Sibylle Lewitscharoff erhält den Georg-Büchner-Preis„An ein dünnes Vielleicht geklammert“

Mit Sibylle Lewitscharoff wird in diesem Jahr eine Schriftstellerin mit dem Georg-Büchner-Preis geehrt, deren Oeuvre wie kaum ein anderes der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur explizit religiöse Signaturen aufweist. Sowohl der Erzählkosmos als auch die Erzählform Lewitscharoffs werden maßgeblich vom christlichen Erbe mitbestimmt.

Nein, das ist keine Überraschung: Dass die 1954 in Stuttgart geborene Sibylle Lewitscharoff den mit 50 000 Euro dotierten, im deutschen literarischen Geltungsraum maßgeblichen Georg-Büchner-Preis verdient hat, stand schon lange fest. Nun ist es soweit: Am 26. Oktober wird ihr der diesjährige Preis in Darmstadt überreicht. Und damit wird ein Werk ausgezeichnet, das wie kaum ein anderes Oeuvre der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur explizit religiöse Signaturen aufweist: „Philosophische und religiöse Grundfragen der Existenz entfaltet die Schriftstellerin in einer subtilen Auseinandersetzung mit großen literarischen Traditionen und mit erfrischend unfeierlichem Spielwitz“, heißt es in der Begründung der Jury zur Preisverleihung.

Sibylle Lewitscharoff – Tochter eines bulgarischen, orthodoxen Vaters und einer deutschen, pietistisch-evangelischen Mutter – hat den Literaturbetrieb von Anfang an verblüfft. Lange Zeit war es kaum denkbar, dass man heute so schreiben kann – klug, humorvoll, reich belesen, anspielungsreich, kreativ in der Erfindung neuer Worte und Wortfügungen, in einer Mischung aus Skurrilität und Surrealismus. Das mit dem Magister abgeschlossene Studium der Religionswissenschaft in der Wahlheimat Berlin hat tiefe Spuren hinterlassen, genauso wie mehrmonatige Aufenthalte in Buenos Aires, Rom und Paris oder die langjährige Broterwerbsarbeit als Buchhalterin in einer Werbeagentur. Während das Erstlingswerk „36 Gerechte“ (1994) genauso wenig beachtet wurde wie der märchenhaft-phantastische All-Age-Roman „Der höfliche Harald“ (1999), gelang ihr mit „Pong“ 1998 der literarische Durchbruch, markiert durch die Auszeichnung mit dem Ingeborg-Bachmann-Preis.

Schon hier wurde deutlich, dass sowohl der Erzählkosmos als auch die Erzählform Lewitscharoffs maßgeblich vom christlichen Erbe mitbestimmt sind. „Das Alte und das Neue Testament sind erstrangige Quellstoffe des Erzählens“ (in Albrecht Grözinger, Andreas Mauz und Adrian Portmann [Hg.]: Religion und Gegenwartsliteratur. Spielarten einer Liaison, Würzburg 2009, 182), erklärte sie in einem Gespräch aus dem Jahre 2007.

Gottgläubig? – „ein zögerliches Ja“

Sich selbst befragend, was in ihren Augen die „Grundfragen“ seien, „die beim Erzählen untergründig mitschwingen“, antwortet Lewitscharoff mit einem klassischen Panorama urreligiöser Kernfragen: „Wozu in der Welt, woher gekommen, wohin bestimmt zu gehen, wieso leiden; schuldhaft oder schuldlos, gestraft, ungestraft oder gar erlöst, von wem, weshalb, wofür“ (Der mörderische Kern des Erzählens, Merzig 2010, 16)?

Kaum erstaunlich deshalb, dass ihre Romane voll sind von religiösen Fragestellungen, Anspielungen und Perspektiven, und dass sich ihre Poetikvorlesungen bisweilen lesen wie ironisch gebrochene Einführungen in eine höchst kreative Theologie. Die Theologie einer Gläubigen? Die Autorin – evangelisch getauft, erzogen und „nie aus der Kirche ausgetreten“ („Ich bin ein Ordnungskasper“. Gespräch mit Jutta Person, in: Literaturen Nr. 5/2011, 38) – bleibt eine Antwort nicht schuldig. In ihren theologiegetränkten Frankfurter und Zürcher Poetikvorlesungen – gestellt unter den wagemutigen Titel „Vom Guten, Wahren und Schönen“ – führt sie aus: „Gefragt, ob ich an Gott glaube, käme nur ein zögerliches, in umständlichen Begründungen sich verfangendes Ja heraus“, ergänzt um den Zusatz: „An ein dünnes Vielleicht geklammert, suchen wir verzweifelt nach einem Beschützer unserer Wörter“ (Berlin 2012, 126 f.).

