Die beiden Textversionen von Joseph Ratzinger / Benedikt XVI.„Zur Frage nach der Unauflöslichkeit der Ehe“

In dem in diesen Tagen erscheinenden 4. Band der Gesammelten Schriften von Joseph Ratzinger wird der Text „Zur Frage nach der Unauflöslichkeit der Ehe“ von 1972 nachgedruckt. Der zweite Absatz der „Schlussfolgerungen“ allerdings wurde vom Autor 2014 „vollständig überarbeitet“ und „neu gefasst“ wie es in den Literaturangaben beziehungsweise editorischen Hinweisen dazu heißt. Die pastoralen Vorschläge, die nunmehr der emeritierte Papst macht, sind gänzlich andere als die des Professoren Ratzinger. Die „Herder Korrespondenz“ dokumentiert beide Textfassungen.

Die beiden Textversionen von Joseph Ratzinger / Benedikt XVI.: Zur Frage nach der Unauflöslichkeit der Ehe
Professor Joseph Ratzinger im Jahr 1971.© KNA-Bild

Schlussfolgerungen (2014)

(…) Die Kirche ist die Kirche des Neuen Bundes, aber sie lebt in einer Welt, in der „die Sklerose des Herzens“ (Mt 19, 8) fortbesteht, die Mose zu seiner Gesetzgebung veranlasst hatte. Was kann sie da konkret tun, besonders in einer Zeit, in der sich der Glaube bis ins Innere der Kirche hinein immer weiter verdünnt und „das Leben wie die Heiden“, vor dem der Herr die Jünger warnt (vgl. Mt 6, 32), immer mehr zum Normalfall zu werden droht? Das Erste und Wesentliche kann nur sein, dass sie eindringlich und verstehbar die Botschaft des Glaubens verkündigt und Räume zu öffnen versucht, wo er wirklich gelebt werden kann. Die Heilung der „Sklerose des Herzens“ kann nur vom Glauben kommen, und nur wo er lebendig ist, kann gelebt werden, was der Schöpfer dem Menschen vor der Sünde zugedacht hatte. Deshalb ist das Erste und Wesentliche, was die Kirche zu tun hat, den Glauben lebendig und stark zu machen.

Zugleich muss die Kirche immer wieder versuchen, die Grenze und die Weite der Worte Jesu auszuloten. Sie muss dem Auftrag des Herrn treu bleiben, darf ihn aber auch nicht überdehnen. Mir scheint, dass die sogenannten Unzuchtsklauseln, die Matthäus an die bei Markus überlieferten Herrenworte angefügt hat, bereits ein solches Mühen spiegeln. Es wird ein Falltypus genannt, der vom Wort Jesu nicht betroffen ist. Solches Mühen ist die Geschichte hindurch weitergegangen. Die Kirche des Westens hat unter der Führung des Petrusnachfolgers sich nicht dem Weg der byzantinischen Reichskirche anschließen können, die sich immer mehr dem weltlichen Recht angenähert und damit das Spezifische des Lebens im Glauben abgeschwächt hatte. Aber sie hat auf ihre Weise Grenzen der Anwendbarkeit des Herrenwortes herausgestellt und damit ihre Reichweite konkreter definiert. Dabei sind vor allem zwei Bereiche sichtbar geworden, die einer besonderen Lösung durch die kirchliche Autorität offenstehen.

1) In 1 Kor 7, 12–16 sagt der heilige Paulus – als seine persönliche Weisung, die nicht vom Herrn kommt, zu der er sich aber bevollmächtigt weiß – den Korinthern und durch sie der Kirche aller Zeiten, dass im Fall einer Ehe zwischen einem Christen und einem Nichtchristen diese dann gelöst werden kann, wenn der Nichtchrist den Christen in seinem Glauben behindert. Daraus hat die Kirche das sogenannte Privilegium paulinum abgeleitet und in ihrer Rechtstradition immer weiter interpretiert (vgl. CIC cann. 1143–1150). Aus den Worten des heiligen Paulus hat die kirchliche Tradition erschlossen, dass nur die Ehe zwischen zwei Getauften wirkliches Sakrament und daher absolut unauflöslich ist. Ehen zwischen einem Nichtchristen und einem Christen sind zwar Ehen nach der Schöpfungsordnung und damit in sich endgültig. Aber sie können zugunsten des Glaubens und einer sakramentalen Ehe geschieden werden. Die Tradition hat dieses „paulinische Privileg“ schließlich zum Privilegium petrinum erweitert. Damit soll gesagt werden, dass dem Petrusnachfolger die Vollmacht gegeben ist, im Bereich der nichtsakramentalen Ehen zu entscheiden, wo Trennung gerechtfertigt ist. Dieses sogenannte Privilegium petrinum ist allerdings nicht in den neuen Kodex eingegangen, wie ursprünglich beabsichtigt war. Dies lag an dem Dissens zwischen zwei Gruppen von Fachleuten. Die eine betonte, dass das Ziel des ganzen Kirchenrechts, sein innerer Maßstab das Heil der Seelen ist. Daraus folgt dann, dass die Kirche das kann und darf, was diesem Ziel dient. Die andere Gruppe war hingegen der Meinung, man dürfe die Vollmachten des Petrusamtes nicht überdehnen und müsse sich an die vom Glauben der Kirche erkannten Grenzen halten. Da zwischen beiden Gruppen keine Einigung erzielt werden konnte, hat Papst Johannes Paul II. entschieden, diesen Teil der rechtlichen Gewohnheiten der Kirche nicht in den Kodex aufzunehmen, sondern weiterhin wie bisher der Glaubenskongregation anzuvertrauen, die zusammen mit der konkreten Praxis zugleich immer neu Grund und Grenze kirchlicher Vollmacht in diesem Bereich bedenken muss.

