffen, dass endlich auch der am Altar erschossene Erzbischof Oscar Romero und viele andere Märtyrerinnen und Märtyrer aus der Zeit der Militärdiktaturen zur Ehre der Altäre erhoben werden. Gleichzeitig geißelt der Papst die Ausbeutungsmechanismen der Mafia: „Sie können unsere Brüder nicht zu Sklaven machen“. Er fordert italienische Bischöfe auf, nicht nur Funktionsträger zu sein. „Vorwärts, auf zu neuen Horizonten!“ soll er lateinamerikanischen Ordensleuten zugerufen haben.
Es sind in der Tat wenige Monate nach der Wahl starke Zeichen, die Papst Franziskus gesetzt hat. Er scheint vor keinen Tabus zurückzuschrecken. Das schürt Hoffnung bei den Reformern und Ängste bei den Traditionalisten. Alle diese Aktionen können natürlich mit Franz von Assisi in Verbindung gebracht werden.
Der kategorische Imperativ nach Franz von Assisi
Sie passen auch zu Kriterien, die von einer Berliner Gruppe aus Sozialwissenschaftlern unter dem Titel „Minima Franciscana“ entwickelt wurden. Diese haben sich intensiv mit dem Leben von Franz beschäftigt und suchen den Transfer seines Lebenszeugnisses in die politischen Herausforderungen unserer Zeit: „Den Ausschlag gibt nicht das, was man sagt, den Ausschlag gibt, wie man sich benimmt. Worauf es ankommt, ist, wie man lebt. Eng damit verbunden ist die Einsicht, dass die Umgangsformen mit allem, dem wir begegnen, mit Menschen zuerst, jedoch auch anderen Lebewesen und Dingen der Natur, mehr über unsere Ziele aussagen, als der normativ über uns ausgebreitete gestirnte Himmel. Fast gibt es so etwas wie einen kategorischen Imperativ im Sinne Franz von Assisi“(Peter Kammerer, Ekkehart Krippendorff, Wolf-Dieter Narr, Franz von Assisi – Zeitgenosse für eine andere Republik, Düsseldorf 2008, 151).
Der „normativ über uns ausgebreitete gestirnte Himmel“ stand im Fokus der Enzykliken des emeritierten Papstes Benedikt XVI. Er war ein Mann normativer Ideen und Prinzipien, ein Mann der Lehre. Hier setzt Papst Franziskus andere Akzente. Seine Reden, Handlungen und Gesten signalisieren eine große Nähe zum so genannten Katakombenpakt, den 40 Bischöfe während des Zweiten Vatikanischen Konzils unterzeichnet haben. Am 16. November 1965 versammelten sich diese Bischöfe unter der Führung von Kardinal Giacomo Lercaro und Bischof Helder Camara in den römischen Domitilla-Katakomben und bekannten sich zur Option einer „Kirche der Armen“. Dieses Postulat wurde zum ersten Mal von Papst Johannes XXIII. in einer Rundfunkansprache am 11. September 1962 angesprochen (vgl. HK, Oktober 1962, 43 ff.).
Die Bischöfe einigten sich im Katakombenpakt auf zwölf „Verpflichtungen“. Die zwei ersten lauten: „Wir werden uns bemühen, so zu leben, wie die Menschen um uns her üblicherweise leben, im Hinblick auf Wohnung, Essen, Verkehrsmittel und allem, was sich daraus ergibt (vgl. Mt 5,3; 6,33–34; 8,20).“ Und: „Wir verzichten ein für alle Mal darauf, als Reiche zu erscheinen wie auch wirklich reich zu sein, insbesondere in unserer Amtskleidung (teure Stoffe, auffallende Farben) und in unseren Amtsinsignien, die nicht aus kostbarem Metall – weder Gold noch Silber – gemacht sein dürfen, sondern wahrhaft und wirklich dem Evangelium entsprechen müssen (vgl. Mk 6,9; Mt 10,9; Apg 3,6.).“ Im Prinzip beschreiben alle zwölf Selbstverpflichtungen der „Katakomben-Bischöfe“ genau das, was die Berliner Gruppe den „Minima Franciscana“ zurechnet: Verhalten und Umgangsformen, die sich aus dem Evangelium für die Bischöfe ergeben.
