LeitartikelGeschenk des Lebens

In der aktuellen Debatte um Sterbehilfe beziehungsweise assistierten Suizid und in der Diskussion um das Einfrieren von Eizellen zur Verlängerung der natürlichen Reproduktionsphase, kommen im Letzten die gleichen Fragen ins Spiel: Existentielle Fragen um Grenzen und Entgrenzung des menschlichen Lebens am Anfang wie am Ende, um die Verfügbarkeit dieses Lebens und somit auch um das rechte Verständnis menschlicher Autonomie, das Selbstbestimmungsrecht des Einzelnen. Fraglos erfüllt die Kirche einen ihr wesentlichen Auftrag, wo sie sich für den Schutz und die Würde des menschlichen Lebens einsetzt, vornehmlich dort, wo dieses Leben am verletzlichsten ist, am Anfang und am Ende. In der Wahrnehmung dieses Auftrages belastet die Kirche freilich noch manche Hypothek.

Der Zusammenhang muss nicht mühsam konstruiert werden, eine Verbindung ergibt sich keineswegs nur aus dem zeitlichen Zusammenfall. In der aktuellen Debatte um Sterbehilfe beziehungsweise assistierten Suizid und in der Diskussion um das Einfrieren von Eizellen zur Verlängerung der natürlichen Reproduktionsphase kommen im Letzten die gleichen Fragen ins Spiel: existenzielle Fragen um Grenzen und Entgrenzung des menschlichen Lebens am Anfang wie am Ende, um die Verfügbarkeit dieses Lebens und somit auch um das rechte Verständnis menschlicher Autonomie, das Selbstbestimmungsrecht des Einzelnen. Für Christinnen und Christen geht es damit um einen zentralen Aspekt ihres Glaubens: die Überzeugung, dass das Leben, und zwar ein Leben in Freiheit, Geschenk und gute Gabe Gottes ist – Gnade Gottes und zugleich gottgewollt des Menschen Aufgabe.

Von einer Sternstunde des deutschen Parlamentarismus sprachen nahezu einhellig Beteiligte wie Beobachter, als Mitte letzten Monats der Deutsche Bundestag über die Frage der gesetzlichen Regelung des assistierten Suizids diskutierte, in einer „Orientierungsdebatte“ ohne Fraktionszwang. Einmütig in der Absicht, jede weitere Dynamik in Richtung aktiver Sterbehilfe in Deutschland gesetzlich zu unterbinden, debattierte man offen und respektvoll über unterschiedliche Positionen in konkreten Fragen und Details.

Bemerkenswert war dabei auch, wie sehr man bereit war, sich einer bei diesem Thema offenbar kaum aufzulösenden Spannung auszusetzen: zwischen der Suche einerseits nach gesetzlichen Regelungen, die möglichen Dammbrüchen und Missbrauch einen Riegel vorschieben, und dem respektvollen Umgang mit den Vorstellungen und Entscheidungen Einzelner über das eigene Sterben in Würde.

Den neuerlichen Anstoß zu dieser auch von den Medien breit aufgenommenen Debatte hatte Bundesgesundheitsminister Hermann Gröhe schon kurz nach seiner Ernennung gegeben, getragen von der Absicht, jede „organisierte“ Beihilfe zur Selbsttötung zu unterbinden. Im kommenden Jahr will der Bundestag ein Gesetz über die Beihilfe zur Selbsttötung verabschieden. Nach geltendem Recht ist in Deutschland die aktive Sterbehilfe verboten; nicht strafbar sind der Suizid und die Beihilfe zum Suizid.

Dabei scheint – so sehr über Zuschnitt und Fragestellungen der in diesem Zusammenhang unternommenen zahlreichen Umfragen zu diskutieren wäre – eine Mehrheit der Deutschen sich dafür auszusprechen, dass in Deutschland die Beihilfe zur Selbsttötung bei Schwerkranken weiterhin erlaubt sein soll; eine deutliche Mehrheit befürwortet demnach auch die so genannte aktive Sterbehilfe.

Jede Hilfe beim Sterben, keine Hilfe zum Sterben

Im Grundsätzlichen einmütig haben sich Vertreter beider großer Kirchen in dieser Debatte engagiert zu Wort gemeldet. Ihre Position lässt sich auf eine einfache Formel bringen: jede Hilfe beim Sterben, keine Hilfe zum Sterben. Das von allen Seiten eingeforderte Sterben in Würde könne doch nur bedeuten, Art und Weise des Sterbens würdevoll zu gestalten. Entsprechend freute man sich auch auf Seiten der Kirchen über einen jetzt deutlich gewordenen politischen Konsens, den palliativ-medizinischen Bereich in Deutschland entschieden ausbauen zu wollen.