2) Im Lauf der Zeit ist immer deutlicher ins Bewusstsein getreten, dass eine scheinbar gültig geschlossene Ehe aufgrund rechtlicher oder faktischer Mängel beim Eheabschluss nicht wirklich zustande gekommen, also nichtig sein kann. In dem Maß, in dem die Kirche ein eigenes Eherecht entwickelt hat, hat sie auch die Bedingungen der Gültigkeit und die Gründe für eine mögliche Nichtigkeit detailliert entfaltet. Nichtigkeit der Ehe kann durch Fehler in der rechtlichen Form entstehen, vor allem aber auch durch eine unzulängliche Willensentscheidung. In ihrem Umgang mit der Wirklichkeit Ehe hat die Kirche sehr früh erkannt und klargestellt, dass Ehe als solche konstituiert wird durch die gegenseitige Willensübereinstimmung der beiden Partner, die in einer vom Recht zu definierenden Form auch öffentlich geäußert werden muss (CIC can. 1057 §1). Inhalt dieser gemeinsamenWillensentscheidung ist, sich mit einem unwiderruflichen Bund einander zu schenken (CIC can. 1057 §2; can. 1096 §1). Das kirchliche Recht setzt dabei voraus, dass erwachsene Menschen von sich aus, von ihrer Natur her wissen, was Ehe ist, und so auch um ihre Endgültigkeit wissen; das Gegenteil müsste ausdrücklich bewiesen werden (CIC can. 1096 §1 und §2).

An dieser Stelle hat in den letzten Jahrzehnten ein neues Fragen begonnen. Kann man heute noch voraussetzen, dass dieMenschen „von Natur“ aus um die Endgültigkeit und Unauflöslichkeit der Ehe wissen und in ihrem Ja mitbejahen? Oder ist nicht in der gegenwärtigen Gesellschaft, jedenfalls in den westlichen Ländern, eine Bewusstseinsänderung vor sich gegangen, die eher das Gegenteil erwarten lässt? Kann man den Willen zum Endgültigen als selbstverständlich voraussetzen, oder ist nicht eher das Gegenteil zu erwarten – dass man sich schon im Voraus auch auf ein Scheitern einstellt? Wo die Endgültigkeit bewusst ausgeschlossen würde, wäre eine Ehe im Sinn des Schöpferwillens und seiner Auslegung durch Christus nicht wirklich zustande gekommen. Hier wird auch sichtbar, wie wichtig eine rechte Vorbereitung auf das Sakrament heute geworden ist.

Die Kirche kennt keine Ehescheidung. Aber sie kann die Möglichkeit nichtiger Ehen nach dem eben Angedeuteten nicht ausschließen. Die Nichtigkeitsprozesse müssen in einer doppelten Richtung mit großer Sorgfalt geführt werden: Es darf nicht eine verkappte Ehescheidung daraus werden. Das wäre unehrlich und dem Ernst des Sakraments entgegengesetzt. Sie müssen andererseits die Problematik möglicher Nichtigkeit mit dem gebührenden Ernst betrachten und da, wo gerechte Gründe für Nichtigkeit sprechen, das entsprechende Urteil fällen und so diesen Menschen eine neue Tür auftun.