Das Lebensmodell eines Franz und einer Klara kann nicht einfach kopiert werden
Die Nähe von Papst Franziskus zu dieser Erklärung springt in die Augen. In seiner bisherigen Lebensweise als Bischof in Argentinien hat er sich an diesen Verpflichtungen orientiert. Was aber hat der Katakombenpakt mit dem Leben des Franz von Assisi zu tun? Die Beschreibung der Lebensweise der „Minderen Brüder“ in der bullierten Regel beginnt mit den Worten: „Regel und Leben der Minderen Brüder ist dieses, nämlich unseres Herrn Jesus Christus heiliges Evangelium zu beobachten (…)“.
Der Franziskaner und Chronist Thomas von Celano (1190–1260) schildert, wie Franziskus im Evangelium einer Messe hörte, was Jesus seinen Jüngern bei der Aussendung mit auf den Weg gab: „Als er hörte, dass die Jünger Christi nicht Gold oder Silber noch Geld besitzen, weder Beutel noch Reisetasche, noch Brot, noch einen Stab auf den Weg mitnehmen, weder Schuhe noch zwei Röcke tragen dürfen, sondern nur das Reich Gottes und Buße predigen sollen, frohlockte er sogleich im Geiste Gottes und sprach: ‚Das ist’s, was ich will, das ist’s, was ich suche, das verlange ich, aus innerstem Herzen zu tun ‘“.
Es bleibt jedoch bei Franziskus nicht nur beim Kleiderwechsel und einem biblischen Reiseprogramm. Die Brüder reden nicht nur über Arme, sie leben unter den Armen als Arme. Dieses Leben hat Franziskus dem damaligen Papst als Lebensform für seinen Orden und für den Orden der Heiligen Klara von Assisi abgetrotzt, ohne diese Lebensform jedoch zur absoluten Norm für ein Leben nach dem Evangelium zu erheben und sich damit überheblich abzugrenzen von Klerikern und Laien, die das Evangelium anders leben wollen.
Dieses Lebensmodell eines Franz und einer Klara kann nicht einfach kopiert werden. Franz ist sich bewusst, dass dieses Leben in Armut eine freie Entscheidung braucht und immer wieder neu umgesetzt werden muss. Nach Bonaventura soll Franziskus in seiner Sterbestunde demütig im Rückblick auf sein Leben festgehalten haben: „Was ich tun konnte, habe ich getan; möge nun Christus euch lehren, was ihr tun sollt.“ Er macht sich also nicht in spiritueller „Selbstbesoffenheit“ zum Programm, sondern setzt auf die Christusbegegnung, Geisterfahrung und Bekehrung all der Menschen, die in wechselnden historischen Kontexten je neu ihre Entscheidung treffen müssen.
Die mondäne und die verkündende Kirche
Aus der Sicht der Berliner Sozialwissenschaftler handelt es sich bei der Übernahme dieser biblischen Regeln und Verhaltensweisen durch Franz von Assisi und die Katakombenbischöfe um alles andere als um naive und lebensfremde Übertreibungen. Sie sehen darin verwirklicht, was Theodor W. Adorno einmal als „philosophisches Ideal“ beschrieben hat: „Die Rechenschaft über das, was man tut, wird überflüssig, indem man es tut. Franz von Assisi hat weder ein Ideal noch ein Programm propagiert. Eine eigene Theologie oder Christenlehre wird bei ihm deswegen überflüssig, weil er lebt, was er spricht. Seine Sprache hat, seine Sprache ist Leben“ (Kammerer u.a., 154).