Vor allem aber misstraut man kirchlicherseits dem offenbar weit verbreiteten Wunsch nach einem selbstbestimmten Sterben, dem Wunsch, über den Zeitpunkt des eigenen Todes selbst entscheiden zu können. Dahinter stecke oft nicht nur die Angst vor einem schmerzvollen, womöglich von der Intensivmedizin sinnlos herausgezögerten Sterbeprozess. Stimmen aus Theologie und Kirche beklagen, dass hinter diesem Wunsch häufig auch ein falsches Autonomieverständnis steht, demnach man um jeden Preis verhindern möchte, anderen zur Last zu fallen, von anderen abhängig zu werden (vgl. HK, November 2014, 567 ff.).

In der theologischen Begründung dieser kirchlichen Position heißt es dann: Weil das Leben ein Geschenk Gottes sei, habe kein Mensch das Recht, über seinen eigenen Tod zu verfügen. Das von Gott geschenkte Leben lässt sich nicht einfach zurückgeben. Das geschenkte Leben bis zu seinem Ende zu leben und auch das Sterben zu leben, sei vielmehr Ausdruck der wahren Selbstbestimmung des Menschen.

Instrumentalisierung des Menschen zu Gunsten ökonomischer Maximierung

Zu einer breiten Welle der Empörung und des Entsetzens führte hierzulande dagegen eine Meldung aus den USA Ende Oktober. Demnach haben die beiden US-Konzerne Facebook und Apple – beide ohnehin unter latentem Verdacht, sich in unzulässiger Weise unserer Privatsphäre zu ermächtigen – ihren Mitarbeiterinnen ein ziemlich unmoralisches Angebot unterbreitet: Offenbar wollen die Unternehmen eine großzügige finanzielle Unterstützung gewähren, sind die Frauen bereit, Eizellen einfrieren zu lassen. Der ökonomische Nutzen für das Unternehmen liegt auf der Hand. In dem Maße, wie Mitarbeiterinnen ihre reproduktive Phase lebenszeitlich nach hinten verschieben, verlängert sich ihre arbeitsproduktive Phase. Das verlockende Versprechen an die Mitarbeiterinnen selbst lautet dabei: Eine verzögerte Familienplanung erhöht die Karrierechancen.

Arbeitnehmervertreterinnen und Unternehmer, Feministinnen und konservative Politiker wandten sich energisch gegen eine solche, wie es nahezu unisono hieß, Unterwerfung von Frau und Familie unter eiskaltes wirtschaftliches Kalkül. Aus den Reihen der deutschen Arbeitgeberverbände beispielsweise erklärte man dazu kategorisch: Man mische sich nicht ein in die Familienplanung von Arbeitnehmern und Arbeitnehmerinnen. Stattdessen soll durch familienfreundlichere Angebote die Vereinbarkeit von Beruf und Familie verbessert werden.

Gewerkschafterinnen und Politikerinnen warnten eindringlich ihre Geschlechtsgenossinnen: „Social freezing“, so der Fachausdruck für das ursprünglich bei Krebspatientinnen eingesetzte Verfahren, sei mitnichten ein Beitrag zu größerer Geschlechtergerechtigkeit. Dahinter stehe vielmehr die trügerische Behauptung, es gebe eine einfache technische Lösung für ein Problem, das sich tatsächlich nur gesellschaftlich und politisch lösen lässt. Und was heute ein Angebot einzelner Unternehmen ist, werde morgen zur Forderung. Der Druck auf jüngere Frauen, sich zwischen Kind und Karriere entscheiden zu müssen, wird sich im Letzten dadurch noch erhöhen.

Falls Apple und Facebook sich auch hier als Trendsetter durchsetzen sollten, seien bald nicht nur Eizellen, sondern weite Bereiche unserer Gesellschaft gefroren, warnt die Berliner Sozialwissenschaftlerin Jutta Allmendinger. Und Anton Losinger, Augsburger Weihbischof und Mitglied im Deutschen Ethikrat, fragt besorgt, wo diese bis in den existenziellen Bereich der Familienplanung hineinreichende Form der Instrumentalisierung von Menschen zu Gunsten ökonomischer Maximierung wohl enden werde.

