Sie sind anfangs bezaubert voneinander und sind doch allein. Sie hängen an Menschen, an Dingen und am Geld und kommen von allem nicht los. Sie verschulden sich und versprechen einander, sie sind unruhig und können nicht bleiben, sie haben Sehnsüchte und können sich nicht erinnern, sie sind randständige Gefangene des Lebens und „neidisch auf den Tod, der die Liebe bedeutet“. Sie heißen Eddi und Cleo, Johnny und Else, oder Franz und Rosa, Zucker und Habersatt, Linda und Finn, Mira und Josef, Fadoul und Absolut.
Für den, der einmal von den Stücken Dea Lohers berührt wurde, gehören diese Figuren künftig zur eigenen Welt; er wacht mit ihnen auf und geht mit ihnen zu Bett. Er hört ihre Stimmen an seinem Schreibtisch, auf Spaziergängen und wenn es nachts still ist. Aber es ist nachts nicht still, denn auch nachts hört er wieder ihre Stimmen wie in warmen mediterranen Sommern die Zikaden tagsüber.
Die Texte entfalten eine eigensinnige Faszination
In der Theaterlandschaft Deutschlands entfalten die Texte der 1964 in Traunstein geborenen Dea Loher eine eigensinnige Faszination, weswegen es kaum wundert, dass sie seit vielen Jahren die in ihrer Heimat und in der Welt am meisten gespielte deutsche Dramatikerin ist. Dea Loher studierte zunächst Germanistik und Philosophie sowie später (unter anderem bei Heiner Müller) Szenisches Schreiben an der Hochschule der Künste in Berlin. In den üblichen Darstellungen wird sie wohl auch deswegen vor allem in die Tradition der politischen Dramatik Bertolt Brechts gestellt. Im öffentlichen Bewusstsein gilt sie landläufig als „Schmerzensfrau“ des deutschsprachigen Theaters. Diese Zuordnungen sind nicht ganz falsch, aber sie verdecken letztlich weit mehr, als sie erhellen.
Dea Lohers Dramen und Texte kreisen um das Verlorene, die lebenden Toten, die Verschwundenen und die Verstorbenen. Sie sind namenlos wie die ertrinkende Frau mit roten Haaren (Unschuld), heißen Nina und Fritz (Am Schwarzen See), Edgar (Das letzte Feuer) oder haben wirklich gelebt, wie Luca Mezzanotte (Bugatti taucht auf). Dea Lohers Fragen sind elementar. Es sind die Fragen nach der Kontingenz und Grundlosigkeit der eigenen Existenz, nach der Schuld und nach den Anlässen der Scham und nach einem Leben mit der Sehnsucht, endlich heilsam angeschaut und berührt zu werden. Kurz: Es sind die Fragen nach dem „verlorenen Ich“ und nach „der Unzuverlässigkeit der Welt“. Dea Lohers Stücke beginnen dort, wo die sinnstiftenden Antworten von Kultur, Psychologie, Politik und Religion ihre Vorläufigkeit offenbaren und zeigen, dass viele ihrer Antworten vor allem das Ressentiment gegen das Leben, die Liebe und die Suche nach Glück verdecken.
Viele Zeitgenossen haben sich an den leeren Himmel und die metaphysische Obdachlosigkeit gewöhnt und sind leidlich vergnügt. Für sie ist das Band von Glück und Sinn, Schmerz und Erlösung, Dasein und Bleibenkönnen gerissen und das stört sie kaum. Anders Dea Loher. Sie sucht nach einem Ort des Bleibens und hält den Himmel offen. Sie scheut keinen Aufwand und erinnert uns daran, dass hier auf Erden Treue und Trost einen hohen Preis haben.
Ihr Roman „Bugatti taucht auf“ erzählt von Jordi und von seiner irrwitzigen, höchst aufwändigen Bergung eines Bugatti Typ 22 Brescia nach 75 Jahren vom Grund des Lago Maggiore. Luca di Mezzanotte, ein junger Mann, wurde von einer Gruppe Jugendlicher getötet. Zu seiner Erinnerung holt Jordi das Auto vom dunklen Grund des Sees.
„Jordi holte Luft. Es wird das Auto von Luca sein. Ihm werden wir es widmen. Ein ertränktes, versenktes Auto für einen erschlagenen, zu Tode getretenen Jungen. Nichts weiter? Nichts weiter. Und dafür der ganze Aufwand? Dafür der ganze Aufwand.