Auch diese Aussagen treffen für vieles zu, was man gegenwärtig von Papst Franziskus sieht und hört. Signale, die er mit seinen Gesten und Stellungnahmen setzt, schüren die Hoffnung, dass dieser Papst sich die Option für die Armen als Handlungsmaxime zu eigen gemacht hat und in seinem Pontifikat eine im Evangelium verankerte „verkündende Kirche“ voranbringen will, die er programmatisch bereits als Kardinal im so genannten Vorkonklave angesprochen hat: „Die um sich selbst kreisende Kirche glaubt – ohne dass es ihr bewusst wäre –, dass sie eigenes Licht hat. Sie hört auf, das ‚Geheimnis des Lichts‘ zu sein, und dann gibt sie jenem schrecklichen Übel der ‚geistlichen Mondänität‘ Raum (…). Diese (Kirche) lebt, damit die einen die anderen beweihräuchern. Vereinfacht gesagt: Es gibt zwei Kirchenbilder: die verkündende Kirche, die aus sich selbst hinausgeht, die das ‚Wort Gottes ehrfürchtig vernimmt und getreu verkündet‘; und die mondäne Kirche, die in sich, von sich und für sich lebt“ (Radio Vatikan Blog, 27. März 2013).
Auch Benedikt XVI. hat sich bereits mit der Kirchenkritik des Franz von Assisi auseinandergesetzt: „Das Nein zu bestehenden Formen der Kirche, das also, was man heute prophetischen Protest nennen würde, konnte nicht radikaler sein, als es bei Franziskus war“. Papst Franziskus setzt hier wie die Katakombenbischöfe neue Akzente und personalisiert diese Kritik im Blick auf das eigene Verhalten und Auftreten.
Evangelisierung ohne Gewalt
Die radikale Orientierung am Evangelium und an der Option für die Armen stellen sicher die zentralen Schnittflächen dar, an denen sich die Intentionen des Franz von Assisi und von Papst Franziskus treffen. Wenn man mit Papst Benedikt XVI. von dem „Nein“ des Franz von Assisi „zu bestehenden Formen der Kirche“ und seinem radikalen „prophetischen Protest“ ausgeht, stellt sich natürlich die Frage nach weiteren Impulsen aus der franziskanischen Spiritualität zum Reformwerk, das auf den derzeitigen Papst in der römischen Kurie wartet. Es wird vermutet, dass der emeritierte Papst beim ersten Treffen seinem Nachfolger den 300 Seiten starken Bericht der Untersuchungskommission zur so genannten „Vatileaks“-Affäre übergeben hat, in der es um den Diebstahl von Dokumenten aus den persönlichen Gemächern des Papstes gegangen war.
Die Berichte renommierter Journalisten in international anerkannten Zeitungen zu Sex-, Geld- und Machtgeschichten im Umfeld der römischen Kurie reißen trotz wiederholter Dementis aus dem Vatikan nicht ab. Der neu gewählte Papst übernimmt ein schweres Erbe, zumal es bislang keinem seiner Vorgänger gelungen ist, zentrale Reformen in der Kurie durchzusetzen. Die Probleme haben sich mittlerweile jedoch so zugespitzt, dass sich der Papst positionieren und Konsequenzen aus dem Bericht der Kardinalskommission ziehen muss. Kann er das schaffen?
Anhänger der so genannten kollektiven Wissenssoziologie, wie sie beispielsweise Ludwig Fleck vertritt, bezweifeln radikal die Möglichkeit eines Einzelnen aus kollektiven Strukturen und Systemen auszubrechen (Sylwia Werner und Claus Zittel unter Mitarbeit von Frank Stahnisch [Hg.], Denkstile und Tatsachen. Gesammelte Schriften und Zeugnisse, Berlin 2012): „Ein Mitglied einer Gruppe kann gewöhnlich einfach nicht auf andere Weise denken als seine Umgebung, es kann nicht anders sehen, keine anderen Begriffe und Bilder verwenden und nicht nach anderen Zusammenhängen suchen als die Menschen, mit denen es lebt.“
Wen wundert es da, dass aus der Kurie immer wieder Stimmen zu hören sind, die diese Thesen zu bestätigen scheinen: „Päpste kommen und gehen. Die Kurie bleibt.“ Auch die Entwicklung der Kirche nach dem Zweiten Vatikanum und vor allem die Tatsache, dass in zentralen Passagen des neuen Kirchenrechts das konziliare Reformprogramm nicht weiterentwickelt und umgesetzt wurde, sprechen für die Thesen der Wissenssoziologen. Das Konzil hat bestätigt, dass die Bischöfe als Nachfolger der Apostel keine Verwaltungsbeamte der Kurie sind. Trotz dieser klaren lehramtlichen Aussagen sind wir jedoch heute selbst nach dem Urteil namhafter Kirchenhistoriker und Kirchenrechtler mit einem römischen Zentralismus konfrontiert, den es nicht einmal vor dem Konzil in dieser Form gegeben hat.
