Nun ist es endlich da, das neue „Sozialwort“ der Kirchen. Genau 17 Jahre nach der Veröffentlichung des Gemeinsamen Wortes „Für eine Zukunft in Solidarität und Gerechtigkeit“ am 28. Februar 1997 haben Ende Februar dieses Jahres der Vorsitzende des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD), Nikolaus Schneider, und der Vorsitzende der Deutschen Bischofskonferenz, Erzbischof Robert Zollitsch, einen im Vergleich zu 1997 sehr kurzen „Impulstext“ mit dem Ziel vorgelegt, „eine breite gesellschaftliche Debatte für eine erneuerte Wirtschafts- und Sozialordnung“ und damit eine „Ökumenische Sozialinitiative“ anzustoßen. Der Text ist unter dem Titel „Gemeinsame Verantwortung für eine gerechte Gesellschaft“ in der Reihe „Gemeinsame Texte“ erschienen (Nr. 22; Bonn, Hannover 2014).
Schon Ende 2009 hatte Nikolaus Schneider, damals noch Präses der Evangelischen Kirche im Rheinland, den Vorschlag gemacht, sich mit der katholischen Kirche gemeinsam erneut zu sozialen Fragen zu Wort zu melden. Dabei war deutlich zu spüren, dass es ihm auch darum ging, nach der von vielen als zu „neoliberal“ wahrgenommenen Unternehmerdenkschrift der EKD aus dem Jahr 2008, die noch unter dem Ratsvorsitz von Wolfgang Huber erarbeitet worden war, wieder mehr auf die Gewerkschaften zuzugehen, die Position der EKD wieder stärker in die Mitte oder – je nach Interpretation – nach links zu rücken (vgl. HK, August 2008, 384 und Februar 2009, 75 ff.). Das wurde von der katholischen Seite nicht unbedingt genauso als notwendig angesehen, sondern eher mit einer gewissen Zurückhaltung aufgenommen.
Den Hintergrund bildete die seit Beginn der christlich-liberalen Koalition ab Ende 2009 vor allem in der SPD deutlich anwachsende Kritik an der Reformpolitik Gerhard Schröders (1998 bis 2005) und der von der ersten Großen Koalition (2005 bis 2009) beschlossenen „Rente mit 67“. Auf dem Ökumenischen Kirchentag in München 2010 einigten sich dann Zollitsch und der nach dem Rücktritt Margot Käßmanns neu gewählte EKD-Ratsvorsitzende Schneider darauf, ein solches neues gemeinsames Wort tatsächlich in Angriff zu nehmen (vgl. HK, Oktober 2010, 497 ff.).
Seitens der Evangelischen Kirche waren dabei der Sozialethiker und seit 2011 Bayerische Landesbischof Heinrich Bedford-Strohm und von katholischer Seite der Münchener Erzbischof, Kardinal Reinhard Marx, maßgeblich beteiligt. Die Vorbereitungsprozesse auf Arbeitsebene verliefen aber zunächst sehr schleppend und waren offenbar sehr mühsam. Man begann mit einer Auswertung der gemeinsam oder getrennt verfassten kirchlichen Stellungnahmen nach 1997 (vgl. dazu auch HK-Spezial, „Versöhnt verschieden“, 1–2010, 61 ff.), um auf dieser Grundlage herauszuarbeiten, wo denn Gemeinsamkeiten für ein neues Sozialwort liegen könnten.
Hierin lag bereits ein gewisser Geburtsfehler. Hätte man sich zunächst neu auf eine unvoreingenommene und differenzierte Analyse der aktuellen wirtschaftlichen, sozialen und politischen Situation Deutschlands eingelassen, wäre die Chance wohl größer gewesen, nicht nur relativ Bekanntes zu wiederholen, sondern auch Aktuelleres und Zukunftsweisenderes zu sagen.
Erst im Frühjahr 2013 wurde auf einer gemeinsamen Arbeitstagung der Kammer für soziale Ordnung der EKD und der DBK-Kommission für gesellschaftliche und soziale Fragen in München, zu der auch weitere Experten eingeladen waren, eine erste Vorlage diskutiert – übrigens sehr kontrovers, was auch daran lag, dass die eingeladenen Experten aus den unterschiedlichsten „Lagern“ kamen. Anwesend waren neben den beiden genannten Bischöfen und Mitgliedern der besagten Kammer der EKD beziehungsweise Kommission VI der DBK unter anderen der Journalist der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ (FAZ), Rainer Hank, der Wirtschaftssachverständige Peter Bofinger, der Europaabgeordnete und frühere ATTAC-Aktivist Sven Giegold und Gustav Horn, der Vorsitzende der Kammer für soziale Ordnung der EKD und Wissenschaftliche Direktor der gewerkschaftsnahen Hans-Böckler-Stiftung.
Gleichzeitig fiel die Entscheidung, mit einem solchen Papier nicht im Bundestagswahlkampf 2013 an die Öffentlichkeit zu treten, um sich nicht dem Verdacht auszusetzen, die Kirchen wollten in irgendeiner Weise parteipolitisch Einfluss nehmen. Dass es dann nach der Bundestagswahl noch einmal fünf Monate dauerte, hatte offenbar damit zu tun, dass die letzten Abstimmungsprozesse zwischen den zuständigen Gremien der evangelischen und katholischen Kirche alles andere als einfach waren, obwohl im Vergleich zu einem nach der Münchener Arbeitstagung Ende Mai 2013 fertig gestellten Text kaum mehr Änderungen vorgenommen wurden. Hinter vorgehaltener Hand war zu hören, dass dieses letzte Ringen um die endgültige Textgestalt so kräftezehrend und schwierig gewesen sei, dass es den unmittelbar beteiligten Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern als Martyrium angerechnet werden könne.