Dass dabei auch Gefahr besteht, nicht nur den Anfang des Lebens, sondern ebenso Tod und Sterben zum Gegenstand eines kalten ökonomischen Kalküls werden zu lassen, darauf hat schon Ende der neunziger Jahre der damalige Präsident der Bundesärztekammer, Karsten Vilmar, mit dem unvergessenen Schlagwort vom „sozialverträglichen Frühableben“ hingewiesen; wegen des darin zum Ausdruck kommenden unvergleichlichen Zynismus wurde die Formulierung damals gleich zum Unwort des Jahres gewählt. Vilmar hatte seinerzeit auf die Ankündigung drastischer Sparmaßnahmen in der Gesundheitspolitik reagiert.

Es geht schon lange nicht mehr nur um die Imitation eines natürlichen Vorgangs

Selbstredend stellt für manchen das „social freezing“ zur Maximierung von Unternehmensgewinnen nur einen weiteren Aspekt der insgesamt hoch problematischen Entwicklung in der künstlichen Reproduktionsmedizin dar. Vor allem in Verbindung mit der immer besser werdenden Präimplantationsdiagnostik sehen uns einige auf dem direkten Weg zum perfektionierten Baby, dem durch und durch geplanten Kind.

In seiner im Frühjahr veröffentlichten und viel diskutierten 500-seitigen Studie zur Geschichte der Reproduktionsmedizin – einprägsam betitelt mit „Kinder machen“ – zeigt dazu der Kulturwissenschaftler Andreas Bernard nicht nur den wechselseitigen Einfluss zwischen dem technisch Möglichen und unserer Vorstellung von Familie. Eindringlich beschreibt er dabei auch, wie es der Reproduktionsmedizin anfangs nur um ein Kind, die Imitation sozusagen eines natürlichen Vorganges ging, während es heute zunehmend eben auch um „Optimierung“ gehe.

Von Seiten der katholischen Kirche erklärte entsprechend beispielsweise Karl Jüsten, der Leiter des Katholischen Büros der Bischöfe in Berlin: Der Vorstoß der beiden Unternehmen belege einmal mehr, zu welchen Konsequenzen die von seiner Kirche abgelehnte künstliche Befruchtung führen könne.

Die rasanten Fortschritte von Biotechnologie und Intensivmedizin fordern jedenfalls in bisher unbekanntem Ausmaß unsere moralischen Vorstellungen heraus – was den Beginn des Lebens betrifft, ebenso wie sein Ende. Es gibt nicht mehr das „natürliche“ Sterben, ebenso wenig die „natürliche“ Empfängnis, Geburt. Und eine immer leistungsfähigere Medizin ermöglicht erfreulicherweise ja auch ein immer längeres Leben für immer mehr Menschen und sie hat gleichermaßen die Geburt in unseren Breitengraden zu einem fast risikolosen Geschehen gemacht, ebenso den sehnlichen Kinderwunsch vieler erfüllbar.

Der Einzelne aber muss sich damit jetzt „um ein Geschäft kümmern, von dem man noch vor 100 Jahren zuallererst annahm, dass es das Geschäft Gottes war“, resümiert lakonisch der Publizist Bernd Graff (Süddeutsche Zeitung, 28. Oktober 2014). Grundfragen der Existenz, wie die nach dem günstigsten Zeitpunkt für die Empfängnis, wie die nach dem richtigen Zeitpunkt für ein würdevolles Sterben, werden mehr und mehr zu Privatangelegenheit.

So will sich heute hierzulande sicher niemand mehr vorschreiben lassen, wie, wann und ob er oder sie Kinder bekommen soll – nicht von Facebook und Apple, nicht von irgendeiner Partei, auch nicht von der Kirche. Und zu Recht fordert derjenige zunächst einmal Verständnis und Respekt, der frei darüber zu entscheiden oder zumindest nachzudenken beansprucht, ob er im Falle einer schweren, unheilbaren und mit unerträglichen Schmerzen verbundenen Krankheit sich das Leben nehmen will. Und wer könnte einem anderen Menschen vorschreiben, wie viel Leid er am Lebensende auszuhalten hat?

