Auf der einen Seite der Limburger Bischof Franz-Peter Tebartz-van Elst, auf der anderen Seite Papst Franziskus, zugleich der Bischof von Rom. Der eine entspricht den Vorstellungen, wie man sich einen Bischof wünscht, der andere überhaupt nicht. Die Frage, was nun einen guten Bischof ausmacht, ist älter als der jüngste Skandal. Schon bei der Einsetzung der ersten Bischöfe waren die Anforderungen hoch. Und die Christen wurden auch nicht müde, Fehlverhalten anzuprangern. Wie also ein Bischof sein Amt in Zukunft ausüben sollte, erfährt man am besten im Blick auf die lange Geschichte dieses Amtes. Die frühesten Erwähnungen von Bischöfen gehen bereits auf das Neue Testament zurück. In den christlichen Missionsgebieten brauchte es nach der Weiterreise der Apostel Menschen, die in den entstandenen Gemeinden geistliche Orientierung boten und das Gemeindeleben organisierten. Wahrscheinlich legten die Gründer der frühesten Christengemeinden diesen Männern die Hände auf, um ihnen zeichenhaft den bischöflichen Dienst zu übertragen. Anders als heute gab es in den Gemeinden zeitgleich mehrere Bischöfe. Sie beriefen die Gemeindeversammlungen ein und leiteten sie. Sie standen dem Abendmahl vor und vollzogen die Taufen. Sie verwalteten die materiellen Mittel der Gemeinde, sorgten für die notwendige Ordnung und regelten die Armenunterstützung vor Ort. Die Entwicklung des christlichen Bischofsamtes durchlief drei Stufen: Eine noch bis in das 1. Jahrhundert zurückreichende Kirchenordnung aus Syrien, die heute als Didache bekannt ist, legt die Messlatte für die Eignung zum Bischofsamt von Anfang an hoch: „Wählt euch nun Bischöfe und Diakone, die des Herrn würdig sind, Männer, die sanftmütig, nicht geldgierig, aufrichtig und bewährt sind.“ Also: Die von ihren Gemeinden als Bischöfe bestimmten Männer sollten alltagstauglich und – das war damals implizit mit gemeint – möglichst als Familienväter erprobt sein. Ohne Gewinn- und Herrschsucht, stattdessen frei und beherzt sollten die Bischöfe ihren Dienst versehen (1 Petr 5,2.3). In einer guten Balance von Autorität und Zuwendung, würde man heute sagen. Auf einer zweiten Entwicklungsstufe verschwand im Verlauf des 2. Jahrhunderts der „Mehr-Personen-Episkopat“ und eine Person übernahm die Aufgaben des Bischofs in der Gemeinde, weil dies organisatorisch vorteilhaft war. Im 3. Jahrhundert gelangte die hier geforderte Stellung des Bischofs schließlich auch zu einer kirchenrechtlich abgesicherten Geltung.
Auf der dritten Entwicklungsstufe des Bischofsamtes erhielten jene Bischöfe eine Ehrenstellung, deren Städte direkt mit dem Wirken der Apostel in Verbindung gebracht wurden (Jerusalem, Alexandria, Antiochia, Konstantinopel und Rom). Nachdem der Primat unter diesen Städten mit Vorrangstellung auf Rom zugelaufen war, sollten dann noch bis zur Gründung des (heute von Bischof Tebartz-van Elst geleiteten) Bistums Limburg (1827) noch fast anderthalb Jahrtausende vergehen. Das im Evangelium verwurzelte Leitungsideal, dass ein Bischof für die christliche Botschaft einstehen und dabei möglichst bescheiden und menschenzugewandt leben soll, hat bis heute Bestand. Ungeachtet aller Amtsmissbräuche: Stets sind die Freude und die Nöte der Menschen die maßgeblichen Orientierungspunkte für seine Predigt-, Verwaltungs- und Lehrtätigkeit geblieben.
