HK: Herr Professor Essen, zu dem Erbe, das Benedikt XVI. der Kirche hinterlassen hat, gehört die Sorge um die Fundamente des demokratischen Rechtsstaates, wie sie nicht zuletzt in seiner Rede vor dem Deutschen Bundestag im September 2011 zum Ausdruck kam. Aber welche Rolle kann die Religion, kann speziell das Christentum in diesem Zusammenhang überhaupt spielen?
Essen: Sie können nicht nur eine ganz zentrale Rolle spielen, sondern müssen das auch. Und der Staat wiederum ist auf religiöse Sinnressourcen angewiesen. Aber all das steht unter einem Vorbehalt, der auch in der Bundestagsrede des deutschen Papstes nicht hinreichend bedacht ist. Dort wird die klassische katholische Grundfigur entfaltet, wonach sich der weltanschaulich neutrale, säkulare Staat nicht ohne seine religiösen Wurzeln verstehen lässt, die aus dem christlichen Erbe stammen. Aber dabei wird bereits übersehen, dass die faktische Durchsetzung der Menschenrechte wie der staatlichen Säkularität gegen den erbitterten Widerstand insbesondere der katholischen Kirche vonstatten ging. Die Erbschaftsverhältnisse sind alles andere als harmonisch! Doch wichtiger als diese historische Frage dürfte eine andere Herausforderung sein, die den Blick freigibt auf die begründungstheoretischen Fundamente des modernen Verfassungsstaates. Die verfassungsrechtliche Entflechtung von Religion und Staat zielt auf den Geltungssinn, die Verfassungsordnung und mit ihr Recht und Gesetz autonom zu begründen.
HK: Nun verweist gerade das deutsche Grundgesetz deutlich auf ein religiöses Fundament. Es spricht in der Präambel immerhin von der Verantwortung „vor Gott und den Menschen“ und erklärt die Menschenwürde für unantastbar. Kommt das katholischen Positionen im Staatsverständnis nicht doch verhältnismäßig weit entgegen?
Essen: Ja und Nein. Es gibt in der Tat die so genannte „nominatio Dei“ der Präambel; gleichzeitig sind durch die Inkorporation der einschlägigen Artikel der Weimarer Verfassung in das Grundgesetz etwa die Kirchen als Körperschaften des öffentlichen Rechts anerkannt. Der Religionsunterricht wird als ordentliches Lehrfach an staatlichen Schulen garantiert und der Staat unterhält theologische Fakultäten. Doch entscheidend ist etwas anderes! Die Einführung des Autonomieprinzips in den verfassungsrechtlichen Begründungsdiskurs dient in geltungslogischer Hinsicht dem Zweck, die Frage nach der Legitimität von staatlicher Herrschaft und Rechtsetzung von religiösen Traditionszusammenhängen abzukoppeln. Ein Blick in die Entstehungszeit des Grundgesetzes kann helfen, das eigentümliche Verhältnis des säkularen Verfassungsstaates zur Religion zu verdeutlichen. Nicht nur Abgeordnete von CSU und Zentrum im Parlamentarischen Rat, sondern auch die deutschen Bischöfe glaubten seinerzeit, das Grundgesetz mit der Begründung ablehnen zu müssen, es garantiere keinen christlichen Staat.
HK: Und woher rührten letztlich die damaligen Bedenken der Bischöfe gegen das Grundgesetz?
Essen: Sie haben klar erkannt, dass das Grundgesetz, aufruhend auf dem Prinzip der Volkssouveränität und legitimatorisch begründet in den Grundrechtsartikeln, eine republikanische Verfassung in der Tradition der Französischen Revolution ist, mit den damals herrschenden katholischen Vorstellungen über Staat und Gesellschaft nicht vereinbar war. Dieser Widerspruch aber wurde in den fünfziger Jahren nicht aufgedeckt und spielte kaum eine Rolle. Weil die kulturelle Landschaft seinerzeit religiös homogen war, konnten nahezu alle Fragen, die uns etwa seit dem Kruzifixurteil von 1995 umtreiben, zumindest faktisch überdeckt werden; die epistemischen Umbrüche, die das Grundgesetz im Hinblick auf das Verhältnis von Staat und Kirche prägen, traten kaum ins allgemeinpolitische Bewusstsein.
