Die ungewöhnlichen, oft intensiven Ausdrucksformen mystischer Traditionen in Christentum und Islam faszinieren gegenwärtige Rezipienten: Dazu zählen die lyrischen, bis ins Ekstatische reichenden Versuche, die erstrebte Nähe Gottes zu versprachlichen, wie etwa bei Angelus Silesius oder Ğalāl ad-Dīn Rūmī. Dazu zählen auch kontemplative Praktiken wie das Herzensgebet oder, im islamischen Kontext, die mantra-artigen Wiederholungen der göttlichen Eigenschaften oder der Wirbeltanz der Derwische, der auf seine Weise das Verlangen nach Rückkehr zum göttlichen Ursprung ausdrückt.
Christliche und islamische Theologie haben sich, was den Einbezug mystischer Traditionen betrifft, allerdings unterschiedlich entwickelt. Wenn heute das Interesse für Traditionen kontemplativer Praxis und mystischer Theologie eher zunimmt, das Interesse an zumindest weiten Teilen zeitgenössisch-akademischer christlicher Theologie dagegen eher abnimmt, könnte man dies als Spätfolge einer Entwicklung deuten, die seit dem Ausgang des 16. Jahrhunderts verfolgbar ist: Plötzlich spricht man von „Mystik“ im Substantiv. „Mystisch“ bezeichnet nicht mehr Grundvollzüge und Grundmomente religiöser Praxis und Theologie, etwa die Geheimnishaftigkeit religiöser Kommunikationsformen und Symbole, den Tiefensinn heiliger Texte, den Charakter des Altarsakraments oder Auseinandersetzungen mit dem Weg einer Einweisung in das göttliche Geheimnis, welchen die „Mystische Theologie“ des Pseudo-Dionysius beschrieben hatte.
„Mystik“ wird eine eigene Gattung, „Mystiker“ eine Sonderform religiöser Existenz. Die Sehnsucht des Mystikers findet keinen Ort mehr und keinen Ausdruck in den Formen kirchlich-pastoraler und akademisch-theologischer Professionalisierungen.
Rückblickend könnte man diagnostizieren, „dass sich die beginnende Trennung von Theologie und Mystik (…) zu ausschließendem Gegensatz ausgeweitet hat, dass die Mystik dabei schließlich ganz versiegte und einige Trümmer echter Mystik in der frommen Erbauungsliteratur ein kümmerliches Dasein fristen, und dass diese Entwicklung für die Kirche eine echte Verarmung darstellt“ (Hans-Josef Klauck, Der Bruch zwischen Theologie und Mystik, in: Franziskanische Studien 52, [1970] 53–69, 68).
Diese Entwicklung steht in Zusammenhang mit neuzeitlichen Verengungen des Verständnisses von Rationalität. Hinter diese kann die christliche Theologie nicht zurück, aber im Blick auf gegenwärtige Herausforderungen kann eine Erinnerung an die Weite ihrer insbesondere mystischen Tradition hilfreich werden. Ähnliches gilt für das Gespräch mit dem Islam.
Im christlichen Kontext assoziiert man mit Mystik etwas Vergangenes
Dort findet sich ein vergleichbares Auseinandertreten von Mystik und akademischer Theologie gerade nicht. Lehrstühle für „taṣawwuf“ (Sufismus), „āirfān“ (erleuchtende Erkenntnis) oder „Mystik“ finden sich an nahezu allen größeren Fakultäten islamischer Theologie, im Falle der noch im Aufbau befindlichen deutschen Institute zumindest bereits in Forschungsfeldern und Zuständigkeitsbeschreibungen einiger Lehrstühle. Auch wenn etliche Autoren umstritten bleiben, sind die klassischen Traktate, die Systematisierungen und Vereinbarungsversuche mit der islamischen Tradition weithin Teil des Curriculums.
Während christliche Mystik diesseits von Ordensanbindungen zumeist zu einem literarisch rezipierten Phänomen diffundiert ist, halten die Sufiorden Praktiken islamischer Mystik lebendig. Auch in Deutschland mit jeweils mehreren hunderten bis tausenden Mitgliedern präsent, bemühen sie sich spätestens seit den achtziger Jahren um dezidierte Kontinuität. Im muslimischen Kontext sind Selbst- oder Fremdbezeichnungen als „Mystiker“ immer noch problemlos möglich – im christlichen Kontext indes assoziiert man damit ein Phänomen der Vergangenheit oder außergewöhnlicher Heiligkeit, was eine Selbstzuschreibung eher ausschließt.