„Wählt Aufrichtige, nicht Geldgierige!“
In dem Maße, wie das westliche Christentum im 4. Jahrhundert das niedergehende Heidentum in seiner öffentlichen Bedeutsamkeit ablöste, trat die christliche Predigt an die Stelle der paganen Rede. Die Predigt, die sich gegenüber der heidnischen Rede als eine neue literarische Gattung ausformte, zählte damals zu den wichtigsten Aufgaben eines guten Bischofs. Diese Zuschreibung verdient Beachtung, denn ursprünglich war auch die Laienpredigt verbreitet. Erst in dem Maße, wie sich im 4. Jahrhundert theologische Lehrstreitigkeiten entwickelten, galt der Bischof als erster Prediger in seiner Gemeinde. Er gab die Richtung vor: Mit Haut und Haar, mit Worten und Taten trat er für ein Christentum ein, wie er es aus den Jesus-Zeugnissen herauslas. Normalerweise hielt der Bischof die Homilie innerhalb des Gottesdienstes nach der Verlesung der heiligen Texte. Die Herausforderung bestand für ihn darin, die Verbindungslinien zwischen diesen Texten und dem Leben seiner Zuhörerinnen und Zuhörer aufzuzeigen. So mühte er sich darum, seiner Gemeinde mit der Predigt alltagskonkret christliches Orientierungswissen anzubieten und sie dazu zu ermutigen, die Worte der gottesdienstlichen Lesungen gemäß den aktuellen Erfordernissen in das Alltagsleben zu übersetzen.
Aus den heiligen Texten wurden Lebensperspektiven entwickelt
Freilich ist die bischöfliche Anregung zu einer christlichen Lebensweise nicht einfach mit einer wohlwollend-unverbindlichen Einladung zu verwechseln. Mehr denn je fühlten sich die altkirchlichen Bischöfe persönlich für die Christlichkeit jedes einzelnen Gemeindemitglieds verantwortlich. Für jeden dem Christentum verloren gegangenen Menschen glaubten sie später, entsprechend vor Gott zur Rechenschaft gezogen zu werden. So prägte ihre eigene Sorge vor dem Gerichtshandeln Gottes immer auch ihre Predigten. Bischof Maximus von Turin (+ zwischen 408 und 423), der anhand seines schriftlichen Nachlasses einen perspektivreichen Einblick in das Leben eines Bischofs aus dem 4. Jahrhundert gibt, bringt die Zeit und Ewigkeit umschließende Ernsthaftigkeit der Predigtbotschaft klar zum Ausdruck: „Die Predigt des Bischofs ist denen, die gerettet werden, eine Belehrung, denen aber, die verurteilt werden, ein Zeugnis. Denn wir bezeugen diesen schon vor dem Tag des Gerichts, was sie in diesem Gericht erwartet, sodass sie keine Ausrede haben und der Sünden angeklagt und der Verachtung preisgegeben werden.“
Doch beschränkte sich die bischöfliche Homilie keineswegs auf die „Drohbotschaft“. Dominant waren vielmehr die Lebensperspektiven, die gute Bischöfe aus den heiligen Texten adressartenorientiert entwickelten. Hören wir erneut Maximus von Turin, von dem eine mehr als 100 Predigten umfassende und damit für die damalige Zeit ungewöhnlich umfangreiche Predigtsammlung überliefert ist: „Lasst uns, Brüder und Schwestern, unseren Vater Abraham nachahmen. Doch warum sage ich ‚Abraham‘: Lasst uns Gott, unseren Vater, nachahmen. Wenn Gott nämlich will, dass Menschen aus unterschiedlichen Völkern in der einen Herberge des Himmels wohnen, warum leben nicht wir, die wir Brüder sind, miteinander in einer einzigen Herberge?“
Diese Grundbotschaft, dass alle Menschen Menschen sind, ja Brüder und Schwestern gegenüber dem göttlichen Vater, schärfen auch andere Bischöfe der Alten Kirche nachdrücklich ein. So formulierte Augustinus (+ 430), einer der initiativreichsten Bischöfe des 5. Jahrhunderts, mit besonderem Nachdruck auf der für ihn selbstverständlichen Inklusion von behinderten Menschen gegenüber seinen Zuhörern: „Wer immer irgendwo auf Erden als Mensch, also als sterbliches vernunftbegabtes Lebewesen geboren ist, er mag eine für unsere Begriffe noch so ungewohnte Körperform haben, an Farbe, Bewegung, Stimme, Kraft und Teilen seiner natürlichen Eigenschaften noch so sehr von anderen abweichen. Kein Gläubiger soll zweifeln, dass er seinen Ursprung aus jenem einen zuerst gebildeten Menschen herleitet.“ Auch Menschen mit Handicaps sind Menschen, und sie stammen wie alle anderen Menschen von Adam ab.