HK: Aus der Bundestagsrede Benedikts XVI. wie aus anderen aktuellen kirchlichen Äußerungen zu Fragen des Staatsverständnisses spricht erkennbar die Besorgnis, die autonom begründeten Grundwerte des demokratischen Rechtsstaats seien nicht stabil genug, um das Gemeinwesen auf Dauer zu tragen. Ist diese Sorge von der Hand zu weisen?
Essen: Zunächst einmal hilft hier der nüchtern realistische Hinweis, dass keine Institution davor gefeit ist, die sie orientierenden Normen und Werte aus dem Blick zu verlieren. Die entscheidende Frage ist freilich nicht, ob man sich an Recht und Gesetz hält. Vielmehr steht dahinter das grundsätzliche Problem, das Ernst-Wolfgang Böckenförde klassisch formuliert hat: Woraus lebt der moderne Staat, wenn er die Voraussetzungen, auf die er angewiesen ist, nicht selbst verbürgen kann? Aber die Auskunft, der säkulare Staat würde „in der Luft hängen“, weil sich seine Legitimität, begründungslogisch betrachtet, nicht aus katholisch eingehegten Naturrechtsquellen speist, sondern aus den Quellen einer profanen Vernunftmoral, ist kurzschlüssig und verfehlt obendrein das Thema, um das es geht.
HK: Das christliche Fundament wird andererseits für unverzichtbar erklärt, weil es verhindern soll, dass sich der Staat als Selbstzweck installiert und nichts Höheres über sich anerkennt. Inwieweit braucht der Staat wirklich die Offenheit für das Transzendente, um sich nicht absolut zu setzen?
Essen: Wenn sich der Staat des Grundgesetzes an seine Verfassung hält, kann er sich gar nicht verabsolutieren. Das Grundgesetz beantwortet die Frage nach der Legitimität staatlicher Herrschaft und Rechtsetzung durch die Bindung der verfassungsgebenden Gewalt des Volkes an einen Geltungsgrund, der der Volkssouveränität selbst schlechthin entzogen ist; die in Art. 1 bis 19 fixierten Grundrechte fungieren als vor-rechtliches Fundament der rechtsstaatlichen Ordnung. Der Staat des Grundgesetzes lässt also die prekäre Frage nach dem Recht des in ihm gesprochenen Rechts ausdrücklich nicht unbeantwortet! Es wäre also ganz und gar falsch, zu unterstellen, dieser Staat hänge in der Luft.
HK: Aber um die Auslegung einzelner Grundrechte unserer Verfassung wird immer wieder gestritten, sie werden als Antwort auf aktuelle Herausforderungen umformuliert oder ergänzt, sie werden durch die Rechtsprechung jeweils ausgelegt. Besteht nicht in diesem Prozess die Gefahr der Aushöhlung von Grundrechten auf Kosten der unverzichtbaren ethischen Fundamente des Gemeinwesens?
Essen: Die Legalität zehrt immer und unvermeidlich von der Legitimität. Mit anderen Worten: Gesellschaftliche Prozesse führen faktisch dazu, dass Rechtstraditionen irgendwann nicht weitergeführt werden. Der normative Haushalt einer Gesellschaft verändert sich, wie sich auch bei sehr heiklen Themen wie dem der Familie zeigt. Und das Recht will ja keine Wahrheit verkünden, sondern es will eine Ordnung der Freiheit ermöglichen und schützen. Gleichzeitig hat Deutschland im Unterschied zu anderen Staaten ein sehr starkes Bundesverfassungsgericht, das in den religions- und verfassungspolitischen Fragen, die in den letzten zwanzig Jahren zu lösen waren, durchgängig eine bestimmte Hermeneutik verwendet hat: Dazu gehören der Letztverbindlichkeitsanspruch der Grundrechte, eine freiheitsorientierte Grundrechtstheorie und die Lösung aller religionsrelevanten Konflikte in der Ausbalancierung der unverbrüchlichen Menschenrechte Religions- und Gewissensfreiheit auf der Grundlage der Trennung von Staat und Kirche.
„Wir sind religionspolitisch in eine neue Phase eingetreten“
HK: Steht nicht das Bemühen, Rechtsgüter auszubalancieren, heute vor weit schwierigeren Herausforderungen als zu Zeiten, in denen das gesellschaftliche Wertefundament weitgehend unbestritten war?