Und wenn es schiefgeht? Wenn es schiefgeht, war es umsonst. Lachen werden sie über uns. Lustig machen werden sie sich. Kann sein. Glück werden wir brauchen. Einen Versuch ist es wert, allemal. Allemal.“
Kaum etwas verachtet die Moderne so sehr wie die Lächerlichkeit, und nirgendwo offenbart sie ihre Unbarmherzigkeit und Mitleidlosigkeit wie hier. Auch hat die Moderne verlernt, traurig zu sein und darüber die Lebenslust, das Glück verloren, vielleicht auch die Aussicht auf Erlösung. Dea Loher hält es mit Jordi: „Einen Versuch ist es wert, allemal. Allemal.“
Ihre Figuren finden sich im Netz des Lebens gefangen, in einem Netz von Schmerz und Glück, von dunklen und hellen Verknotungen, mit seinen vielen Beziehungen und Verbindungen, die gleichzeitig zerstören und am Leben erhalten. Ihre Figuren führen ein in das Geheimnis von Verrat und Treue, in die fatale Steigerung von Verbundenheit und Verletzbarkeit, in die Verstrickungen unserer durch Wahrheit und Lüge durchwirkten Geschichten. Und regelmäßig bricht die Frage auf: Woher aber nimmt Dea Loher die unglaubliche Energie für ihre Figuren?
Der Zuschauer tritt in eine Welt erschreckter Stimmen
Auf den Gesichtern ihrer Figuren findet sich immer wieder ein Staunen, erschreckt, verschämt, verblüfft, irritiert, verwundert. Ein Staunen, in dem den Figuren ihre Lage, ihre Situation aufgeht, ihnen aufgeht und dämmert, dass es für sie dort, wo sie sind und sein möchten, kein Bleiben und kein Wohnen ist.
„Ich bin voll ruhelosem Staunen, aber von der herrlichen Erwartung, die mich einst erfüllte, ist nichts geblieben…“ Das notiert Katherine Mansfield in ihren Tagebüchern, und es könnte eine Notiz von Dea Loher sein.
Ein zu viel an ruhelosem Staunen und ein zu wenig herrlicher Erwartung, ein merkwürdig verkehrtes Ineinander einer Fülle, die etwas verheißt, und ein Nichts an Erwartung, eine staunende Unruhe, die Energie frei setzt. Dea Loher – so scheint es – verfügt über die Gabe des Staunens auch und vor allem dort, wo die Erwartung ausfällt und nur das leere Warten bleibt.
Von Dea Lohers Texten – gleich ob von den Stücken „Unschuld“, „Das letzte Feuer“, „Diebe“, und schließlich „Am schwarzen See“ (in der kongenialen Inszenierung von Andreas Kriegenburg am Deutschen Theater) oder von ihren Erzählungen „Hundskopf“ oder ihrem Roman „Bugatti taucht auf“ – geht ein beängstigender und belebender Sog der Fülle aus. Mit diesem Sog tritt der Zuschauer und Leser ein in eine reiche Welt erschreckten Staunens, die immer auch eine Welt des Lobens ist und erkennt: Alles Loben gründet in einem Staunen, das nach Worten sucht und sie meist findet, kommt von einer beglückenden und erschreckenden Ahnung einer Fülle her, die verstört und erhebt. Und ungewöhnlich ist die Einsicht, dass auch ein Staunen, das ein Erschrecken ist, in das Lob führen kann. Merkwürdig genug sind es gerade viele religiöse Menschen, die diesen Zusammenhang vergessen, den Marie-Luise Kaschnitz so beschrieben hat:
„Daß wir nicht aufhören auszusagen und daß wir auch im Untergang noch zu loben vermögen, ist das nicht bedeutsamer als alle Schrecken, alle traurigen Veränderungen, (…) Manchmal kommt es mir vor, als läge in der Tatsache des Weiterbestehens ein Wunder, das uns viel mächtiger als aller Untergang zu erregen vermag.“
Martin Heidegger irrte, als er die Angst dem Nichts und der Leere zuordnete. Die Menschen haben vor allem Angst vor der Fülle. Angst ist Angst vor der Fülle der Welt, ihrem unübersichtlichen Durcheinander. Sie haben Angst, in ihrem unübersichtlichen Gewusel und Gewebe unterzugehen und zu verschwinden.