Das Beharren auf Menschlichkeit im Umgang mit anderen und sich selbst schärft mancher altkirchliche Bischof anlässlich des Kriegs- oder Verteidigungsfalls in seiner Stadt ein. Bischof Maximus predigt angesichts der zeitgenössischen Attacken durch die Barbaren auf Turin, dass sich echte Christen nicht erstrangig äußerlich, sondern vor allem innerlich „rüsten“ sollten, und zwar vor den Angriffen des Bösen aus dem eigenen Herzen: „Wir nehmen wahr, wie die Tore der Stadt bewehrt werden. Wir müssen überdies in uns selbst die Tore der Gerechtigkeit bewehren. Jenes (äußere) Tor der Stadt ist nämlich aus Eisen, Stein und Pfählen erbaut; dieses (innere) Tor der Gerechtigkeit ist mit Barmherzigkeit, Unschuld und Keuschheit bewehrt. Jenes wird durch eine Menge von Speeren beschützt, dieses wird durch eine Vielzahl von Gebeten verteidigt. Und zum vollen Schutz der Städte pflegen die Zeichen der Principes vor den Toren zu stehen, vor den Toren unserer Seelen aber stehe das Zeichen des Erlösers.“
Die vorgetragenen Beispiele veranschaulichen wie nebenbei, dass sich ein guter Bischof der Alten Kirche mit seinen Predigten nicht von vornherein auf die Christen beschränkte. Vielmehr fühlte er sich für alle Menschen seiner Stadt (civitas) verantwortlich. Gregor I. (+ 604) konnte aus diesem Grunde sogar darüber predigen, was es für ihn hieß, als Bischof von Rom die Leitung der dortigen „Stadtwerke“ innezuhaben, nachdem die dafür ehedem tätig gewesenen „Fachleute“ wegen der Angriffe der Barbaren längst die Stadt verlassen hatten! Nicht weniger Aufmerksamkeit verwendete er in seinen Predigten auf die Herausforderungen, die sich daraus ergaben, die vielen Armen der Stadt mit dem Nötigsten zu unterstützen.
Der gute Bischof hat ein Herz für Menschen unterwegs
Nicht zuletzt kirchenrechtliche Normen und Kritik an den Amtsinhabern verdeutlichen konkret bis ins Alltägliche hinein, wie sich Christen einen glaubwürdigen Bischof vorstellten. Als einer unter vielen hat sich Bernhard von Clairvaux (+ 1153) immer wieder kritisch über die Amtsführung von Bischöfen geäußert. Sein Urteil ist überzeugend, weil er durch viele internationale Kontakte gut unterrichtet war und zugleich aus einer mönchischen Spiritualität auf die Dinge schaute. Anstatt aus einer falsch verstandenen klerikalen Solidarität heraus zu schweigen und den Missstand sogar noch zu unterstützen, forderte er in der Mitte des 12. Jahrhunderts den Bischof von Laon brieflich zur Freigebigkeit auf: „Seit Antritt Eures Bischofsamtes haben wir bis zum heutigen Tag von Euch keine segensreiche Gabe erhalten, weder ‚Geldbeutel noch Vorratstasche noch Schuhe‘ an den Füßen.“ Offenbar, so der Vorwurf, hatte der Amtsträger kein Herz für „Christen unterwegs“, also für Pilger auf ihrem geistlichen Weg! Der Bischof, der selber an einem festen Ort mit guten Einkünften lebte, verweigerte sich gegenüber denen, die auf seine Solidarität angewiesen waren.