Essen: Wir sind jedenfalls religionspolitisch in eine neue Phase eingetreten. Unter den Bedingungen fortschreitender Pluralisierung der Gesellschaft muss die infragestehende Balance jetzt gewissermaßen pluralismustauglich erfolgen. Das hat aber nichts damit zu tun, dass wir die falsche Verfassung hätten! Die Frage besteht vielmehr darin, wie wir mit dieser Verfassung und ihren klugen Hermeneutiken regulierend tätig werden können, ohne dabei die Freiheitlichkeit dieser Gesellschaft aufs Spiel zu setzen.
HK: Hieße das auch, dass im Rahmen unserer Verfassung und ihrer bisherigen Auslegung so etwas wie ein strikter Laizismus im Umgang mit den Religionsgemeinschaften gar nicht möglich wäre? Das Stichwort Laizismus taucht ja regelmäßig in religionspolitischen Debatten auf und die entsprechende Gefahr wird zumindest nicht selten an die Wand gemalt …
Essen: Es könnte sich durchaus eine Entwicklung hin zu einer fortschreitenden Säkularisierung ergeben, als deren Folge die Religionen in der Sphäre gesellschaftlicher Öffentlichkeit faktisch keine Rolle mehr spielen. So etwas lässt sich durch kein Gericht dieser Welt aufhalten. Davon müssen wir jedoch, so meine ich, die Attitüde des Laizismus deutlich unterscheiden. Er nämlich steht in einem frivolen Widerspruch zu der Eigentümlichkeit eines religionsneutralen Staates. Ein solcher Staat hat zwar selbst keine Religion. Seine Aufgabe besteht darin, Religionsfreiheit zu ermöglichen und zu schützen, die wiederum positiv oder negativ praktiziert werden kann; es steht einem jeden Menschen frei, mit oder ohne Religion leben zu wollen. Es ist jedoch ein ideologisches Missverständnis, aus der Tatsache, dass wir einen religionsneutralen Staat haben, politisch einzufordern, dieser habe dafür zu sorgen, dass wir in einer religionsfreien Gesellschaft leben, die keine öffentliche Präsenz von Religion erlaubt. Aus dem Verfassungsgebot, Religionen strikt gleich zu behandeln, folgt keineswegs zwingend, christliche Symbole etwa aus Schulen zu verbannen. Aus der staatlichen Neutralitätspflicht ließe sich auch die Möglichkeit ableiten, für die Vielgestaltigkeit religiöser Symbolwelten Sorge zu tragen.
HK: Gerade an der öffentlichen Präsenz von Religion entzünden sich immer wieder Konflikte. Wie ist damit umzugehen?
Essen: Es ist festzuhalten, dass ein religionsfreier Raum, also beispielsweise ohne Bergkreuze, Martinsumzüge und so weiter, faktisch dazu führen würde, dass nur noch der säkulare, laizistische Zeitgenosse sich in der Symbolwelt unserer Gesellschaft wiedererkennen könnte, während religiöse Menschen notorisch benachteiligt wären, weil sie diese Symbolwelt gar nicht mehr als die ihre wahrnehmen können. Daran zeigt sich der verfassungspolitische Fehlschluss des Laizismus. Er hat ein notorisch gestörtes Verhältnis zur Religionsfreiheit!
HK: Verteidiger der Präsenz von Religion gegen laizistische Tendenzen verweisen warnend auf die europäische Entwicklung. Inwiefern ist zu erwarten, dass sich auf europäischer Ebene der Laizismus stärker als Norm durchsetzt?
Essen: Es gibt in Europa sehr unterschiedliche Verfassungstraditionen, von Frankreich mit seinem aus historischen Gründen ausgeprägten Laizismus über die Niederlande, die in Sachen Religion und Staat eher pragmatisch vorgehen, bis hin zu staatskirchlichen Systemen. Mit Bulgarien und Rumänien gehören seit 2007 zwei Länder neu zur Europäischen Union, in denen die orthodoxen Kirchen kulturell prägend sind. Diese Kirchen haben, zurückhaltend formuliert, erhebliche Schwierigkeiten, sich auf Wertvorstellungen liberal-rechtsstaatlicher Demokratien einzulassen. Die Verfassungslage in Europa ist, mit anderen Worten, so heterogen, dass noch keineswegs ausgemacht ist, wo die europäische Reise religionspolitisch hingeht. Weil die einzelnen Modelle zur kulturellen Identität der jeweiligen Länder gehören, wird es meines Erachtens kaum zu einer verfassungsrechtlichen Homogenisierung kommen. Die gemeinsame europäische Basis kann nur darin bestehen, dass die Prinzipien von Religionsfreiheit und staatlicher Religionsneutralität als rechtlicher Regulierungsrahmen konsensfähig sein müssen, um die öffentliche Präsenz von Religionen in Europa zu schützen und um Religionskonflikte friedlich zu regeln.