Brücken zu Gott schlagen?

Wie spiegelt sich diese an „ein dünnes Vielleicht“ geklammerte Suche „nach einem Beschützer unserer Wörter“ in den Romanen Sibylle Letwischaroffs? „Pong“ – ungewöhnlich wie der Titel ist auch das ganze Buch (Berlin 1998). Pong ist der Name des Protagonisten, eines liebenswürdigen Eigenbrötlers, vorgestellt als Verrückter. „Einem Verrückten gefällt die Welt, wie sie ist, weil er in ihrer Mitte wohnt“ (7). Fern von jeder normalen Handlung wird geschildert, was Pong in seiner überbordenden Phantasie denkt, wie er fern jeder Normalität das Weltgeschehen wahrnimmt, als beziehe sich alles allein auf ihn. In den Kosmos dieser ver-rückten Gedanken werden wie selbstverständlich religiöse Versatzstücke integriert.

Wie folgt kann ein Morgen geschildert werden, an dem Pong sich vornimmt, sein Leben zu ändern: „Er wird jetzt eine Brücke zu Gott schlagen, was sich im Sturzgold früher Sonnenstrahlen jauchzend bestätigt. Wolken mit schräggekämmtem Haarflor, hinter denen ER sich verbirgt und auf seinen Scheitel schaut, sind in den Himmel gehängt. Schnüre langen von ihm bis dahin. Seine Trostbändel! Aus himmelseingeborenem Stoff, helle flüssige schlenkerige Fragen hinauf-, klare kurze wohlgelehrte Response hinabschreibend. Eine Schule des Glücks und kein Gesudel“ (14 f.).

Angesichts eines sinnlos gewordenen Lebens wähnt sich Pong durch einen apokalyptischen Traumbefehl dazu berufen, „das Land zu entvölkern“ (28). Die Ausführung und erfolgreiche Durchführung könne niemand verhindern, „auch Gott kaum und Gottes Helfer schon gar nicht, es sei denn, ER rührte ihnen persönlich die Flügel“ (29). Doch bevor Pong sich an sein – wie immer geartetes – Werk macht, spricht er „ohne zu wissen, wozu es gut sein könnte, ein kleines Gebet“, ein skurriles Poem:

HERR, wohin sollen wir gehen.

Lös auf den Harngestank des wüsten Einerlei.

Was Metzger ausarbeiten, arbeit ein.

Die kalten Panzerbauer zerleg,

mach ungeschehen, was geschehen, und fall

der toll gewordenen Luft in die Zügel.

Ein verrückter apokalyptischer Bitt-Psalm, der Pong von seinem Vorhaben ablenkt. Stattdessen wendet er sich einer geplanten Leichenrede für die künftig Verstorbenen zu, die „von der Gottesfreundschaft“ (32) handeln soll. Als Pong sich in ein Mädchen verliebt, Evmarie, versucht er sich durch biblische Lektüre Vergewisserung zu verschaffen. Eva und Maria – zwei Namen, zwei Programme, zwei Testamente: wie ist das zusammenzudenken? „Die Zweideutigkeit der Testamente ärgerte diesen Jüngling. Hochfahrend und reich an Menetekeln, betrübt ihn das Alte, ohne dass die zittrige Selbstgewissheit des Neuen ihn freuen könnte.“ Denn „Gott liegt im Streit mit sich selbst. Ob er überhaupt weiß, was er will?“ (89).

Wie also Eva und Maria, wie die beiden Testamente zusammenbringen? Pong hat eine bastlerische Idee: „Was keiner so leicht wagt, hat er gewagt, nämlich den schwarzen Stoff von der Schmalseite der Bundeslade gelöst, aus dem Bauch Drähte herausgewickelt und damit zwei Bücher verdrahtet, durch die der Strom nun gegen vielfache Blockadekraft anschwimmen muss. Welche Bücher? Natürlich ein Neues und ein Altes Testament“ (94). Stromschlag über Stromschlag jagt er durch diese Konstruktion, wieder und wieder werden biblische Geschichten in neue Kraftfelder gestellt: „Judas Ischariot wird im Bollerwagen hereingezogen und von allen bestaunt“ (95).