Unter einem „Sufi“ wiederum kann unmittelbar ein Mitglied eines Sufiordens verstanden werden. Freilich ist diese Verbindung nicht notwendig und kann es Orientierungen an sufistischen Traditionen auch außerhalb der Sufiorden geben. Gelegentlich wird die enge Anbindung an die Autorität des Sufi-Scheichs oder der Bezug auf islamische Heilige kritisiert. Annemarie Schimmel nimmt eine Extremposition ein, wenn sie zuspitzend nahelegt, dass diese Praktiken nicht mehr eine „Vergeistigung“, sondern eine „Stagnation“ des Islam beförderten.
Dass allerdings ein differenzierter Blick auf das Verhältnis von Begriffen, Praktiken und Institutionen durchaus nötig ist, illustriert eine häufig zitierte Diagnose: Schon im zehnten Jahrhundert (im Vorfeld entsprechender Ordenstraditionen) hatte Abū al-Ḥasan al-Fūshanjī formuliert: „Heute ist ‚Sufismus’ (taṣawwuf) ein Name ohne Realität, zuvor war es eine Realität ohne Namen“. Diese Wertung entspricht einem Schema, welches mystisch-asketische Intentionen bereits in der frühesten Zeit des Islam am Werk sieht und spätere Entwicklungen weithin als Verfall deutet.
Dem ist schon mit historischen Befunden zu widersprechen. Das macht aber die Frage umso dringlicher: Welche islamischen (und welche christlichen) Traditionen der Mystik sind unter heutigen Bedingungen besonders erinnerungswürdig, welche Entwicklungen und Gewichtungen vielleicht eher kritisch zu sehen?
Das Gespräch ist in eine neue Phase eingetreten
Solche Fragen bewegen sich auf einer Ebene, die eine theologische Innensicht voraussetzt. Religionswissenschaftliche Beschreibungen können unter anderem wichtige kritische Impulse liefern. Sie können aber kaum als Ersatz fungieren, wo Stellungnahmen zu gegenwärtigen theologischen Fragen oder zu gesellschaftlichen Herausforderungen der jeweiligen Glaubensgemeinschaften nötig würden.
Noch vor einigen Jahren lagen Debattenbeiträge zur islamischen Mystik fast ausschließlich von Islamwissenschaftlern oder Theologen aus anderen Sprach- und Kulturkreisen vor. Mit dem Bestehen deutscher islamisch-theologischer Institute ist das Gespräch in eine neue Phase eingetreten. Erste Ansätze wurden deutlich auf einer Tagung, die im Oktober 2013 unter dem Thema „Dem Einen entgegen. Christliche und islamische Mystik in historischer Perspektive“ stattfand, organisiert von der Akademie der Diözese Rottenburg-Stuttgart, dem Zentrum für Islamische Theologie der Universität Tübingen und dem Graduiertenkolleg Islamische Theologie der Mercator-Stiftung.
Allerdings steht das interreligiöse Gespräch über Traditionen der Mystik erheblichen Problemlasten gegenüber. Allein schon, weil „Mystik“ als ein Begriff aus christlichen Traditionszusammenhängen im Westen als Gegenbegriff zu „Aufklärung“ und „Rationalismus“ auftrat, wurde lange in Frage gestellt, ob es überhaupt hilfreich sei, von „Islamischer Mystik“ zu sprechen. Dass „Mystik“ und islamische Selbstbezeichnungen (taṣawwuf, āirfān, Sufi, Derwisch) durchaus nicht deckungsgleich sind, zeigt sich schon daran, dass man schwerlich von „christlichen Sufis“ reden kann.
Die westliche, insbesondere deutsche Rezeption islamischer „Mystik“ war von Beginn an von Vereinnahmungen und ideologischen Vorprägungen gekennzeichnet. Auch positiver getönte Rezeptionen unternahmen vielfach einen eurozentrisch-westlichen Zugriff auf einen vermeintlich exotisch-„mysteriösen“ Orient. Ein solcher Zugriff konstruierte sich, was er als Gegenüber zum unterstellten „aufgeklärten Westen“ finden wollte. Selbst ein so außergewöhnlicher Autor wie Louis Massignon wurde nicht ganz zu Unrecht aus dieser Richtung kritisiert, da auch er überkommene Klischees nicht gänzlich überwand. Der französische Orientalist und katholische Priester war aus eigener Anschauung mit Islam und Sufismus vertraut.