HK: Es ist ein nicht nur deutsches, sondern auch anderswo in Europa zu beobachtendes Grundproblem für das Verhältnis von Religion und staatlicher Ordnung, dass die großen christlichen Kirchen und ihre Traditionsbestände immer stärker erodieren. Gefährdet diese Entwicklung nicht tendenziell die Rolle der Kirchen als Partner des religionsneutralen, aber gleichzeitig religionsfreundlichen Staates?
Essen: Der Status der Kirchen als Körperschaften des öffentlichen Rechts ist ein Konstrukt, das davon lebt, dass es von innen her ausgefüllt wird. Dazu sind die Kirchen angesichts ihrer internen Probleme offensichtlich nur noch begrenzt in der Lage. Wenn die Entwicklung so weitergeht, wird sich eines Tages die Frage stellen, inwieweit sich das insgesamt sehr gelungene Modell der „hinkenden“ Trennung von Staat und Kirche unter veränderten religionssoziologischen Rahmenbedingungen noch aufrechterhalten lässt. Man kann nur hoffen, dass in den zukünftigen gesellschaftlichen Debatten, die uns ins Haus stehen, die im Hintergrund stehende Frage ernsthaft erörtert wird: Warum bedürfen der profane Staat und doch wohl auch eine säkulare Gesellschaft religiöser Sinnressourcen? Und auf welchen institutionellen Wegen können diese in die Zivilgesellschaft hinein so vermittelt werden, dass sie dort zum kulturellen Identitätsangebot werden?
„Die katholische Kirche ist neuzeitlicher geworden, als es ihr lieb sein dürfte“
HK: Das alles setzt natürlich voraus, dass die Kirchen als Kirchen sich ihres öffentlichen Auftrags bewusst bleiben und möglichst viele Christen diesen Auftrag mitzutragen bereit sind. Hier sind zumindest Zweifel angebracht, weil es doch unübersehbar Tendenzen zu einem individualisierten Privatchristentum gibt …
Essen: Zum einen hat das damit zu tun, dass, um bei ihr zu bleiben, die katholische Kirche, wenn Sie so wollen, neuzeitlicher geworden ist, als es ihr lieb sein dürfte. Sie hat nämlich die Privatisierung von Religion auf eine Weise verinnerlicht, dass unerwünschte Nebenwirkungen eingetreten sind. An dieser Stelle hat die Freiburger Rede von Papst Benedikt einen meines Erachtens falschen Zungenschlag in die innerkatholische Debatte hineingetragen. Wie schützt sich die kirchliche Rollenprosa der Entweltlichung davor, als Aufruf zur „Weltverneinung“ missverstanden zu werden? Der latent antimoderne Gestus dieser Haltung blockiert andererseits das ernsthafte Nachdenken darüber, wie sich die Kirche in einer funktional ausdifferenzierten, durch Individualisierung und Pluralisierung gekennzeichneten Gesellschaft institutionell verorten kann. Wie immer, wenn die vertraute Identität unter Druck gerät, beschäftigt man sich stattdessen vor allem mit sich selbst, was zur Selbstgettoisierung als „kleine Herde“ führen kann. Das hat zur Folge, dass in der katholischen Kirche inzwischen ein politisches Bewusstsein nur noch unzureichend ausgebildet ist. Die Kirche steht immer ratloser vor der Frage, mit welchen Handlungslogiken sie in der Zivilgesellschaft präsent sein kann und für ihr Sinnangebot einstehen soll. Dazu kommt, dass durch die kirchlichen Erosionsprozesse ein zunehmender „brain drain“ entsteht, das Reservoir für Eliten und Führungskräfte immer stärker zusammenschrumpft.
HK: Was bedeutet das dann konkret für das Leben der Kirche und für ihren öffentlichen Auftrag?