Je höher das Amt, umso größer die Pflicht
Auch in einem zwischen 1139 und 1146 verfassten Schreiben an den Bischof Balduin von Pisa kommt Bernhard von Clairvaux auf den fragwürdigen Umgang mit Materiellem zu sprechen: „Es heißt, dass es bei Euch Leute gibt, die die Geschenke lieben.“ Jemand hatte für die Auswechslung eines Pächters erstens eine fragwürdige Geldzahlung angenommen (Bestechungsgeld – würde man heute sagen) und dieses zweitens auch noch „heimlich“ getan. Hier kritisiert Bernhard sowohl den kaum zu rechtfertigenden Vorgang als auch die Uneinsichtigkeit des Bischofs, der das „Vorkommnis korrigieren könnte, es aber nicht tut“. Grundsätzlichere Töne schlägt Bernhard in einer Notiz von 1129 gegenüber dem Bischof von Lucca an: „Der Bischofssitz, den Ihr erlangt habt, ist eine Bürde, nicht eine Ehre, er ist Aufgabe, nicht Titel, schließlich ist er ein Ort der Tugenden, nicht des Reichtums.“ Bernhard warnt Karrieristen davor, das Bischofsamt für persönliche Eitelkeiten anzustreben und zu missbrauchen. Richtig verstanden, geht es für den Bischof allein um einen evangeliumsgemäßen und einfachen Lebensstil zugunsten der ihm Anvertrauten. Bei den Worten Bernhards fühlt man sich an Erzählungen aus den ersten fünf Jahrhunderten der Christentumsgeschichte erinnert. Sie berichten über Männer, die zu Bischöfen gewählt worden waren, sich aber aus Angst vor der übergroß empfundenen Bürde des Amtes in dunklen Wäldern oder unzugänglichen Kellern versteckten, um so dem drohenden Schicksal vielleicht doch noch zu entkommen.
Über alle Einzelkritiken an der Amtsführung von Bischöfen hinaus kursierten besonders seit dem 15. Jahrhundert einige Kleinschriften, die die wichtigsten Amtsideale für Bischöfe einzeln aufführen. Zur persönlichen Orientierung hielt man sie den Bischöfen wie einen Spiegel vor. Deshalb heißen diese Schriften auch bis heute „Bischofsspiegel“.
Auf den Theologen Johannes Gerson, der 1429 starb und lange Jahre als Rektor der Universität Paris gewirkt hatte, geht ein solcher „Bischofsspiegel“ zurück. Er enthält strenge Maßstäbe für die Lebensführung der Amtsträger: Der Bischof soll selber gut predigen und andere entsprechend schulen, damit das Evangelium unter den Menschen bekannt wird. Als Mittel der bischöflichen Verkündigung gilt Gerson nicht allein das Wort, sondern auch der persönliche Lebensstil. Er wusste genau, wovon er sprach, wenn er die Einfachheit als Grundmaxime bischöflicher Lebensführung einschärfte: kein Luxus im Essen und im Trinken, bei der Dienerschaft und im gesamten Aufwand. Das Kirchengeld soll möglichst für die Armen ausgegeben werden. Gersons Grundsatz angesichts vergangener und aktueller Amtsmissbräuche: je höher das kirchliche Amt, umso strenger die Pflicht zu einem untadeligen Lebensstil. Sogar das Papsttum und dazu noch tausend weitere kirchliche Ämter nützen einem Bischof vor Gott und den Menschen nichts, wenn er nicht erstrangig für die Armen eintritt, wie Gerson unterstreicht. Selbst noch das Geld für den Bischof, das ohnehin nur das Lebensnotwendige abdecken soll, sieht Gerson allein davon abhängig, dass der Bischof auch wirklich für die Menschen eintritt.