Einflussreich waren seine Studien zu dem persischen Mystiker ibn Manṣūr al-Ḥallāğ. Er zeigte auch auf, dass der Sufismus keineswegs auf fremde Einflüsse (aus persischen, buddhistischen, vedischen, neuplatonischen Quellen) reduzierbar ist, sondern zuvorderst in Sprache und Motivik des Korans gründet. Massignon hat entscheidend die positivere Gesamteinstellung zum Islam vorbereitet, wie sie sich im Zweiten Vatikanum ausdrückte, besonders in „Nostra aetate“ (Nr. 3).
Zudem kommt auch im Religionsgespräch über Mystik der spezifische Standpunktbezug zum Tragen: Religiöse Überzeugungen und Praktiken sind in ihrem vollen, lebensbestimmenden Gehalt zugänglich nur von einer bestimmten, involvierten Perspektive. Einzelformulierungen sind eingebunden in je spezifische Traditionen, Lebensformen und Begriffszusammenhänge. Daher ergeben sich für mystisch-theologische Versprachlichungen, auch wenn sie isoliert genommen ähnlich lauten mögen, beispielsweise unterschiedliche Bezugnahmen auf Christus beziehungsweise Mohammed.
Wenn etwa Meister Eckhart Weisungen wie „Ihr sollt der Sohn selbst sein!“ mit Begriffen der Intellekttheorie und Ontologie erklärt, so ist die Erklärungsrichtung nicht nur einseitig. Sondern letztere Begriffe sind auch umgekehrt beziehbar auf die Wahrheit im eminenten Sinne, die im christlichen Kommunikationszusammenhang letztlich Christus selbst ist.
Entsprechend bezieht sich der mystische Weg des Sufismus grundsätzlich dezidiert oder implizit auf Mohammed zurück: Er gilt als reines Gefäß des göttlichen Worts. Der mystische Weg hat zum Vorbild seinen Aufstieg zur intuitiven Erkenntnis Gottes (ma‘rifa), den man in Sure 17 angedeutet sieht. Die Autorisierungskette (silsila) des Sufi-Scheichs, die im Erinnerungsritual (d-ikr) der Sufi-Orden rezitiert oder vorgestellt wird, führt idealiter auf Mohammed selbst zurück.
In einem theologischen Religionsgespräch über Mystik kann es daher sogar letztlich unvermeidlich sein, dass mit den je eigenen Begriffen und Verstehensvoraussetzungen hantiert wird. Schädlich wäre deshalb, wenn diese Problematik nicht bewusst bliebe. Umgekehrt allerdings kann gerade dies weiterführen, und zwar im Blick auf die umgekehrte Deutungsrichtung, die hier ohnehin sachgemäßer scheint: Weniger verstehen wir einen bestimmten Autor, einen Text oder eine bestimmte Praxisform unbedingt besser, indem wir unsere Begriffe darauf beziehen. Sondern umgekehrt: Wer einen bestimmten Autor „als Mystiker bestimmt, (…) setzt ihn selbst als Interpreten ein. Dies bedeutet, dass weniger der Begriff Mystik für [diesen] erschließend, als umgekehrt dieser selbst für den Begriff Mystik erschließend wird“. Was Dietmar Mieth hier (Mystik und Lebenskunst, Düsseldorf 2004, 96) in anderem Kontext formulierte, gilt auch für religionsvergleichende Perspektiven: Seitenblicke auf andere Traditionen bieten zunächst vor allem Anlässe, die eigenen Voraussetzungen und Begriffszusammenhänge etwa dessen, was „Mystik“ meinen könnte, zu erweitern und kritisch zu prüfen.
Die neuplatonische Tradition stellt leitende Begriffe und Motive bereit
Welche „Interpreten“ aber bezieht man zu Fragen der Mystik ein? Für die christliche Mystik beispielsweise mag es angehen, aus pragmatischen Gründen eine inhaltliche Bestimmung des Mystikbegriffs zu meiden und sich auf Rezeptionszusammenhänge zu stützen: Einbeziehbar wäre, wer Autoren rezipiert, die unstrittig dazugehören.