Essen: Es wird spannend werden, wo die Kirche in Zukunft ihre Bischöfe noch herholen soll, wo ihre Theologinnen und Theologen, wo ihre Pfarrer und Pastoralreferentinnen. Wenn das sich selbst abschließende Milieu so wenig kulturell anschlussfähig ist, gibt es auch immer weniger Persönlichkeiten in Theologie und Kirche, die noch einigermaßen stilsicher in der Öffentlichkeit auftreten können.
HK: Als wie stabil ist angesichts der beschriebenen Entwicklungen dann die Bereitschaft von Staat und Öffentlichkeit einzuschätzen, die Kirchen als Wächter des Gemeinwohls überhaupt noch in Rechnung zu stellen und sich von ihnen gegebenenfalls auch etwas sagen zu lassen?
Essen: Ihre Frage hängt mit der vorigen eng zusammen. Es ergäbe ein vollkommen falsches Bild, wollte man aus dem Medienecho, das die innerkirchlichen Skandale der letzten Jahre ausgelöst haben, unvermittelt Rückschlüsse ziehen auf die Relevanz von Religion in unserer Gesellschaft. Die Formen religiöser Kommunikation haben sich dahingehend verändert, dass die Bedeutung einer institutionellen und mithin kirchlichen Vermittlung von Glauben immer weniger plausibel erscheint. Dass die Öffentlichkeitsarbeit der Deutschen Bischofskonferenz wie des Zentralkomitees der deutschen Katholiken vielfach unterhalb der Wahrnehmungsschwelle agiert, dürfte mit der allgemeinen De-Legitimation von Institutionen, die mit dem Anspruch auftreten, Überzeugungsgemeinschaften zu sein, zumindest teilweise erklärt werden. Es scheint mir, auch ekklesiologisch, eine vollkommen offene Frage zu sein, mit welcher Sozialgestalt die Kirche in Zukunft ihrer gesellschaftspolitischen Sendung öffentlichen und das heißt immer auch: institutionellen Ausdruck verleihen kann. Ein Weiteres kommt hinzu! Eine der zentralen Herausforderungen besteht meines Erachtens darin, angemessene Wege zu finden, wie sich das Verhältnis von Religion, Öffentlichkeit und Staat in einer religionspluralen Gesellschaft neu bestimmen ließe. So dürfte zum einen der Schritt vom „Staatskirchenrecht“, das Teil einer mehr oder weniger homogenen religiösen Landschaft war, zum „Religionsverfassungsrecht“, das auf den Religionspluralismus der Gegenwart zu reagieren hätte, unvermeidlich sein. Zum anderen stellt sich die Grundsatzfrage, wie der religionsneutrale Staat in einem zunehmend religionspluralen Feld agieren kann. Er hat, will er eine Ordnung der Freiheit sein, keine andere Möglichkeit, als das religiöse Bewusstsein in seinen vielfältigen Gestalten zu ermöglichen und zu schützen. Darüber hinaus wird er eine Balance finden müssen, um Säkularität und Religiosität gleichermaßen zu ihrem Recht zu verhelfen. Richtig ist aber auch, dass dem staatlichen Neutralitätsgebot in einer religionspluralistischen Gesellschaft eine wachsende Bedeutung zukommen wird.
HK: Als neuer Akteur auf der religiösen Bühne hat sich der Islam in Deutschland wie in anderen europäischen Ländern etabliert. Es wird vielfach behauptet, dieser Islam könne grundsätzlich einen religionsneutralen Staat nicht akzeptieren. Aber gleichzeitig führt kein Weg an seiner Integration in den demokratisch-freiheitlichen Rechtsstaat vorbei. Wie soll das klappen?
Essen: Zum einen wird die innerislamische Diskussion von außen verzerrt wahrgenommen, weil vor allem die Extremisten im Blick sind. Man stelle sich nur einmal vor, die katholische Kirche würde ausschließlich durch den Zerrspiegel der Piusbrüder beurteilt! Entsprechend kommen sich liberale Muslime vor, die ernsthaft an unseren religionspolitischen Diskursen interessiert sind. Auch verdrängen wir gerne, dass es in der Vielfalt der Christentümer weltweit durchaus Strömungen gibt, in denen ein antimodernistisches Ressentiment gepflegt wird; denken Sie an fundamentalistische Gruppierungen in so manchen protestantischen Freikirchen oder an Teile der osteuropäischen Orthodoxie. Lehrreich dürfte im Übrigen der selbstkritische Blick auf die Entwicklung der katholischen Kirche für unseren Umgang mit dem Islam sein.