Dea Lohers Stücke sind Einübungen im Umgang mit der Angst vor der Unzuverlässigkeit der Welt. Sie verfügt über eine Kunst, ihre Schönheit zu entdecken. Diese Schönheit hat nichts – darauf hat Ulrich Khuon hingewiesen – mit ästhetischen Normen oder gar Erhabenheit zu tun, „sondern mit der Fülle des Lebens“, wie Dea Loher sie verwandelt.
Schon das Leben, wie es ist, ist zu viel. Und das Mögliche erdrückt zusätzlich. Die Not verpasster Chancen und Möglichkeiten, der Konjunktiv vergessener oder verfehlter Sehnsüchte durchwirkt das Werk von Dea Loher wie die traurig-komischen Seufzer von Frau Habersatt: „Wenn ich ein Tankwart wäre….“ Das Leben, wie es hätte sein können, belastet den Menschen, und dieser Konjunktiv klingt wie ein Seufzer nach Erlösung, der keine Antwort mehr erwartet und sich an sich selbst genügen muss, ein Seufzer, der doch darauf wartet, dass sich etwas ändert und zum Besseren fügt.
Lothar Müller hat über Dea Loher geschrieben: „Das echt Dramatische ist dort zu finden, wo ein Leben auf dem Spiel oder auf der Kippe steht. Es wird aber dramatisch nur, wenn es in eine Sprache eingeht, die dieses Auf-dem-Spiel- oder Auf-der-Kippe-Stehen beglaubigt. Dieses doppelte Finden – das Finden einer Situation und das Finden einer Sprache, die nicht schon in der Situation selbst enthalten ist – zeichnet das Werk von Dea Loher aus.“
Lothar Müller gibt einen entscheidenden Wink zum tieferen Verständnis von Dea Lohers Stücken. Es geht um das Ineinander von Situationsfindung und Sprache, und dieses Ineinander macht die Wucht und Tiefe, den traurigen Trost der künstlerischen Arbeit von Dea Loher aus.
Die Situationen, in die sich die Figuren Dea Lohers hineingestellt finden, sind Brechungen einer Fülle, die nicht zu bewältigen sind, eine Unzahl feiner und grober Bindungen und Netze, in denen die Figuren darauf warten, erblickt und angesehen zu werden. Alle Netze aber sind gesichtsfeindlich, auch das Netz der Beziehungen, die wir knüpfen und in denen wir gefangen sind. Das Netz ist das Antiphysiognomische (Byun Chul Han) schlechthin, das Netz scheint alle Gesichter, alles Ansehen und Ansehnliche, alles Gesichtshelle unter sich zu begraben. Die Figuren stricken immerzu an den Netzen und übersehen sich….
Das Kümmern und die Sorge in den Bindungen der Menschen ist etwas Großes, aber es reicht nicht aus, denn es bleibt ambivalent. Was sie wollen und suchen ist: Angesehen zu werden, ist das Gegenüber des liebenden Blicks, die Wertschätzung und vielleicht sogar der Satz: Du bist schön!
In diesem Sinne zutiefst berührend ist eine Szene aus ihrem Stück Unschuld, das 2011 von Michael Thalheimer im Deutschen Theater inszeniert wurde. Immer wieder wendet sich Rosa an ihrem Ehemann Franz mit der Bitte, sie endlich anzusehen. „Ich dachte, daß du mich mal ansiehst. (…) Nicht, dass du dich umdrehst nach mir, bewahre, das kann ich nicht erwarten. Nur, dass du mich mal ansiehst. (…) Und vielleicht würdest du zu mir sagen, du hast so schön gefärbtes Haar.“
Ihr Ehemann Franz aber schaut sie nicht an. Er ist ein Leichenwäscher und sorgt sich um die Toten, denen er das Haar kämmt. Für seine Frau aber hat er keinen liebenden und aufmerksamen Blick übrig und auch dann nicht, als diese sich in ihrer Not zwischen die Toten legt.
In den gesichtslosen Netzen des Lebens lässt Dea Loher die Gesichter ihrer Figuren erstehen, getragen von Stimmen, fremden und eigenen, ihren zögernden Wiederholungen von Sehnsüchten, Wünschen, den rituell-monotonen (allzu oft lächerlich-komischen) Seufzern eines beschädigten Lebens…
„Wenn ich ein Tankwart wäre….“
Die Figuren sind liebenswert, erhalten Ansehen und ein schönes Gesicht. Ihre Figuren haben Angst und müssen doch mutig sein, sie wollen mit liebenden Augen angesehen werden, aber sie schämen sich. Ein „Schamriss“ geht durch ihren Körper, und sie senken den Blick.