Das ist allerdings für interreligiöse Fragen unzureichend. Zwar bestehen nicht unbeträchtliche wechselseitige Einflüsse, beginnend schon in der Frühzeit islamischer Mystik, die im Kontext des syrischen Mönchtums entsteht. Aber über solche direkten Rezeptionen greifbare Autoren sind zu spärlich. Zwar sind auch die gemeinsamen philosophischen Bezüge mannigfach: Die neuplatonische Tradition stellt dem christlichen wie islamischen Nachdenken leitende Begriffe und Motive bereit: Der Aufstiegsweg vom Sinnlich-Vielen zum Intellekthaft-Einen, die Überwindung einer diskursiven Rationalität, die im Hin und Her des Meinens verbleibt, in den Gegensatzbeziehungen unserer endlichen Begriffe, in der Bezogenheit und daher Unterschiedenheit von Erkennendem und Erkanntem, die der erstrebten Einfachheit Gottes nicht entsprechen kann. Aber diese gemeinsamen Bezüge verschärfen vor allem die Fragen: Was genau macht den spezifischen Charakter sei es christlicher, sei es islamischer Mystik aus? Worin unterscheidet sie sich von neuplatonischer Philosophie?
Ein immer wieder hervorgehobener Aspekt ist jener der Verinnerlichung spezifischer religiöser Traditionen: Bekanntlich betrifft der eigentliche und „größere Kampf“ (ğihād) das Reinwerden der triebgebundenen Seele. Rūmī und andere lehren: Ein Erlebnis göttlicher Unmittelbarkeit kann sich je jetzt ereignen, nicht zu festgelegten Zeiten der Pilgerfahrt. Die eigentliche Richtung nimmt das Gebet im Herzen, nicht äußerlich in der Ausrichtung nach Mekka. Dies setzt sich bis ins Einzelne der Koranhermeneutik fort.
Entsprechendes findet sich vielfach für die Bibelhermeneutik christlicher Mystiker. Bekannt sind die teilweise gewagten Deutungen Meister Eckharts: Die Jungfrauengeburt bezieht er (in Predigt 2) auf das Reinwerden des Bewusstseins von allen „Bildern“ und letztlich von Bindung an das Ich (mittelhochdeutsch „eigenschaft“). Den Gehorsam, die „Tugend vor allen Tugenden“ nicht nur in seiner Ordenstradition, bezieht er (in den „Reden der Unterscheidung“) auf das Entäußern gegenüber dem Eigenwillen, womit letztlich auch alle Verzweckung kontemplativer „Techniken“ und auch des Armutsideals unterbunden wäre: Letztlich gehe es um innere Armut, nicht um „Buße und äußerliche Übung“. Die Leute, die an solchen äußeren Techniken „selbstisch (mit eigenschaft) festhalten“, nennt Eckhart zwar lobenswert – „Gott möge ihnen in seiner Barmherzigkeit das Himmelreich schenken. Doch ich sage, dass sie Esel sind, die nichts von göttlicher Wahrheit verstehen“ (Predigt 52).
Freilich können nicht bereits jegliche „verinnerlichten Frömmigkeitsformen“ als Mystik zählen. Vielmehr sollte, wie etwa Berndt Hamm geltend macht und übrigens auch auf Luther anwendbar findet, von Mystik erst gesprochen werden, wo es um die „persönliche, unmittelbare und ganzheitliche Erfahrung einer beseligenden Nähe Gottes“ geht, „die ihr Ziel in einer innigen Vereinigung mit Gott findet“ (Wie mystisch war der Glaube Luthers?, in: Hamm und Volker Leppin, Gottes Nähe unmittelbar erfahren, Tübingen 2007, 242 f.). Der Begriff der „Nähe“ hebt die „Intensität und Direktheit der mystischen Gottesbeziehung“ mit der „Qualität der Verbundenheit und Vertrautheit“ hervor, „wie sie besonders für die Liebesbeziehung charakteristisch ist“ (243 f.).
In der Tat lassen auch die stärker intellektualistischen Ausarbeitungen mystischer Theologie diesen intensiven Charakter der angestrebten Gottesnähe zumeist noch erkennen. Eindrückliche Formen der Liebesmystik finden sich in christlichen und islamischen Traditionen gleichermaßen, so etwa in der Deutung der Hohelied-Motivik bei den Zisterziensern und Viktorinern. In Farīd ad-Dīn ʿAṭṭārs Vogelgesprächen verweist alle irdische Liebe in ihrer Vorläufigkeit auf Gott und von Faḫr-ad-Dīn‘Irāqī stammt eine häufig erinnerte Umprägung des islamischen Gottesbekenntnisses (šahāda): „Es gibt keinen Gott außer der Liebe.“
Ausdruck glühender Gottesliebe?