„Der Staat darf sich nicht in den Ideologiehaushalt der einzelnen Religionen einmischen“
HK: An welche Stationen dieser Entwicklung denken Sie in diesem Zusammenhang besonders?
Essen: Durch das 1949 verabschiedete Grundgesetz wurde die katholische Kirche als Körperschaft des öffentlichen Rechts staatlich anerkannt. Es dauerte jedoch bis 1965, dass durch das Zweite Vatikanische Konzil die katholische Kirche erstmals in ihrer offiziellen Lehre die Möglichkeit geschaffen hat, die liberalen Grundrechte und den modernen säkularen, religionsneutralen Staat anzuerkennen. Mit anderen Worten: Als die katholische Kirche 1949 grundgesetzlich anerkannt wurde, stand sie mit ihrer Lehre noch gar nicht auf dem Boden dieser Verfassung! Nur durch eine ungeheure nachholende Lernbereitschaft hat es unsere Kirche geschafft, in einer Relecture der Tradition sich diese veränderte Position im Verständnis des Staates zu eigen zu machen. Das Grundproblem des heutigen Islam besteht darin, dass er mehr oder weniger vor derselben Herausforderung steht; man könnte in diesem Zusammenhang von Prozessen einer nachholenden Selbstmodernisierung sprechen.
HK: Und kann er in absehbarer Zeit so damit zu Rande kommen, dass er mit dem säkularen Staat theoretisch wie praktisch kompatibel wird?
Essen: Nehmen Sie zum Vergleich nochmals die katholische Kirche. Sie rang mit dem Problem des säkularen Staates von Pius VI., der 1791 die französische Erklärung der Menschenrechte massiv verurteilte, bis zum Konzilsdokument „Dignitatis humanae“ aus dem Jahre 1965, also genau 174 Jahre. Aber – und das ist das entscheidende Drama im Fall des Islam – unsere Zeit ist von einer solchen Schnelligkeit der Umbrüche gekennzeichnet und kennt krisenhafte Eskalationen ungeheuren Ausmaßes, dass wir Religionen angesichts der zugespitzten politisch-kulturellen Situation nur schwerlich zweihundert Jahre für Lernprozesse im Umgang mit ihrer Tradition zubilligen können. Die beschleunigte Moderne räumt dem Islam sozusagen keine Zeit ein. Allerdings gibt es ja durchaus Stimmen im Islam, die für ihre liberalen Positionen Traditionslinien reklamieren können, die zwar vielleicht nicht die dominanten sind. Aber vergessen wir nicht, dass die amerikanischen Bischöfe mit ihren Auffassungen über Religionsfreiheit und Menschenrechte zu Beginn des Konzils ebenfalls eine Minderheitenposition vertraten.
„Die neuzeitliche Freiheit als Sinn- und Grundprinzip des Staates anerkennen“
HK: Es ist also vorstellbar, dass auf dem Boden des Grundgesetzes Religionsgemeinschaften bestehen, die sein Modell des Verhältnisses von säkularem Staat und Religion bewusst bejahen und aktiv unterstützen, und andere, die das nur mit gewissen Vorbehalten tun? Ist das überhaupt zu vermeiden?
Essen: Das Prinzip der Religionsfreiheit impliziert, dass der Staat sich auf keinen Fall in den Ideologiehaushalt der einzelnen Religionen einmischen darf. Das klassische Beispiel dafür ist ja das kirchliche Arbeitsrecht mit seinen spezifischen Regelungen. In der schwierigen Frage, ob etwa die Zeugen Jehovas Körperschaft des öffentlichen Rechts werden können, gehörte es zur Hermeneutik des Bundesverfassungsgerichtes, dass dem religionsneutralen Staat verwehrt sei, Glaube und Lehre als solche zu bewerten. Es wurde sogar ausdrücklich festgehalten, dass einer Religionsgemeinschaft von staatlicher Seite nicht abverlangt werden dürfe, dem Grundgesetz mit der Haltung einer inneren Zustimmung begegnen zu müssen; entscheidend sei allein, das tatsächliche Rechtsverhalten.
HK: Inwieweit darf der religionsneutrale Staat dann gewisse Unterschiede in der Behandlung der Religionsgemeinschaften machen?