All die absurden Ideen führen jedoch zu keinem Erfolg. So wie die Liebesmühen um Evmarie, so auch all die Phantasievisionen. Übersättigt von Wahnvorstellungen breitet Pong auf der Schlussseite der Erzählung die Arme aus, kreist durch sein Zimmer, bis er „zum Rand des Daches lief und über das niedere Gitter sprang, mit schallendem Juchhe dem Mond entgegen“ (144). Der verrückte Apokalyptiker Pong setzt seinem Leben selbst ein Ende … – so dachte man. Für September 2013 ist freilich eine Fortsetzung angekündigt, „Pong redivivus“ (Insel-Bücherei, Berlin), in der wir lernen, dass Pong den Sprung vom Dach überlebt hat und sich nun von seinem Krankenhausbett aus neuen eigenwilligen Gedanken über Gott und die Welt hingibt.

Eine Fülle von religösen Motiven

Im 2003 vorgelegten Roman „Montgomery“ greift Lewitscharoff zu einer eher konventionellen Erzählweise, erweist sich aber auch hier als Meisterin ihres Faches. Der zwischen Stuttgart und Rom oszillierende Roman erzählt die letzten Lebenstage eines ungewöhnlichen Filmproduzenten. Auch hier findet sich eine Fülle von religiösen Motiven, ohne dass sie ähnlich prägend würden wie in „Pong“: Verweise auf den Besuch von Kirchen und Messfeiern, auf Prozessionen und liturgische Traditionen in Rom, lange Ausführungen über Pius XII. (Stuttgart 2003, 313 ff.), biblische Verweise auf Kain und Abel, den Dekalog oder auf „Jesus, immerzu Jesus“, der die „kindlichen Albträume“ des evangelisch erzogenen Pro­tagonisten „beherrscht hatte“ (131). Die geschilderten Welten – das pietistische Stuttgart aus der erinnerten Kindheit und Jugend, das katholische Rom der Erzählgegenwart – sind voller religiöser Dimensionen, deshalb werden sie in die Erzählung aufgenommen. Eine zentrale stilbildende Bedeutung erhalten sie hier nicht.

Berichterstattung vom Jenseits

Eine mit „Pong“ vergleichbare Phantasmagorie jenseits von einliniger Deutbarkeit legte Sibylle Lewitscharoff 2006 mit dem Roman „Consummatus“ vor. Der Titel spielt an auf die biblisch vermittelten letzten Worte Jesu am Kreuz – auf Latein „consummatum est“, „es ist vollbracht“ – die mehrfach in den Roman eingebaut werden. Samstag, der 3. April 2004. Der 55-jährige Stuttgarter Gymnasiallehrer für Deutsch und Geschichte, Ralph Zimmermann (wohl eine Anspielung auf den Geburtsnamen des mehrfach eingespielten Bob Dylan, Robert Zimmermann), kehrt – wie so oft samstags – in das dortige Café Rösler ein und nimmt ein alkoholreiches vierstündiges Frühstück zu sich.

Um ihn her, bei ihm: die Schatten seiner Toten, die fortwährend wispern, ihn umschweben, Erinnerungen und Einflüsterungen vornehmen. Tatsächlich, Lewitscharoff wagt in diesem Roman in spielerischer Aufnahme der Orpheus-Sage die Einkehr in das Reich der Seelen der Verstorbenen, die mitten unter uns existieren. Eine bizarr gemischte Gesellschaft tritt auf: Dichterstimmen ertönen (etwa die von Gottfried Benn, Rainer Maria Rilke, August Strindberg), Größen der Popszene des 20. Jahrhunderts verschaffen sich Gehör (wie Andy Warhol, Jim Morrison, Jimi Hendrix), Jesus erscheint, aber auch die Seelen von Personen aus Zimmermanns persönlichen Umfeld, von Freunden, der Mutter, vor allem aber die Seele seiner Geliebten, Johanna, genannt Joey oder Jojo. Frech, raffiniert, witzig mischt die Autorin einen Erinnerungsstrom zusammen, in dem Gedanke und Phantasie, Empirie und Transzendenz in einen gewaltigen Narrentanz eintauchen.