Strittiger als die Tendenz auf Verinnerlichung und intensive Nähe Gottes könnte deren Radikalisierung im Sinne einer Unmittelbarkeit und Vereinigung sein. Bringt dies nicht Mystik rasch in Konflikte mit theologischen Vorgaben, welche die Vermitteltheit und Vermittlungsinstanzen religiösen Heils betonen? Tilgt das nicht die Differenz von Schöpfer und Geschöpf, verstößt es nicht gegen Einheit und Einzigkeit Gottes? Der lutherische Bischof Tor Andrae meinte, dieses Problem stelle sich nur für die christliche, nicht aber islamische Mystik. Denn letztere beabsichtige, jedenfalls ursprünglich, gerade keine Vergottung des Menschen. Sie betone die Demut des Menschen gegenüber Gott, dem allein die Urheberschaft für eine Verwandlung des Menschen zukomme. Diese Verwandlung sei nicht „metaphysisch“ gemeint, sondern sei nur eine „moralische“ (Islamische Mystik, Stuttgart 1980, 41).
Gleichwohl bewegten sich gerade einige der bis heute meistbeachteten Mystiker beider Traditionen gelegentlich auf einem schmalen Grat. Der bekannteste Fall dürfte jener des 922 hingerichteten H.allāğ sein. Seinen Ausspruch „Ich bin die Wahrheit“ hatte man als Selbstidentifikation mit Gott begriffen.
Rūmī indes versteht ihn als Ausdruck glühender Gottesliebe, vergleichbar einem Stück Eisen, dessen Farbe im Feuer erstirbt und zu Art und Farbe des Feuers selbst wird (Mathnawī II, 1348). Dann aber entfällt die Zweiheit von Ich und Gott, wie dies Rūmī in einem seiner bekanntesten Texte beschreibt: „Es klopfte einer an des Freundes Tor. / ‚Wer bist du‘, sprach der Freund, ‚der steht davor? / Er sagte: ‚Ich!‘ Sprach der: ‚So heb dich fort (…)‘.“ Anders, als er schließlich „verbrannt“ zurückkehrt: „ ‚Wer steht dort vor dem Tor?‘ / Er sagte: ‚Du, Geliebter, stehst davor!‘ / ‚Nun, da du ich bist, komm, o Ich, herein – / Zwei Ich schließt dieses enge Haus nicht ein!“ (Mathnawī I, 3056–63, Übersetzung Annemarie Schimmel, Düsseldorf 1978, 200 f.). Dann allerdings entfällt auch die Möglichkeit, überhaupt noch von einem Individuum in Unterscheidung zu Gott zu sprechen, zwischen dem Gleichheit oder Identität zu Gott bestünde – es ist einfachhin das absolute, göttliche Sein.
Ibn ‘Arabī hat eine solche Perspektive dahingehend systematisiert, dass „Sein“ letztlich überhaupt nur Gott selbst meinen könne. Später wird man dafür die Formel „wah.dat al-wuğūd“ (Einheit des Seins) prägen. Ibn Taimīya wertet sie freilich als Häresie, da sie eine Identifikation (ittihḥād) und sogar ein Einwohnen Gottes (ḥulūl) impliziere. Ganz ähnliche Probleme bekam Meister Eckhart. Auch er veranschaulicht das Entfallen von Differenz mit dem Bild von Eisen und Feuer (das sich unter anderem schon bei Origenes und Richard von St. Viktor findet).
Auch er hebt mit Eriugena und arabischen Autoren hervor, dass „Sein“ letztlich Gott selbst meine, so dass umgekehrt, bei jedwedem Seienden angesetzt, nach Hinwegnahme aller Besonderheit einzig Gott selbst besteht. Eine päpstliche Bulle hat einige herausgegriffene Einzelsätze Eckharts verurteilt, andere für missverständlich erklärt. Letzterem hat insbesondere Nikolaus von Kues zugestimmt, aber auch aufzuzeigen versucht, dass durchaus orthodoxe Lesarten möglich sind: „Intelligente Leser“ fänden bei Eckhart durchaus „Subtiles und Nützliches“ und letztlich laufe nichts auf einen Zusammenfall von Schöpfer und Geschöpf hinaus (Apologia doctae ignorantiae, Nr. 25).