Die kollektiven Strukturen, Rollenmuster und Erwartungen, mit denen der neu gewählte Papst in der Kurie konfrontiert ist – dabei geht es nicht nur um päpstliche Kleiderkammern, Fuhrparks und Residenzen – sind nach dem, was bislang aus dem Kommissionsbericht an die Öffentlichkeit gedrungen ist, erdrückend und lähmend. Nicht umsonst bricht in den Medien das Rätseln über die wahren Rücktrittsmotive des emeritierten Papstes Benedikt XVI. nicht ab. Die zentrale Frage lautet damit: Kann ein Einzelner aus kollektiven Strukturen und Systemen aussteigen beziehungsweise sie verändern? Wird es der neu gewählte Papst Franziskus schaffen, die überfällige Reform der Kurie auf den Weg zu bringen?
Franz von Assisi widersetzte sich
dem päpstlichen Kriegsaufruf
Dazu lohnt es sich, den Blick auf das Leben des Franz von Assisi zu werfen, der sich vor 800 Jahren erfolgreich mit den Strukturen und Machtverhältnissen der Kirche auseinandergesetzt hat. Die Zeit, in der Franziskus lebte, war geprägt vom absoluten Machtanspruch des Papstes. Franziskus grenzte sich eindeutig von Rom ab und band die Mission seiner Brüder an ein Tat-Zeugnis, das nicht nur frei von „Zank“ und „Streit“ sein musste, sondern den Glauben und die Freiheit des Anderen respektieren sollte.
Schon in der ersten Ordensregel vom 2. April 1221 setzt sich Franziskus mit den damals praktizierten gewaltbezogenen Formen der Glaubensvermittlung auseinander und entwirft für Brüder, welche die Grenzen der damalig christlich beherrschten Welt hinter sich ließen, um unter Muslimen und Ungläubigen zu leben, eine klare Alternative zur von Rom propagierten Kreuzzug-Theologie: „Die Brüder aber, die hinausziehen, können in zweifacher Weise unter ihnen geistlich wandeln. Eine Art besteht darin, dass sie weder zanken noch streiten, sondern um Gottes Willen jeder menschlichen Kreatur (1 Petr 2,13) untertan sind und bekennen, dass sie Christen sind. Die andere Art ist die, dass sie, wenn sie sehen, dass es dem Herrn gefällt, das Wort Gottes verkünden, damit jene an den allmächtigen Gott glauben, den Vater, den Sohn und Heiligen Geist.“
Franziskus hatte erlebt, wie Papst Innozenz III. in seiner Kreuzzug-Bulle „Quia maior“ 1213 den Propheten Mohammed als „Sohn des Verderbens“ bezeichnet und den Islam mit dem apokalyptischen Tier verglichen hat. Innozenz III. rief in dieser Kreuzzug-Bulle die Gläubigen dazu auf, „das Kreuz auf sich zu nehmen und Jesus nachzufolgen – und zwar in den Kampf. Denn wenn ein König durch seine Feinde aus seinem Reich verbannt werde, wird er nach seiner Rückkehr die treulosen Vasallen verurteilen. Der Papst droht allen den Verlust des Heils an, die dem aus Jerusalem vertriebenen Herrn nicht zur Hilfe kommen und die dem Erlöser in dieser Notlage den Dienst verweigern“ (Niklaus Kuster, Franz und Klara von Assisi. Eine Doppelbiographie, Ostfildern 2011, 83).
Nicht genug damit, dass der päpstliche Kriegsaufruf die Heilige Schrift furchtlos vereinnahmt und missdeutet, indem es Jesu Reich politisch auf Erden ansiedelt und die Nachfolge des gewaltlosen Rabbi in eine militärische Offensive ummünzt, es wurden mit weiteren Maßnahmen alle pastoralen Register gezogen, um die Gläubigen zum Kampf gegen die „Heiden, die in Gottes Erde eingedrungen sind“, zu mobilisieren.