Wo solche existenziellen Grundfragen mehr und mehr zur Privatangelegenheit werden, steht aber auch der Einzelne in der latenten Gefahr, überfordert zu sein oder sich überfordert zu fühlen: zunehmend unter Druck gesetzt durch die Imperative unserer hochmodernen Gesellschaft wie etwa dem zur permanenten „Selbstoptimierung“; zunehmend unter Druck gesetzt aber beispielsweise auch von der durchgängigen Ökonomisierung aller Lebensbereiche. Dabei wird es den optimalen Zeitpunkt für ein Leben mit Kindern ebenso wenig geben, wie sich ein perfekter Zeitpunkt für Tod und Sterben nicht festlegen lässt. Und wer kann für sich im Voraus festlegen, welches Leben er oder sie in einer bestimmten Situation noch leben möchte, welches nicht?

Fraglos erfüllt die Kirche einen ihr wesentlichen Auftrag, wo sie sich für den Schutz und die Würde des menschlichen Lebens einsetzt, vornehmlich dort, wo dieses Leben am verletzlichsten ist, am Anfang und am Ende. Und ihre Verkündigung sollte besonders dort ihre befreiende Kraft entfalten, wo der Einzelne oft überfordert ist, ein Geschäft zu erledigen, das vor hundert Jahren noch als das Geschäft Gottes galt.

In der Wahrnehmung dieses Auftrages belastet die Kirche freilich noch manche Hypothek. Dies eindeutig zu benennen, würde ihre Stimme in den aktuellen Debatten vermutlich noch hörbarer machen, ihr in jedem Fall eine höhere Authentizität und Glaubwürdigkeit verleihen: Zu leichtfertig hat man beispielsweise in früheren Zeiten von einem gottgegebenen, gottverfügten Leiden gesprochen, einem menschen- und lebensfeindlichen Leidenspathos gehuldigt.

„Wir sind nicht Christus“

In einer zugegeben unangemessen flapsigen Art hat daran der Bundestagsvizepräsident und CDU-Bundestagsabgeordnete, Peter Hintze erinnert. In einem Gespräch zur Bundestagsdebatte – Hintze setzt sich dafür ein, dass Ärzten die Hilfe zum Suizid erlaubt wird – wurde der evangelische Theologe Mitte November im „Spiegel“ auch zur Argumentation der beiden großen Kirchen in Deutschland interviewt (Nr. 46/2014). Es sei richtig und wichtig, so Hintze, dass die Kirchen davon sprechen, dass der Mensch über sein Leben nicht verfügen soll. Aber von jeder Norm gebe es Ausnahmen.

Befragt, ob nicht das Beispiel Jesu zeige, dass das Leid zum Leben gehört, antwortete der ordinierte Pfarrer, das stimme wohl. „Aber ich kann von einem schwer Leidenden nicht verlangen: Das musst Du aushalten, weil Christus es am Kreuz genauso gemacht hat. Wir sind nämlich nicht Christus.“

Soll die Verkündigung der Kirche in diesen existenziellen Grundfragen ihre orientierende und lebensfördernde Kraft entfalten, muss aber vor allem die Rede vom Leben als einem für den Menschen unverfügbaren Geschenk Gottes für den Zeitgenossen verständlich(er), darf sie vor allem nicht floskelhaft sein. Ist es doch gerade nach landläufigem Verständnis das Wesen eines Geschenkes, dass der Schenkende aus freien Stücken dem Beschenkten etwas zu dessen freier Verfügung überlässt; natürlich gibt man Geschenke auch nicht einfach zurück.

Auf einen anderen Aspekt in der Rede vom Leben als einem für den Menschen unverfügbaren Geschenk Gottes weist der Mainzer Sozialethiker Gerhard Kruip im Blog des Forschungsinstitutes für Philosophie Hannover, „Philosophie inDebate“, hin. Es sei doch mehr als fraglich, ob man ein Leben, das in den letzten Monaten ohne Aussicht auf Besserung nur mit Qualen verbunden ist, überhaupt noch als Geschenk Gottes auffassen kann und darf. Was wäre das für ein Gott, der für ein solches Geschenk verantwortlich wäre? Demgegenüber gibt Kruip zu bedenken, dass Gott dem Menschen eben auch die Fähigkeit gegeben hat, vernünftig über sich selbst zu bestimmen, Güterabwägungen vorzunehmen, Gewissensentscheidungen zu treffen. Warum sollte Gott selbst dann nicht solche Gewissensentscheidungen respektieren können?

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