Im Zentrum des Erinnerungsreigens beichtet Zimmermann, wie er aus Versehen die Geliebte Joey vor Jahren überfahren hat – ein Unglück, das er nie überwunden hat. Vor vier Jahren, so berichtet der Ich-Erzähler weiter (wenn es denn ein ‚Erzähler‘ ist), habe er eine Nahtoderfahrung durchlitten, die ihn nun befähigt, anders als andere die Seelen der Toten mitten unter uns zu erkennen. Und mehr: Ihm, dem „Großen Totenohr“ (Consummatus, München 2006, 7), wurde die Rolle auferlegt als „Berichterstatter“ vom Jenseits zu fungieren. Der Auftrag ist eindeutig: „Kehr um und sag, wie’s dort zugeht. In klaren, einfachen Worten“ (70). Was aber tun, wenn man die Worte nicht findet oder niemand sie hören will? Wenn man spürt: „Umso öfter ich ihn benutze, desto mehr missfällt mir der Begriff Jenseits“ (37)?

Nicht verwunderlich, dass ein Roman, der die Grenze von Leben und Tod überwindet, voll ist von religiösen Anspielungen: Da finden sich Verweise auf biblische Gestalten wie Adam, Hiob, Jakob, Josef oder Kain; immer wieder taucht Jesus auf; zahlreiche Bezüge bringen „Gott“ ins Spiel. Diese Dimension ist in der Literaturkritik zwar bemerkt, kaum jedoch tatsächlich gewürdigt worden: in aller spielerischen Verrücktheit liegt mit „Consummatus“ ein zugleich äußerst sprachmächtiger wie tief theologischer Roman vor.

Dabei wird vor allem die bleibende Bedeutung von Religion betont: „An jedes einzelne Wunder habe ich in Kindertagen geglaubt, und es fällt mir kein Grund ein, weshalb ich sie im Erwachsenenalter bespötteln sollte“ (155). Im Gegenteil: „Seit meinen Pubertätsjahren gehörte ich zur so genannten Gottsucherbande, grübelte mir über Gotteserweisen und Gottesproblemen die Stirnhöhle eitrig“ (84). Und das nicht positionslos: „Zu den Pantheisten, den eifrigen Verfechtern der Ökumene, die jeden toleriert, der irgendwann irgendwas für Gott nimmt (…) zählte ich mich nie“ (85). Ein Gottsucher, der aus dem Jenseits zurückgekehrt ist, um davon zu erzählen, ohne es doch angemessen zu können – das ist er, dieser Ralph Zimmermann, „Gottes kreuz und quer rennendes Schlussgeschöpf“ (49), voll von der Erfahrung des „Zermahlenwerdens zwischen dem Mühlstein Gott und dem Mühlstein Teufel“ (64).

Als Mensch voller „Gottesbedürftigkeit“, der „IHN“ häufig „im Munde“ führt (87), wird er aber nicht nur zum Boten des Jenseits, sondern zum Gotteskünder: „Die frohe Botschaft lautet: Es gibt Ihn“ (95). Und wie könne man sich Gott vorstellen? „Geahnt, gewünscht hatte ich es immer, daran gezweifelt auch immer. Er ist die große schwarze Null. Seine Majestät sind enthalten in jeder wohlgefassten Rechnung. Er wird spürbar in der Stille einer großen Bibliothek. Zusammenfall Seines Reiches mit dem Universum und einer Winzigkeit darüber hinaus. Durchs Leben streicht Er als Hinwelle, das Totenreich durcheilt Er als Rückwelle. Er ist nicht der klassische Repräsentant eines vollkommenen Menschen. Er ist der Verweigerer, der uns Seine Nähe vorenthält. Er ist diskret. Zwischen An- und Abwesenheit schaltet Er schneller hin und her, als wir es in Lichtgeschwindigkeit messen könnten. Er ist die maximale Eleganz. Wenn Er blinzelt, hagelt es einen Scherz, der von uns Menschen schlecht verkraftet wird“ (95). Was für ein Mosaikstein literarischer Gottesphantasie!