Alle diese Maßnahmen und Appelle prallen an Franz von Assisi ab. Im Gegenteil, als der Folgepapst Honorius III. 1218 die Kreuzritter unter Führung des Kardinallegaten Pelagier Galzoni nach Ägypten entsendet, um Sultan Melek-el-Kamil in seinem Kernland anzugreifen, macht sich auch Franziskus 1219 auf den Weg nach Ägypten. Bei der Festungsstadt Damiette im Nildelta durchquerte er die Fronten der verfeindeten Heere und drang zu Fuß zum Sultan vor, um Frieden zu stiften. Selbst der Kardinallegat konnte ihn von seiner Friedensaktion nicht abbringen. Der Sultan ließ Franziskus und seine Brüder nicht hinrichten, sondern nahm sie gastfreundlich in seinem Lager auf, um mit ihnen zu disputieren.
Bischof Jakob von Vitry berichtet 1220 in seinem Brief aus Damiette, dem Ort der Kämpfe, von dieser Begegnung: „Obwohl er den Sarazenen während mehrerer Tage das Wort Gottes predigte, richtete er nur wenig aus. Doch der Sultan, der König von Ägypten, bat ihn insgeheim, für ihn zum Herrn zu beten, damit er auf göttliche Erleuchtung hin derjenigen Religion anhangen könne, die Gott mehr gefalle“(Dieter Berg und Leonhard Lehmann in Verbindung mit Johannes-Baptist Freyer u. a. [Hg.], Franziskus-Quellen. Die Schriften des heiligen Franziskus, Lebensbeschreibungen, Chroniken und Zeugnisse über ihn und seinen Orden, Kevelaer 2009, Band 2, 1536).
Franziskus erlebte die Eroberung von Damiette durch das Kreuzzugheer mit dem folgenden Massaker der Kreuzzugritter an den Bewohnern der Stadt, ein Massaker, das sich später an den Bewohnern Jerusalems nach dessen Eroberung durch das Heer des Sultans wiederholte; Franziskus hatte mit seiner Friedensinitiative auch beim päpstlichen Generallegaten keinen Erfolg.
Niklaas G. van Doornik verweist in seinem Franziskusbuch (Franz von Assisi, Freiburg 1977) auf die Tatsache, dass erst das Zweite Vatikanische Konzil in der „Erklärung über das Verhältnis der Kirche zu den nichtchristlichen Religionen“, „Nostra aetate“, sich offiziell von diesen Massakern absetzt, denn dort heißt es „Da es jedoch im Lauf der Jahrhunderte zu manchen Zwistigkeiten und Feindschaften zwischen Christen und Muslim kam, ermahnt die Heilige Synode alle, das Vergangene beiseite zu lassen (und) sich aufrichtig um gegenseitiges Verstehen zu bemühen.“ (Nr. 3)
Entfeindung durch Anerkennung des Anderen
Van Doornik vergleicht den Tenor dieser Erklärung mit der Missionstheologie des Franz von Assisi vor nahezu 800 Jahren in der bereits zitierten nicht bullierten Regel und kommt zu folgendem Ergebnis: „Es sind einfache Worte (…). Aber es darf niemandem entgehen, dass diese Worte von einer Missionseinsicht zeugen, aus der jede Form von Paternalismus und Intoleranz verbannt ist und die um Jahrhunderte ihrer Zeit voraus ist. Man findet darin auch nichts von der Härte, mit der selbst ein Ignatius von Loyola oder ein Franz Xaver auf den Islam herabblickten.“
Leider haben sich auch seine Brüder in den kommenden Jahrhunderten in ihrer Begegnung mit anderen Religionen oft weit von der Spiritualität ihres Gründers entfernt und sich in den Dienst einer paternalistischen und gewaltorientierten Mission gestellt.
Franziskus hat sich nicht nur als Friedensstifter in die zentralen politischen Konflikte seiner Zeit eingeschaltet. Genauso wichtig war für ihn die innere „Entfeindung“, wie dies Niklaus Kuster in seiner Franziskus-Biographie beschreibt: die Auseinandersetzung mit den in jedem Menschen wirkenden Mechanismen des Überlebenskampfes, die uns sehr schnell zu materiellen und religiösen Egomanen machen, die nur noch um sich selbst kreisen.