Der gute Bischof in der Moderne zeigt Entschiedenheit
Lorenzo Giustiniani, der bis zu seinem Tod 1456 als Erzbischof von Venedig wirkte und für seine ansprechenden Predigten wie für seinen einfachen Lebensstil bekannt war, fasst seinen Bischofsspiegel in einem einzigen Satz zusammen: Ohne Predigt können Bischöfe gerettet werden, ohne vorbildlichen Lebenswandel nicht! Auch manche Ordensgründer des 16. Jahrhunderts und die Konzilsväter auf dem Konzil von Trient (1545–1563) hielten den Bischöfen den Spiegel vor: Auf Herzensfrömmigkeit und theologische Bildung, auf Predigt und Seelsorge kommt es an. Um diese Ziele zu erreichen, muss sich ein Bischof in seinem Bistum aufhalten und die Gemeinden besuchen. Er darf sich in seinem Amt nicht gegen Geldzahlungen vertreten lassen und soll in seinem Sprengel einen theologisch geschulten Klerus heranbilden. Umgekehrt: Der ideale Bischof ist kein kriegerischer Feldherr und kein pompöser Bauherr, kein Liebhaber der Jagd und kein Halter kostbarer Hunde.
Die wichtigsten Eigenschaften, die einen guten Bischof seit dem 1. Jahrhundert auszeichnen, blieben auch in der Moderne maßgeblich: persönliche Verwurzelung im Evangelium, menschliche Erfahrung, reife Urteilskraft, organisatorische Kompetenz, beherzter Einsatz für die Menschen, darunter vor allem zugunsten der Armen und Bedürftigen. Überdies ging es einem Bischof in der Moderne immer wieder darum, die Menschen zu einer persönlichen Entschiedenheit zu bewegen.
Im 19. Jahrhundert mussten die Bischöfe die genannten Qualitäten hierzulande vor dem Hintergrund rascher gesellschaftlicher Veränderungen beweisen: Im Gefolge der Industriellen Revolution und dem damit verbundenen Bevölkerungswachstum waren sie gefordert, in den Ballungsgebieten viele neue Kirchengemeinden zu gründen, Ordens- und Vereinsgründungen zur Beheimatung der Menschen zu unterstützen sowie ortsübergreifende Maßnahmen gegen die Armut zu initiieren. Besonderes Ansehen als Vorkämpfer gegen die Armut erwarb sich der Mainzer Bischof Wilhelm Emmanuel Freiherr von Ketteler († 1877) – übrigens bis hin zu bedeutenden Anstößen für die Abschaffung der Kinderarbeit: „Ich halte die Fabrikarbeit der Kinder für eine entsetzliche Grausamkeit unserer Zeit“, mahnte er. Als Kontrapunkt zu einem papst- und hierarchieorientierten katholischen Christentum, das in Deutschland seit der Mitte des 19. Jahrhunderts sein Profil vielfach in der Abwendung von der aufklärerisch geprägten Gesellschaft entwickelte, schlugen Bischöfe nach dem Zweiten Weltkrieg neue Töne an.
So empfahl sich der Münsteraner Bischof Michael Keller († 1961) als Vorkämpfer für christliche Entschiedenheit, zu der er den einzelnen Menschen inmitten einer sich mehr und mehr pluralisierenden Umwelt herausgefordert sah. Immer wieder rief er die Eltern dazu auf, sich keinesfalls mit einem „unentschiedenen Gewohnheitschristentum“ zu begnügen. Stattdessen ermutigte er sie, zu mündigen Christen zu werden, um dann auch ihre Kinder zu einer selbstständigen Entscheidung für das Christentum zu führen. Aus dieser Option leitete Keller einige zu seiner Zeit hoch umstrittene pastorale Konsequenzen ab. So warb er dafür, dass die Kinder nicht mehr jahrgangsweise zur Kommunion geführt wurden, sondern dann, wenn es ihr je persönlicher Entscheidungsprozess zuließ: „Eltern und Erzieher können nicht verhindern, dass das Kind mit der Luft, die es umgibt, auch den Geist der religiösen Gleichgültigkeit und sittlichen Ungebundenheit einatmet, von dem diese Luft erfüllt ist. Da bedarf es stärkster Gegenmittel, um diese Bazillen unschädlich zu machen. Gibt es stärkeres als Christus, den göttlichen Kinderfreund selbst, den Quell aller Gnaden im Herzen der Kinder?! Bevor die ‚Welt‘ überhaupt Eingang in das Heiligtum der sich erschließenden Kinderseele gefunden hat, muss Christus schon in ihm unumschränkt gegenwärtig sein.“