Essen: An diesem Punkt lässt sich meines Erachtens tatsächlich argumentieren, dass der Staat unter Wahrung der Religionsneutralität jene Religionen fördert, die in besonderer Weise sinnbildende Träger für die allgemeine Kultur sind. Der Staat ist ja immer von einem bestimmten Menschenbild geleitet. Aber ein Menschenbild ist keine bloße Kopfgeburt. Alle Versuche, bestehende Kulturen zu vernichten, um ex nihilo neue zu schaffen, sind gescheitert, sei es in der Französischen Revolution, sei es unter dem Kommunismus. Mit anderen Worten: Wenn der Staat auf vorgegebene Sinnressourcen angewiesen ist, bleibt ihm um des kulturellen Gedächtnisses willen nichts anderes übrig, als anzuerkennen, dass in diesem Gedächtnis das Christentum eine entscheidende Rolle spielt. Da die Geschichte nach vorne hin offen ist, können aus Erbschaftsverhältnissen dieser Art freilich keine Exklusivitätsansprüche abgeleitet werden. Aber zumindest besteht eine Entsprechung zwischen dem kulturellen Gedächtnis und dem Grundethos, um das es diesem Staat geht.
HK: Die Kirchen müssten also im Gegenzug die Strukturen des demokratischen Rechtsstaats unterstützen und verteidigen, auch wenn ihre Botschaft darüber hinausreicht und sie nicht nur Verfassungsagenturen sein dürfen …
Essen: Der freiheitlich demokratische Rechtsstaat ist notorisch verwundbar, weil er sich an das Freiheitsbewusstsein seiner Staatsbürger gebunden hat, von dem die dauerhaft freie Zustimmung zu seiner Rechtsordnung abhängt. Ihre Frage greift deshalb zu kurz, sofern sie nur nach der Verfassungskonformität der Kirchen fragen sollte. Im Mittelpunkt muss eine Einsicht stehen, die, historisch betrachtet, zur Sollbruchstelle im Verhältnis von Staat und Kirche wurde: Was theologisch zu lernen und kirchlich zu akzeptieren ist, ist die Einsicht, dass die Freiheit einer jeden Ordnung vorgeordnet ist. Folglich entstammen legitime Ordnungen einem Akt der Freiheit und sind eine durch Freiheit und in Freiheit gesetzte Ordnung. Die Kirchen müssten, so gesehen, die Strukturen des demokratischen Rechtsstaates unterstützen und verteidigen, weil dieser einem Sinnprinzip verpflichtet ist, das dem christlichen Evangelium, genau besehen, keineswegs fremd ist: Freiheit! Immerhin lässt sich in der Tat beobachten, dass sich in den zurückliegenden Jahren beide Kirchen immer stärker auf den religionsegalitären Charakter der staatlich geschützten Religionsfreiheit berufen, weil sie genau wissen, dass nur in dem Maße, mit dem die Rechte anderer Religionen anerkannt werden, auch ihre eigenen geschützt sind.
HK: Was macht dann den Grundauftrag der Kirchen und ihrer religiösen Ressourcen für den demokratischen Verfassungsstaat aus? Haben sie bei der Wahrnehmung dieses Auftrags noch Nachholbedarf?
Essen: Die Voraussetzung, von der der säkulare Staat abhängt und die er nicht verbürgen kann, ist die Freiheit im Sinn des aktual anwesenden Freiheitsbewusstseins seiner Bürgerinnen und Bürger. Das bedeutet aber, dass wenn eine Religion im öffentlichen Raum sagt: Unsere Tradition ist so wichtig, dass wir sie für ein gelingendes Zusammenleben einbringen möchten und entsprechend auf Kooperation mit dem Staat Wert legen, dann ist sie nachhaltig gefordert, die neuzeitliche Freiheit als Sinn- und Grundprinzip des Staates anzuerkennen. Zu diesem Grundprinzip hat, um vor der eigenen Haustüre zu kehren, die katholische Kirche nach wie vor ein hoch ambivalentes Verhältnis; seine Anerkennung ist noch nicht wirklich gelungen. Die Bindung religiöser Wahrheit an das Bewusstsein der, wie man ausdrücklich hinzufügen muss, autonomen Freiheit ist aber entscheidend. An der Freiheit vorbei verfehlen die Religionen, gerade auch die katholische Kirche, ihr Thema.