In unserer Zeit sind neue Aspekte des Problems der Gültigkeit aufgetreten. Ich habe vorhin schon darauf hingewiesen, dass das selbstverständliche Wissen um die Unauflöslichkeit der Ehe problematisch geworden ist und von hier aus sich für die Prozessführung neue Aufgaben ergeben. Zwei weitere neue Elemente möchte ich noch kurz anführen:

a) Can. 1095 Nr. 3 hat moderne Problematik ins Kirchenrecht eingetragen, wenn er sagt, unfähig eine Ehe zu schließen seien Personen, „die aus Gründen der psychischen Beschaffenheit die wesentlichen Verpflichtungen der Ehe nicht zu übernehmen imstande sind“. Die psychischen Probleme des Menschen werden gerade einer so großen Realität wie der Ehe gegenüber heute deutlicher wahrgenommen als früher. Doch muss hier nachdrücklich davor gewarnt werden, eilfertig von psychischen Problemen her Nichtigkeit zu konstruieren. Allzu leicht kann man dabei in Wirklichkeit auch eine Ehescheidung unter dem Deckmantel der Nichtigkeit erklären.

b) Mit großem Ernst drängt sich heute eine andere Frage auf. Immer mehr gibt es heute getaufte Heiden, das heißt Menschen, die durch die Taufe zwar Christen geworden sind, aber nicht glauben und nie den Glauben kennengelernt haben. Dies ist eine paradoxe Situation: Die Taufe macht zwar den Menschen zum Christen, aber ohne Glaube bleibt er eben ein getaufter Heide. Can. 1055 §2 sagt, dass es „zwischen Getauften keinen gültigen Ehevertrag geben (kann), ohne dass er zugleich Sakrament ist“. Aber wie ist das, wenn ein ungläubiger Getaufter das Sakrament überhaupt nicht kennt? Er kann vielleicht den Willen zur Unauflösbarkeit haben, aber das Neue des christlichen Glaubens sieht er nicht. Das Drama dieser Situation wird vor allem sichtbar, wenn heidnische Getaufte sich zum Glauben bekehren und ein ganz neues Leben beginnen. Hier stellen sich Fragen, auf die wir noch keine Antworten besitzen. Umso dringender ist es, ihnen nachzugehen.

3. Aus dem bisher Gesagten ist deutlich geworden, dass die Kirche des Westens – die katholische Kirche – unter der Führung des Nachfolgers Petri einerseits sich streng gebunden weiß an das Herrenwort von der Unauflöslichkeit der Ehe, andererseits aber auch die Grenzen dieser Weisung zu erkennen versucht hat, um den Menschen nicht mehr als unbedingt nötig aufzuerlegen. So hat sie von dem Ratschlag des Apostels Paulus ausgehend und zugleich auf die Autorität des Pe­trusamtes bauend bei den nichtsakramentalen Ehen die Möglichkeit einer Scheidung zugunsten des Glaubens weiter ausgearbeitet. Ebenso hat sie das Problem der Ungültigkeit einer Ehe nach allen Richtungen durchleuchtet.

Das Apostolische Schreiben „Familiaris consortio“ von Johannes Paul II. aus dem Jahr 1981 ist noch einen Schritt weitergegangen. In Nummer 84 heißt es: „Zusammen mit der Synode möchte ich die Hirten und die ganze Gemeinschaft der Gläubigen herzlich ermahnen, den Geschiedenen in fürsorgender Liebe beizustehen, damit sie sich nicht als von der Kirche getrennt betrachten […]. Die Kirche soll für sie beten, ihnen Mut machen, sich ihnen als barmherzige Mutter erweisen und sie so im Glauben und in der Hoffnung stärken.“ Hier ist der Pastoral ein wichtiger Auftrag erteilt, der wohl noch nicht genügend ins Leben des kirchlichen Alltags übersetzt ist. Einige Details sind in dem Schreiben selbst angegeben. Dort wird gesagt, dass diese Menschen als Getaufte am Leben der Kirche teilnehmen können, ja, dazu verpflichtet sind. Es wird aufgezählt, was alles an christlichen Aktivitäten für sie möglich und nötig ist. Vielleicht müsste man aber auch noch deutlicher herausstellen, was vonseiten der Hirten und der Mitgläubigen geschehen kann, damit sie die Liebe der Kirche wirklich spüren können. Ich denke, man sollte ihnen die Möglichkeit zuerkennen, in kirchlichen Gremien aktiv zu werden und auch den Auftrag eines Paten anzunehmen, was bisher vom Recht nicht vorgesehen ist.

