Anfang Oktober jährte sich zum ersten Mal die Katastrophe vor Lampedusa. Damals ertranken fast 400 Flüchtlinge. Ihr kaum seetüchtiges Boot war in Brand geraten und gekentert, nur wenige Seemeilen von Lampedusa entfernt. Seitdem ist der Name der Mittelmeer Insel zu einem Fanal geworden: Mahnende Erinnerung an noch viele Hunderte mehr, die vor dieser Katastrophe und auch noch danach ihr Leben im Mittelmeer verloren haben; ihr Leben, das sie aus unterschiedlichen Notlagen skrupellosen Schleusern und ihren untauglichen Booten anvertraut hatten.
Lampedusa, der Name der Flüchtlingsinsel ist vor allem aber seitdem so etwas wie eine unübersehbare Defizitanzeige: Die europäischen Staaten müssen gemeinsam neue Wege und Strategien finden, um mit der nach wie vor wachsenden Zahl von Menschen umzugehen, die an der EU-Grenze ankommen in der Hoffnung auf ein sicheres, besseres Leben.
Die Krisen und Konflikte im Nahen Osten haben die Lage noch einmal verschärft. Abschottung ist aber keine Lösung, funktioniert nicht, selbst wenn man noch viele hundert ertrunkene Flüchtlinge zynisch in Kauf nehmen wollte.
Lampedusa ist aber auch für die katholische Kirche zu einem Fanal geworden. Anfang Juli letzten Jahres hatte Papst Franziskus die chronisch überlastete Flüchtlingsinsel besucht, mit den dort Gestrandeten, ihren Helferinnen und Helfern Gottesdienst gefeiert. Es war die erste Reise des Papstes überhaupt. Seine Vision, die Kirche möge doch eine arme Kirche für die Armen werden, wurde bei diesem Besuch und der Erinnerung an die im Meer Ertrunkenen schonungslos konkret. Mit eindringlichen Worten prangerte Franziskus die Gleichgültigkeit gegenüber dem Schicksal von Migranten an. Er hat diese Kritik seitdem viele Male wiederholt. Zum Jahrestag empfing Papst Franziskus jetzt im Vatikan Überlebende der damaligen Katastrophe.
Lampedusa steht so auch für einen schmerzenden Stachel im Fleisch der europäischen Ortskirchen: zum einen selbst alles Erdenkliche zu tun, um Flüchtlingen eine ihrem Lebensschicksal angemessene Aufnahme zu bereiten. Und denjenigen, die sich auch in der Kirche in Deutschland seit Jahrzehnten schon in Flüchtlings- uns Asylbewerberinitiativen engagieren oder beispielsweise auch beim Kirchenasyl hat Franziskus enorm den Rücken gestärkt.
Zum anderen mahnt der Papst Katholikinnen und Katholiken aber auch, um der Flüchtlinge willen auf die eigene Regierung und deren Flüchtlings-, Asyl- und Einwanderungspolitik einzuwirken. Im Falle Deutschlands heißt dies zuerst, dass man sich nicht einrichten darf in seiner durch die so genannten „Dublin-Verfahren“ abgesicherten, vermeintlich komfortablen Lage; Deutschland ist ausschließlich von so genannten sicheren Herkunftsstaaten umgeben und Asylsuchende müssen bislang dort auf den Ausgang ihres Verfahrens warten, wo sie im EU-Gebiet angekommen sind.
Fast zeitgleich zum Jahrestag der Katastrophe von Lampedusa hat sich jetzt in Deutschland etwas ereignet, was für das Land eine nahezu ähnliche Signalwirkung hatte, wenn auch die Ereignisse selbst und ihre Folgen nicht zu vergleichen sind: Nachrichten über mutmaßliche Misshandlungen von Flüchtlingen durch das Sicherheitspersonal in nordrhein-westfälischen Einrichtungen haben den Umgang mit Flüchtlingen plötzlich zu einem öffentlich breit diskutierten Thema gemacht. Mit der Erkenntnis, auch in Deutschland muss man zu einer anderen Flüchtlingspolitik finden.
Nahezu hektisch prüfte man jetzt die Stimmungslage in der Bevölkerung. Droht diese wie etwa in den neunziger Jahren wieder in Ablehnung und womöglich Hass umzuschlagen angesichts weiterhin steigender Flüchtlingszahlen, angesichts von Städten und Kommunen, die mit der weiteren Aufnahme von Flüchtlingen und Asylbewerbern oft überfordert sind. Im vergangenen Jahr stellten 130 000 Personen Asylanträge, in diesem Jahr rechnet die Bundesregierung mit 200 000. In der Europäischen Union haben zwischen Januar und Juni dieses Jahres rund 230 000 einen Asylantrag gestellt, etwa 20 Prozent mehr als im ersten Halbjahr 2013.
Allenthalben gab es jedoch erst einmal Entwarnung: Die Demoskopen berichten beispielsweise von einer hohen Bereitschaft in der deutschen Bevölkerung, sich ehrenamtlich in der Unterstützung von Flüchtlingen zu engagieren, zu helfen auch, wo staatliche Stellen überfordert sind. Demnach befürwortet ebenso eine Mehrzahl unter den Deutschen die weitere Aufnahme von Flüchtlingen im eigenen Land. Und die öffentliche Debatte bleibt erstaunlich sachlich. Die derzeit täglichen Bilder in den Medien von Menschen, die in großer Not aus ihrer Heimat fliehen, um ihr Überleben kämpfen, scheinen derzeit eine enorme Solidarität und Hilfsbereitschaft auszulösen.
Selbstredend gibt es auch die, die – gelegentlich wohl auch in politisch-strategischer Absicht – mahnen, die positive Grundstimmung gegenüber Asylbewerbern könne rasch kippen, je mehr Flüchtlinge wir aufnehmen. Dass hier die Aufgabe der Kirche, jedes einzelnen Christen beginnt, daran hat nun Papst Franziskus zum Jahrestag der Flüchtlingskatastrophe von Lampedusa wieder eindringlich erinnert.
Zum einen geht es darum, Flüchtlingen in dieser aktuell besonders gravierenden Notlage zu helfen. Aber auch dort, wo Flüchtlinge aufgenommen, willkommen geheißen werden sollen, gilt es, um Verständnis zu werben, Ängste zu nehmen, Hilfe anzubieten. In jedem Fall gehört es zu den wesentlichen Aufgaben der Kirche, für Menschen einzutreten, die verfolgt oder aus unterschiedlichen Gründen gefährdet sind. In dem Gebot, den Fremden zu schützen, ist auch die Bibel unmissverständlich.