Tatsächlich entwickelt der Erzähler so eine ganz eigene, teilweise von kabbalistischen Lehren inspirierte Gottesvorstellung und heilsgeschichtliche Schau, von der er durchaus weiß, dass sie „theologisch nicht korrekt“ (204) ist, aber das schert ihn wenig: „Alle werden Gott, genauer gesagt alles, was tot ist“. Konsequenz: „Gott wächst sekündlich. Einzigartiges Wesen, das sich während der Schöpfung zurückzog, in die Anonymität sank und damit allem, was lebte und starb, erlaubte, allmählich zu Ihm zu werden und an einem erneuten Gotteswachstum teilzuhaben. Dazwischen machte er sich noch bemerkbar und schickte Seinen Sohn – zu Konkurrenzzwecken, als Mittler und Mahner auf der Schädelstätte, als Richter und Erlöser im Himmel“ (204).

Und was genau bringen die Toten ein, um zu Gottes Wachsen beitragen zu können? „Drei Eigenschaften bestimmt: Einsamkeit, umfassende Wirksamkeit, verstörende Unwirksamkeit“ (205). Und er selbst, der langsam mehr und mehr betrunkene Erzähler, umgeben von seinen Seelenschatten? „Ich bin kein Zaddik, kein heiliger Narr, der Gott herausfordert, Ihm etwas abhandelt oder wenigstens eine Antwort von Ihm erzwingt“, sondern „nur eine flaue Christenseele, die alles schluckt und gegen alle Erfahrung hofft und hofft und hofft“ (96).

Gegen Ende des Romans verlässt Ralph Zimmermann das Café und schlendert durch die schneeflockenumspielte Stuttgarter Altstadt. Im Blick auf das kommende Osterfest kreisen seine Gedanken um den Gott, der die Auferstehung der Toten ermöglichen soll. „Die Selbsterschließung Gottes in Ich bin der ich bin ist der schönste aller Kurzmonologe, in endloser Wortfolge zieht er sich durchs Universum“, selbst wenn zuzugeben sei, dass „auch die Triangel aus Vater, Sohn und Geist“ (220) ihre Reize habe. Er selbst jedoch werde durch „das Michsehrwundern definiert“ (221).

Die Schlussworte bleiben den Stimmen der Seelen überlassen, die – gedruckt zwischen Symbole fallender Flocken – den Lutherspruch setzen: „Glaube ist eine verwegene Zuversicht auf Gottes Gnade. Solche Zuversicht macht fröhlich, trotzig und lüstig gegen Gott und alle Creaturn“ (232). Den erzählerischen Endpunkt setzt jedoch eine zuvor nur in den zwei Anfangsseiten gehörte Erzählerstimme, die berichtet, wie Ralph Zimmermann sich in einer Weinstube mit einem Freund trifft. „Die Geschichte vom Mann, der seine Toten immer um sich hat, endet fröhlich“ (236). Wo „Pong“ bei vielen Lesenden einen bitteren Nachgeschmack hinterlässt, endet „Consummatus“ in verwundert-verwirrtem Optimismus.

Die Grenzen von Diesseits und Jenseits überwunden

Lewitscharoff legt hier so etwas vor wie eine „Wiedereinführung christlichen Gedankenguts in die Pop-Mythen des 20. Jahrhunderts“ (so Beatrix Langner in der Zeitschrift „Literaturen“ Nr. 4/2006). Mit Leichtigkeit, Sprachwitz und surrealistischem Ernst pendelt sie zwischen Diesseits und Jenseits in eine eigene Wirklichkeitsebene, die sich aller Festlegung entzieht. Einen derart gottgetränkten, jenseitssehnsüchtigen Roman hat die deutschsprachige Literatur lange nicht gesehen. Es ist tatsächlich, so der Georg-Büchner-Preisträger des Jahres 2007, Martin Mosebach, in einem von höchstem Respekt bestimmten Porträt der Dichterin in der „Zeit“, eines der „kühnsten Bücher der neueren Literatur“.