Diese Beispiele illustrieren markante Parallelen christlicher wie islamischer Mystik in der Grundtendenz zu Verinnerlichung und Unmittelbarkeit. Einzelne Motive (zum Beispiel das des Feuers) gleichen sich ebenso wie die herangezogenen philosophischen Theorie- und Begriffszusammenhänge. Auch bezüglich der kontroversen Wirkungsgeschichten gibt es Parallelen. Das Spektrum an Positionierungen wäre allerdings erheblich zu erweitern, um einen adäquateren Eindruck vom Reichtum beider Traditionen zu vermitteln. Das beträfe auch unterschiedlichste Akzentuierungen etwa von Intellektualität und Affekt, von kontemplativem Weg und aktivem, sozialem Engagement, von Unmittelbarkeit und sprachlichen, rituellen, symbolischen Vermittlungsstrukturen göttlicher Gegenwart.
Grundtendenz zu Verinnerlichung und Unmittelbarkeit
Ein heutiger theologischer Rückgriff hätte dabei auch Auskunft zu geben, welcher Stellenwert welchen mystischen Traditionen aus welchen Motiven für die wissenschaftliche Theologie im religionspluralen Kontext zukommen soll. Was könnte ihr möglicher Beitrag zu gegenwärtigen Fragestellungen sein, etwa zur Weite oder Enge der jeweiligen Auffassungen von Rationalität, Vernunft- und Subjektbegriff oder zu religionstheologischen Fragen?
Aus jüngeren Debattenbeiträgen, die für systematisch-theologische Fragen auf Traditionen mystischer Theologie zurückgriffen, seien ausblickhaft nur jeweils ein Beispiel christlicher und islamischer Theologie genannt. So hat Johannes Hoff (Oxford) im Rückbezug auf die philosophische mystische Theologie des Cusanus für eine grundsätzliche Neubestimmung philosophischer und theologischer Rationalität und ihrem Verhältnis zur Moderne plädiert: Hoff sucht einen „mittleren Weg“ zwischen den Eindeutigkeitsfiktionen säkularer Wissenschaftsideale und dem „ganz normalen Chaos“ postmoderner Populärkultur (The Analogical Turn, Grand Rapids 2013). Ohne, wie in Teilbereichen der „Radical Orthodoxy“ (vgl. HK, August 2002, 407 ff.), das emanzipatorische Erbe der Moderne zu vernachlässigen, wird dabei menschliche Vernunft inmitten kontextabhängiger, spiritueller und liturgischer Rahmenbedingungen verortet.
Ebenfalls eine stärkere Gewichtung von ästhetischen und handlungsbezogenen Aspekten entwickelte unlängst Milad Karimi (Münster), bezogen zunächst auf den Glaubensbegriff („Vom Glauben als Sehnsucht nach Gott“, in: Jahrbuch für Islamische Theologie und Religionspädagogik 1 [2012] 215–238). Im Rückgriff unter anderem auf Überlegungen Muḥammad al-Ġazzālīs und seines jüngeren Bruders Aḥmad und mit methodischen Anleihen an Hegel plädiert Karimi für eine spezifische Bestimmung des Glaubens als Glaubensakt: Dieser dürfe nicht verstanden werden als „Ergebnis eines wie auch immer gearteten Kalküls“. Glaube sei vielmehr Ausdruck intensiven Verlangens nach der ihm vorausliegenden Barmherzigkeit Gottes. Einzelinhalte des Glaubens, wie sie die šahāda formuliert, seien eher Resultat des Glaubens und auch die Pflichthandlungen treten dann erst bestimmend hinzu.
Glaube sei daher, im Einklang mit maßgeblichen Wortmeldungen der islamischen Scholastik, zuvorderst ein Verlangen, „das über jede Handlung hinaus die tiefe und zugleich unmittelbare Bindung des Menschen zu Gott in Atem hält“. Die Traditionen islamischer Mystik werden so als eine Ressource erschlossen, um die ästhetisch-spirituelle Grunddimension des Islam zur Geltung zu bringen. Solche Revitalisierungen können eine Inspiration sein gerade auch für die oft in Engführungen auf bestimmte, zeitbedingte Paradigmen befangene christliche Theologie.