Sich schämen können, dürfen und müssen ist dem Staunen verwandt. Eine schamlose Welt aber mag nicht mehr staunen, sie flieht den Schmerz der Scham und vergisst, dass noch im „Schamriss“ ein eigentümlicher negativer Trost leuchtet.
Dea Loher findet zu den Situationen eine eigene, vertraut-fremde Sprache. Das hat Lothar Müller betont und genauer ausgeführt. Die Prosa und die Theaterstücke Dea Lohers – so Müller – „wurzeln in Sprachschichten, die seit Luthers Bibelübersetzung in der deutschen Literatur immer neu umgegraben wurden, (…) Die Energien der Vertikale, des Hinabsteigens in ältere Sprachstollen, gehen in die horizontale, synchrone überaus gegenwärtige Welt ein, von der wir lesen oder die wir auf der Bühne sehen (…) alle O-Töne sind rhythmisch gefiltert und verschmelzen mit den Wiedergängern aus den vertikalen, diachronen Schächten der Sprache, in denen alte Versmaße anklingen“.
Was Lothar Müller hier beschreibt, lässt sich zu einem tieferen Verständnis mit einem Text über die Zikaden zusammenbringen, den Dea Loher ihrem Stück „Diebe“ beigefügt hat. Und dieser Text ist ein Text über das Los der Menschen, über Sterben, Auferstehen und über das Weitersingen und beginnt so:
„Wie eine Zikade
So viele Male hat man mich getötet,
so viele Male bin ich gestorben.
Dennoch bin ich hier,
wie jemand der wieder aufersteht.
Dem Unglück vielen Dank,
und auch der Hand mit dem Messer,
weil sie mich so schlecht getötet hat,
dass ich weitergesungen habe.
Wie eine Zikade in der Sonne habe ich weitergesungen,
nach einem Jahr unter der Erde,
wie ein Überlebender,
der aus dem Krieg zurückkehrt.
So viele Male hat man mich ausgelöscht,
so viele Male bin ich verschwunden,
meinem eigenen Begräbnis wohnte ich bei,
allein und weinend.
Einen Knoten ins Taschentuch habe ich dabei gemacht,
aber später habe ich wieder vergessen,
dass es nicht das einzige Mal war,
und ich habe weitergesungen.“
Der getötete Mensch. Wie ein Zikade. Und die älteren Sprachschichten, das Klingen der alten Versmaße, das kaum mehr hörbare Flüstern unserer Vorgänger. Auch für sie gilt: wie Zikaden. „Zitate sind Zikaden“, schreibt Ossip Mandelstam.
„Zitate sind Zikaden“. Sie zirpen und zirpen. Ihr Zirpen ist wie ein Hüten der Zeit. Sie sind Wächter des Erwachens und Auferstehens und Zeugen des Todes, den sie gleichmütig hinnehmen. Ihr Zirpen ist mal lauter, mal leiser, ein tragender Hintergrund unseres Lebens. Wir wären ärmer ohne sie und doch retten sie uns nicht.
Christoph Ransmayr hat diesen scheuen, urzeitlichen Tieren eine Beschreibung gewidmet: „… daß die Larven mancher Arten dieser Sänger sieben, dreizehn, ja siebzehn Jahre unter der Erde verbrachten, dabei Hülle um Hülle der Verwandlung einer kriechenden Larve in ein Flügelwesen abstreiften und langsam und unbeirrbar höher stiegen, bis sie endlich die Oberwelt erreichten, das Licht. Aber hier, nach der Entfaltung ihrer Flügel und all den Jahren in der Finsternis, blieben ihnen nur noch wenige Lebenstage, in denen sie Paarungs- und Reviergesänge anstimmten, sich in Fortpflanzungsrituale verstrickten, Eier ablegten. Dann fielen sie wie Laub von den Bäumen – die singenden Männchen zuerst, die zeitlebens stummen Weibchen Tage später. Und aus den Eiern krochen Larven wieder hinab in die Finsternis, in die Erde, um dort sieben, dreizehn oder vierzehn Jahre auf den Tag ihrer Rückkehr ans Licht zu warten.“
Dea Loher und die Zikaden. Das Leben der Menschen ist kurz und viele sterben vor der Zeit. In jedes Leben aber, so kurz es auch sei, mischt sich das Flüstern vieler Stimmen, das Rumoren der Lebenden und Toten, der Vergessenen und Verlorenen. Der Weg vom Dunkel zum Licht ist weit und der Aufwand, der für seine Überwindung getrieben werden muss, ist ungeheuer. Ob sich der Aufwand lohnt, ist ungewiss.