Noch ein weiterer Gesichtspunkt drängt sich mir auf. Die Unmöglichkeit, die heilige Eucharistie zu empfangen, wird nicht zuletzt auch deswegen als so verletzend empfunden, weil gegenwärtig praktisch meist alle in der Messe Anwesenden auch zum Tisch des Herrn hinzutreten. So erscheinen die Betroffenen gleichsam öffentlich als Christen disqualifiziert. Ich denke, dass die Mahnung des heiligen Paulus zur Selbstprüfung und zum Bedenken, dass es der Leib des Herrn ist, wieder ernster genommen werden müsste: „Jeder soll sich selbst prüfen; erst dann soll er von dem Brot essen und aus dem Kelch trinken. Denn wer davon isst und trinkt, ohne zu bedenken, dass es der Leib des Herrn ist, der zieht sich das Gericht zu, indem er isst und trinkt“ (1 Kor 11, 28 f.). Eine ernste Selbstprüfung, die auch zum Verzicht auf die Kommunion führen kann, würde uns die Größe des Geschenks der Eucharistie neu erfahren lassen und auch eine Art von Solidarität mit den geschiedenen Wiederverheirateten darstellen.

Noch einen ganz anderen praktischen Vorschlag möchte ich anfügen. In verschiedenen Ländern ist es üblich geworden, dass Personen, die nicht kommunizieren können (z. B. Angehörige anderer Konfessionen), zwar mit vortreten, aber die Hände auf die Brust legen und so zu erkennen geben, dass sie das heilige Sakrament nicht empfangen, aber um einen Segen bitten, der ihnen dann als Zeichen der Liebe Christi und der Kirche geschenkt wird. Diese Form könnte gewiss auch von Menschen gewählt werden, die in einer zweiten Ehe leben und daher nicht zum Tisch des Herrn zugelassen sind. Dass dabei gerade so eine intensive geistliche Kommunion mit dem Herrn, mit seinem ganzen Leib, mit der Kirche möglich ist, könnte für diese Menschen eine geistliche Erfahrung sein, die sie stärkt und ihnen hilft.

aus: Joseph Ratzinger/Benedikt XVI.: Zur Frage nach der Unauflöslichkeit der Ehe. Bemerkungen zum dogmengeschichtlichen ­Befund und zu seiner gegenwärtigen Bedeutung, in: Joseph Ratzinger, Gesammelte Schriften, Band 4, hg. von Gerhard Ludwig Müller, Freiburg 2014, 600–621, hier: 515–621

Schlussfolgerungen (1972)

(…) Die Kirche ist die Kirche des Neuen Bundes, aber sie lebt in einer Welt, in der die „Herzenshärtigkeit“ (Mt 19,8) des Alten Bundes unverändert fortbesteht. Sie kann nicht aufhören, den Glauben des Neuen Bundes zu verkünden, aber sie muß ihr konkretes Leben oft genug ein Stück unterhalb der Schwelle des Schriftwortes beginnen. So kann sie in klaren Notsituationen begrenzte Ausnahmen zur Vermeidung von noch Schlimmerem zulassen. Kriterien solchen Handelns müßten sein: Ein Tun „gegen das, was geschrieben steht“, findet seine Grenze darin, daß es nicht die Grundform selbst in Fragen stellen darf, von der die Kirche lebt. Es ist also an den Charakter der Ausnahmeregelung und der Hilfe in dringlicher Not gebunden – wie es die missionarische Übergangssituation, aber auch die reale Notsituation der Kirchenunion etwa war.

Damit aber entsteht die praktische Frage, ob man eine derartige Notsituation in der Kirche der Gegenwart benennen und eine Ausnahme beschreiben kann, die diesen Maßstäben genügt. Ich möchte versuchen, mit aller gebotenen Vorsicht einen konkreten Vorschlag zu formulieren, der mir in diesem Rahmen zu liegen scheint. Wo eine erste Ehe seit langem und in einer für beide Seiten irreparablen Weise zerbrochen ist; wo umgekehrt eine hernach eingegangene zweite Ehe sich über einen längeren Zeitraum hin als eine sittliche Realität bewährt hat und mit dem Geist des Glaubens, besonders auch in der Erziehung der Kinder, erfüllt worden ist (so daß die Zerstörung dieser zweiten Ehe eine sittliche Größe zerstören und moralischen Schaden anrichten würde), da sollte auf einem außergerichtlichen Weg auf das Zeugnis des Pfarrers und von Gemeindegliedern hin die Zulassung der in einer solchen zweiten Ehe Lebenden zur Kommunion gewährt werden. Eine solche Regelung scheint mir aus zwei Gründen von der Tradition her gedeckt:

Man muß doch nachdrücklich an den Ermessensspielraum erinnern, der in jedem Nichtigkeitsprozess steckt. Dieser Ermessensspielraum und die Chancenungleichheit, die von der Bildungssituation der Betroffenen wie auch von ihren finanziellen Möglichkeiten her unweigerlich kommt, sollte vor der Vorstellung warnen, auf diesem Weg könne der Gerechtigkeit einwandfrei Genüge getan werden. Überdies ist vieles nicht einfach judikabel, was dennoch real ist. Die prozessuale Fragestellung muß sich notwendig auf das rechtlich Beweisbare beschränken, kann aber damit doch gerade an entscheidenden Tatbeständen vorbeigehen. Vor allem erhalten damit formale Kriterien (Formfehler oder bewußt unterlassene kirchliche Form) ein Übergewicht, das zu Ungerechtigkeiten führt. Insgesamt ist die Verlegung der Frage in den ehebegründenden Akt zwar rechtlich unumgänglich, aber doch eine Einengung des Problems, die dem Wesen menschlichen Handelns nicht vollauf gerecht werden kann. Der Nichtigkeitsprozeß gibt praktisch eine Gruppe von Kriterien, um festzustellen, daß auf eine bestimmte Ehe nicht die Maßstäbe der Ehe unter Glaubenden anwendbar sind. Aber er erschöpft nicht das Problem und kann daher nicht jene strenge Ausschließlichkeit beanspruchen, die ihm unter der Herrschaft einer bestimmten Denkform zugeschrieben werden mußte.

Die Forderung, daß sich eine zweite Ehe über eine längere Zeit hin als sittliche Größe bewährt haben und im Geist des Glaubens gelebt worden sein muß, entspricht faktisch jenem Typus von Nachsicht, der bei Basilius greifbar wird, wo nach einer längeren Buße dem „Digamus“ (= dem in einer Zweitehe Lebenden) ohne Aufhebung der zweiten Ehe die Kommunion gewährt wird: im Vertrauen auf die Barmherzigkeit Gottes, der die Buße nicht unbeantwortet läßt. Wenn in einer zweiten Ehe moralische Verpflichtungen gegenüber den Kindern, gegenüber der Familie und so auch gegenüber der Frau entstanden sind und keine gleichartigen Verpflichtungen aus der ersten Ehe existieren; wenn also aus moralischen Gründen das Aufgeben der zweiten Ehe unstatthaft ist und andererseits praktische Enthaltsamkeit keine reale Möglichkeit darstellt (magnorum est, sagt Gregor II.), scheint die Eröffnung der Kommuniongemeinschaft nach einer Zeit der Bewährung nicht weniger als gerecht und voll auf der Linie der kirchlichen Überlieferung zu sein: Die Gewährung der communio kann hier nicht von einem Akt abhängen, der entweder unmoralisch oder faktisch unmöglich wäre.

Die Unterscheidung, die mit dem Zueinander von These 1 und These 2 versucht ist, dürfte auch der Vorsicht von Trient gemäß sein, obwohl sie als konkrete Regel darüber hinausgeht: Das Anathem gegen eine Lehre, die die kirchliche Grundform zum Irrtum oder wenigstens zur überholbaren Gewohnheit machen will, bleibt in aller Strenge.

Die Ehe ist sacramentum, sie steht in der unaufhebbaren Grundform der entschiedenen Entscheidung. Aber dies schließt nicht aus, daß die Kommuniongemeinschaft der Kirche auch jene Menschen umspannt, die diese Lehre und dieses Lebensprinzip anerkennen, aber in einer Notsituation besonderer Art stehen, in der sie der vollen Gemeinschaft mit dem Leib des Herrn besonders bedürfen. Zeichen des Widerspruchs wird der kirchliche Glaube auch so bleiben: Das ist ihm wesentlich, und gerade darin weiß er sich in der Nachfolge des Herrn, der seinen Jüngern vorausgesagt hat, daß sie nicht über dem Meister zu stehen erwarten dürfen, der von Frommen und Liberalen, von Juden und Heiden abgelehnt worden ist.

aus: Joseph Ratzinger: Zur Frage nach der Unauflöslichkeit der Ehe. Bemerkungen zum dogmengeschichtlichen Befund und zu seiner gegenwärtigen Bedeutung, in: Ehe und Ehescheidung. Diskussion unter Christen, hg. von Franz Henrich und Volker Eid (= Münchener Akademie-Schriften 59), München 1972, 35–56, hier: 53–56

Anzeige: Ich bin, wie Gott mich schuf von Sabine Estner und Claudia Heuermann

Die Herder Korrespondenz im Abo

Die Herder Korrespondenz berichtet über aktuelle Themen aus Kirche, Theologie und Religion sowie ihrem jeweiligen gesellschaftlichen und kulturellen Umfeld. 

Zum Kennenlernen: 2 Ausgaben gratis

Jetzt testen