Das Aggiornamento für Bischöfe: ehrlich und kommunikativ
Übrigens: Wie stark der Einsatz für christliche Entschiedenheit zum „Markenzeichen“ von Bischof Keller während der fünfziger Jahre wurde, spiegelt sich auch in seiner Sorge um die ihm in seinem Bistum anvertrauten Priester wider: „Ihnen gehört meine Hirtenliebe an erster Stelle. Sie kennenzulernen, an ihren Sorgen und Wünschen teilzunehmen, mit ihnen zu überlegen und zu beraten, ihnen zu helfen, soll meine erste Sorge sein.“ Eben aus dieser urgemeindlich inspirierten Gemeinschaft sah er seine Mitbrüder gleichermaßen als Vorkämpfer für die christliche Entschiedenheit: „Aus dem Gesagten ergibt sich die Notwendigkeit, dass der Bischof und seine Priester in Wahrheit ein Herz und eine Seele sind, wenn eine wirklich erfolgreiche Seelsorge ausgeübt werden soll.“
Während der sechziger Jahre – und damit zu Beginn des Medienzeitalters – riefen die Konzilsväter des Zweiten Vatikanischen Konzils die für einen guten Bischof bedeutsamen Qualitäten neuerlich in Erinnerung: unter anderem die Fähigkeit zur Verkündigung des Evangeliums, Leitungskompetenz für die innere und äußere Organisation des Bistums, überdies Einsatzfreude zugunsten der Menschen, besonders der Bedürftigen. Vor allem anderen sollen die Bischöfe in ihrem Lebenswandel glaubwürdig sein: „Sie sollen daran denken, dass sie in ihrem Wandel und ihrer Obsorge für Gläubige und Ungläubige, Katholiken und Nichtkatholiken, (…) das Zeugnis des Lebens geben“ (Lumen gentium, Nr. 28). Tatsächlich waren und sind die Qualitäten guter Bischöfe gefragt, wenn Menschen in ihren Kirchengemeinden das traditionelle Angebot nicht mehr ausreicht (Hl. Messe in der Pfarrkirche, Ortsvereine, tägliche Gebete usw.) und sie sich mit Hilfe der gestiegenen Mobilität anderswohin orientieren – innerhalb und außerhalb der Kirchen. Neben anderen kirchlich-überregionalen Angeboten schaltet sich hier zunehmend auch das bischöfliche Spitzenpersonal mit bistumsweiten Angeboten ein, die die Adressaten zugleich für ihr Engagement vor Ort neuerlich inspirieren sollen: bischöfliche Segnungsfeiern, Diözesankirchentage, bischöfliche Jugendgebete, Wallfahrten mit dem Bischof, Dialogforen mit dem Bischof usw.
Für Bischöfe, die leitungs- und kommunikationsfreudig, charismatisch und sprachmächtig, ehrlich und glaubwürdig sind, eröffnet sich aktuell ein weites Betätigungsfeld. Es steht zudem im Blickpunkt der Medien. Freilich ist diese zunehmend auf einzelne Bischöfe konzentrierte Perspektive auch anfällig. Der medial verstärkte Kontrast zwischen Tebartz-van Elst einerseits sowie Papst Franziskus andererseits zeigt es: Ebenso wie das Versagen einzelner Amtsträger zur öffentlichen Skandalisierung führt, die allzu leicht auf die gesamte Kirche bezogen wird, überstrahlt eine Persönlichkeit wie Papst Franziskus gegenwärtig alles. Nicht allein, dass dieser Bischof die Sehnsucht vieler Menschen nach Individualität und Ganzheitlichkeit verkörpert und ihm nicht einmal eine gewisse Institutionenskepsis fremd ist. Vor allem wird er als Hoffnungsträger gefeiert, der als guter Bischof für die Lebenskraft der christlichen Botschaft und vor allem für die Menschlichkeit in der Weltgesellschaft einsteht.