 „Apostoloff“, der Folgeroman (Frankfurt 2009), wurde 2009 mit dem Preis der Leipziger Buchmesse ausgezeichnet. Mit rabenschwarz-bissigem Humor erzählt Lewitscharoff hier in frei-fiktionaler Weise von einer Reise in das Heimatland des bulgarischen Vaters anlässlich einer Beerdigung. Auch in diesen Roman werden immer wieder religiöse Elemente eingespeist, seien es biblische Anspielungen, Verweise auf die Missionierung Bulgariens oder Reflexionen über die dortige orthodoxe Kirche, deren präzise beschriebenen Räume Einladungen an den Menschen sind, „sich zu verwandeln“ (65).

Transformation des magischen Realismus

Sibylle Lewitscharoffs bis dato meistdiskutierter Roman, „Blumenberg“ (Berlin 2011), kreist um den Philosophen Hans Blumenberg (1920–1996), ohne biographische oder gar werkgeschichtliche Intentionen zu verfolgen. Vielfach ausgezeichnet, nimmt er das von dem Philosophen selbst verwendete, stark biblisch besetzte Motiv eines Löwen auf, den vermeintlich nur er allein sehen kann, und der dennoch real ist – spätestens bestätigt durch die alte Nonne Käthe Mehliss, die den Löwen ebenfalls erkennt.

Was das sei, dieser für fast alle unsichtbare Löwe, darüber lässt uns der fiktionale Charakter Blumenberg nicht im Zweifel: „Der Löwe war am Ende ein so freies und unbedingtes Wesen, dass ihm das Recht, zu sein, was er ausdrückte zu sein, nicht streitig gemacht werden konnte. (…) Der große Einfädler und Knotenverwirrer hatte – wenn es IHN denn gab, ewig und unvernommen, aber im Geheimen wirksam“ – in ihm „einen ganz besonderen Prachtknoten geschürzt“ (122 f.). Blumenberg sieht in dem Löwen den Einbruch des Absoluten in unsere Erfahrungswelt, zugleich wissen er und seine Schöpferin aber auch: „Der Einbruch des Absoluten war nicht mitteilbar“ (146).

Wie eine Transformation des lateinamerikanischen „magischen Realismus“ liest sich der Roman, der letztlich erneut den Umgang mit Tod und Sterben thematisiert. Am Ende finden sich der Professor, der Löwe und vier seiner früh verstorbenen Studierenden, deren Lebensgeschichten miterzählt werden, im „Inneren der Höhle“ (203), in einer Art Zwischenreich zwischen Tod und Leben. In „eigentümlicher Schweblage zwischen Heilsanteil und Schuld“ (213) existieren sie noch rückgebunden an ihre irdische Existenz aber auf dem Weg in ein Jenseits, in „eine andere Welt“ (216), die rätselhaft bleibt. Ein weiteres Mal hat Lewitscharoff mit „Blumenberg“ einen Roman vorgelegt, der die Grenzen von Diesseits und Jenseits hinter sich lässt, der spielerisch und ernst, witzig und anspielungsreich die deutsche Gegenwartsliteratur auf ein Niveau hebt, das neben ihr nur wenige erreichen.

Auf neue Schreibprojekte Sibylle Lewitscharoffs kann man gespannt sein. Die Autorin hat bereits verraten, dass es sich bei ihrem nächsten Werk um einen Dante-Roman handeln wird. Ausgehend von einem in Rom abgehaltenen Kongress zu Werk und Person des Dichters der „Göttlichen Komödie“ werde sie über ein modernes Pfingstwunder schreiben, bei dem es unter anderem zu einem spektakulären Auftritt sprechender Tiere kommen werde, verriet sie Anfang Juni bei der ersten Vorlesung anlässlich der aktuell von ihr wahrgenommenen Grimm-Professur an der Universität Kassel.

Kulturell bedeutsam: Zum dritten Mal nacheinander zeichnet die Jury des renommiertesten deutschsprachigen Literaturpreises eine Autorin aus, deren Werk explizit das Religiöse mit thematisiert. Nach dem mit seinem konfessionellen Erbe ringenden evangelischen Pfarrerssohn Friedrich Christian Delius (2011) und der postmodern mit ihrer konfessionellen Prägung spielenden Katholikin Felicitas Hoppe (2012; vgl. HK, Oktober 2012, 506 ff.) nun die von Gott und der Bibel besessene schwäbisch-protestantische Sprachmagierin Sibylle Lewitscharoff. Die beste Wahl seit langem: Ihr Werk wird die Gegenwart überdauern.

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