Dea Loher hat die Gabe des Staunens, sie scheut keinen Aufwand und verbündet sich mit der Zuversicht der Zikaden: „Wie eine Zikade in der Sonne habe ich weitergesungen….“
Die Stücke halten den Himmel offen
An eine Dramatikerin wie Dea Loher ergeht zwangsläufig die Frage: Und wie steht es mit dem Ausgang des Dramas? Gibt es eine Aussicht auf eine glückliche Fügung, vielleicht auf Heil oder sogar Erlösung?
Ihr bislang letztes Stück „Am Schwarzen See“ erzählt die Geschichte von Nina und Fritz und ihren Eltern Cleo und Eddie, von Else und Johnny. Seit dem gemeinsamen Selbstmord ihrer Kinder aus Liebe haben sie sich seit vier Jahren nicht wiedergesehen. Nach und nach werden am Rande des Schwarzen Sees die Bilder der Erinnerung klarer und dunkler.
Vor vier Jahren warteten Cleo und Eddie, Else und Johnny am Ufer des Schwarzen Sees und können die Kinder nicht sehen. Nina und Fritz sind ertrunken, aneinander gebunden, und Cleo sagt:
„Ihr seid dann hingeschwommen
Johnny und Eddie sind hingeschwommen
und haben sie aus dem Wasser geholt
und sie waren aneinander gebunden
an den Handgelenken
sie waren tot und aneinander gebunden
und trieben mit dem Gesicht nach unten
mit dem Gesicht nach unten im Wasser
Der Fischer und Else und ich
wir standen am Ufer
standen wir
und Johnny und Eddie
haben sie aus dem Wasser geholt
und auf die Erde gebettet
vorsichtig
sie haben sie nebeneinander auf die Erde gebettet
sie waren aneinander gebunden
an den Handgelenken
waren sie aneinander gebunden
und sie haben sie auf die Erde gebettet
mit dem Gesicht nach oben.
Pause
Wir haben am Ufer gewartet
Else und ich
wir konnten sie nicht erkennen
nicht gleich
Pause
Wir sahen sie an und gingen hin zu ihnen
und beugten uns über sie
Sie lagen mit dem Gesicht nach oben
auf der Erde
an den Handgelenken
waren sie
aneinander gebunden
wir beugten uns über sie
und sahen sie an
sehr lange
mir kam es sehr lange vor
ich habe bis heute nicht aufgehört
sie anzusehen
bis heute stehe ich da
und sehe die Kinder an
wie sie daliegen
ich habe bis heute nicht aufgehört
sie anzusehen.
Ich stehe da
am Ufer des Schwarzen Sees
und sehe die Kinder.“
Die Stücke von Dea Loher schmerzen und beglücken. Sie mindern das Ressentiment auf das Leben und verurteilen nicht den Neid „auf den Tod, der Liebe bedeutet“. Sie lehren die Größe von Trauer, Lächerlichkeit und Scham.
Der christliche Zuschauer wird an diesem Punkt an Paulus denken und sich wünschen, dass er seiner Verheißung trauen darf. Wie schön und beseligend wäre es, wenn Paulus Recht hätte. „Wir sehen jetzt durch einen Spiegel ein dunkles Bild (ainigma); dann aber von Angesicht zu Angesicht. Jetzt erkenne ich stückweise; dann aber werde ich erkennen, wie ich erkannt bin. Nun aber bleiben Glaube, Hoffnung, Liebe, diese drei, aber die Liebe ist die größte unter allen.“ (1 Kor 13,12 / Übers. Christian Lehnert)
Am Ende aller Geschichten würde uns ein liebender Blick erwarten, das lichtvolle Gesicht Christi, das uns sieht und von dem wir liebend angesehen werden. Die Zukunft wäre ein Ineinander von Gesicht und Licht, eine lichtvolle Begegnung von Angesicht zu Angesicht.
Dea Loher scheut keinen Aufwand, und ihre Stücke trösten. Sie halten den Himmel offen. Sie kennen die Freude am Gelingen und sie lassen staunen. Sie tun das, was Jordi tut: „‚Es geht darum, die Erwartung zu unterlaufen. Etwas zu tun, was keiner vorhersieht oder besser, ja besser noch, dessen Ausgang keiner kennt.“ Am 3. November 2013 wurde Dea Loher im Deutschen Theater der Ludwig-Mühlheims-Theaterpreis 2013 verliehen.