Die Geschichte von der wahren Freude, die Franziskus Bruder Leo erzählt, richtet den Blick auf Konflikte innerhalb der Bruderschaft und macht narrativ deutlich, was im Extremfall Entfeindung im Zusammenleben vom einzelnen Bruder abfordert: „Ich kehre von Perugia zurück und komme in tiefer Nacht hierher, zur Winterzeit, schmutzig, mit gefrorener Kutte und blutenden Schienbeinen und muss in Schmutz, Kälte und Eis lange an der Pforte klopfen, bis ein Bruder kommt, (…) und ich werde stehengelassen mit den Worten: ‚Geh weg! Du bist ein Einfacher und Ungebildeter. Wir sind so zahlreich und so, dass wir dich nicht brauchen‘. (…) Ich sage dir, wenn ich meine Geduld nicht verliere und nicht aggressiv werde, liegt darin wahre Freude, echte Tugend und das Heil der Seele.“
Die Berliner Sozialwissenschaftler sehen in diesen Erzählungen und politischen Aktivitäten „einen kategorischen Imperativ im Sinne Franz von Assisi“ verwirklicht, der intra- und interpersonal zur Entfeindung des Zusammenlebens von Menschen beiträgt: „Nimm jeden anderen Menschen als eine ganze Person ernst, nimm aber andere Lebewesen und Dinge zuallererst wie Lebewesen und Dinge für sich, dann wirst du es schaffen, den anderen, das andere zu lassen, wie er oder es dich lässt. Du wirst dich seiner freuen, wie er sich deiner erfreut. Dann wird es möglich sein der grundlegenden Devise der Moderne entgegenzuarbeiten, die nicht zuletzt die Angstvereinigung staatlichen, kapitalistischen und individuellen Sicherheitsverlangens mit aller Gewalt bewirkt: ‚Fürchte den Nächsten wie dich selbst‘“(Kammerer u. a., 82).
Diese Spiritualität bildete auch die Grundlage für das Friedensgebet, zu dem Papst Johannes Paul II. nach Assisi einlud. Es bleibt zu hoffen, dass diese Friedensgebete in Assisi fortgesetzt werden und den Prozess der Entfeindung zwischen den verschiedenen Religionen fördern.
Franz von Assisi ist es in schwieriger Zeit gelungen, Impulse zur Entfeindung zu geben und Frieden zu stiften. Der Glutkern all seiner Aktivitäten bildete seine tiefe Verankerung in der Gottesbeziehung: „Niemand hat mir gezeigt, wie ich leben soll“, betont Franziskus in seinem Testament und beruft sich dann auf den „Allerhöchsten Herrn“, der ihm den Weg gezeigt hat. Wenn der Papst tatsächlich Stellvertreter Christi sein will, dann wird es ihm auch gelingen, die notwendigen Reformen in der Kurie durchzusetzen.
Udo Friedrich Schmälzle
Der Franziskanerpater und emeritierte Professor Dr. Udo Friedrich Schmälzle (geb. 1943) war bis 2008 Direktor des Seminars für Pastoraltheologie und Religionspädagogik an der Universität Münster. Seitdem ist er Rektoratsbeauftragter für behinderte Studierende und Geschäftsführer der „Franziskanergymnasium Kreuzburg gGmbH“. Forschungsschwerpunkte: Religion und Gewalt, Schulpastoral, Caritasforschung, Sozialraumanalysen, Theologie und Empirie, Fundamentalpastoral.
Verwendete und weiterführende Literatur:
– Dieter Berg und Leonhard Lehmann in Verbindung mit Johannes-Baptist Freyer u. a. (Hg.), Franziskus-Quellen, Die Schriften des heiligen Franziskus, Lebensbeschreibungen, Chroniken und Zeugnisse über ihn und seinen Orden. Im Auftrag der Provinziale der deutschsprachigen Franziskaner, Kapuziner und Minoriten, Kevelaer 2009
– Jan Hoberichts, Feuerwandler. Franziskus und der Islam, Kevelaer 2011
– Niklaus Kuster, Franz und Klara von Assisi. Eine Doppelbiographie, Ostfildern 2011
– Niklaas G.M. van Doornik, Franz von Assisi, 2. Aufl., Freiburg 1977