Der Termin der Veröffentlichung, der 28. Februar 2014, war dann auch für eine breite öffentliche Wahrnehmung denkbar ungünstig: Dieser Freitag war der Tag nach Weiberfastnacht und der Tag, an dem Kardinal Joachim Meisners Amtszeit als Erzbischof von Köln endete. Zudem war die öffentliche Aufmerksamkeit durch den „Fall Limburg“, die ersten Jahrestage des Rücktritts Benedikts XVI. und der Wahl des neuen Papstes Franziskus sowie die anstehende Neuwahl des Vorsitzenden der DBK und nicht zuletzt auch durch die Ereignisse in der Ukraine bereits anderweitig in Anspruch genommen. Dass der Tag der Pressekonferenz zur Vorstellung der „Ökumenischen Sozialinitiative“ mit dem 17. „Geburtstag“ des Sozialwortes von 1997 zusammenfiel, war ein glücklicher Zufall.
„Unbehagen, das keine Adressaten hat“
Die ersten, eher spärlichen Reaktionen in Presse und Rundfunk waren sehr unterschiedlich. Die „Süddeutsche Zeitung“ ist überhaupt nur in einem Nebensatz eines Artikels über ein anderes Thema auf die Sozialinitiative eingegangen (7.3.14). Nach Meinung der FAZ spiegelt das Papier im Grunde nur den auch in der Großen Koalition mehr oder weniger mühsam gefundenen Kompromiss hinsichtlich der weiteren Entwicklung unserer Gesellschaft, zugleich aber auch die verbreitete Ratlosigkeit wider, wie denn die Finanzmarkt- und Staatsschuldenkrise oder die drängenden Zukunftsprobleme wie der Klimawandel gelöst werden sollten. „Wünsche, die ins Leere laufen, und Unbehagen, das keine Adressaten hat, finden sich in dem Sozialpapier zuhauf“ (1.3.14).
Für manche ist das Papier zu wirtschaftsfreundlich geraten, was, so Gustav Horn, an den katholischen Bischöfen gelegen habe (Deutschlandfunk, 28.2.14). Franz Segbers, außerplanmäßiger Professor für Sozialethik an der Universität Marburg, sah in diesem Papier nur einen „Segen für die Große Koalition“ (Publik-Forum, schon am 24.2.14); und Bernhard Emunds, Professor für Christliche Gesellschaftsethik an der Philosophisch-Theologischen Hochschule Sankt Georgen und Leiter des Nell-Breuning-Instituts kritisierte, das Papier stehe „in deutlichem Kontrast zu dem, was Papst Franziskus will“ (Kölner Stadtanzeiger, 27.2.14). Der Volkswirtschaftler und Journalist Axel Reimann warf der Sozialinitiative „Plattitüden“, „Binsenweisheiten“ und „Appellitis“ vor – und eine deutliche Rechtslastigkeit: „Wer mit den Axiomen der Neoklassik anfängt, wird immer bei ihren Rezepten landen. Und damit könnte sich die Ökumenische Sozialinitiative auch gut als Unterseite der Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft machen, vielleicht in einer Rubrik ‚Wertemanagement‘ oder ‚Values‘“ (Managermagazin, 3.3.14).
Auf der anderen Seite fand Rainer Hank (Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, 22.2.14) des Kritisierens wert, dass die Kirchen gegen Gier und Maßlosigkeit auf den Finanzmärkten „wetterten“ und beklagten, „dass sich die Ökonomie immer mehr von der Ethik entfernt habe“. Die übelste Polemik lieferte der Kulturjournalist Alexander Kissler (Cicero, 4.3.14): Die Sozialinitiative sei „das derzeit günstigste Einschlafmittel, das der Markt zu bieten hat“, die Kirchen seien ein „Binsenproduzent und Schwafelladen“.
Offenbar befinden sich die Kirchen nach ihrem enormen, teilweise selbst verschuldeten Glaubwürdigkeits- und Autoritätsverlust der letzten Jahre in einem Dilemma: Äußern sie sich ausgewogen und vernünftig, gelten sie bestenfalls als langweilig. Äußern sie sich profiliert und deutlich, wird ihnen von vielen die Kompetenz abgesprochen, überhaupt zu solchen Fragen Stellung zu nehmen. Es wird ihnen Einseitigkeit oder Unvernunft unterstellt oder ein Pakt mit als „böse“ identifizierten gesellschaftlichen Gruppen, seien das die pragmatisch und eigeninteressiert Mächtigen oder moralisierende oppositionelle Strömungen. Und wenn man sie nicht ernst nehmen will, findet man immer noch irgendeinen Aufhänger, um sich über sie lustig zu machen.
Die Kirchen bekräftigen in diesem Impulstext zunächst – und das ist fürwahr nicht mehr bei allen, stark auf rein religiöse oder spirituelle Praktiken ausgerichteten Strömungen in den beiden Kirchen so klar – die zentrale Bedeutung des Doppelgebots der Gottes- und Nächstenliebe. Weil es unmöglich ist, Gott zu lieben, ohne auch den Nächsten zu lieben, müssen sich die Kirchen auch zu Wort melden, wenn Menschen in Armut leben oder von Ungerechtigkeiten betroffen sind und damit auch „politisch“ (nicht parteipolitisch) werden. Das impliziert eindeutig auch eine „Option für die Armen“ (These 7). Damit stimmen sie übrigens mit Papst Franziskus überein, der in seinem Schreiben „Evangelii gaudium“ die „absolute Vorrangigkeit des ‚Aus-sich-Herausgehens auf den Mitmenschen zu‘“ vor allen anderen sittlichen Normen und Glaubenswahrheiten betont (Nr. 179).
Die zentrale Aussage des „neuen Sozialworts“ lautet: Das Modell einer Sozialen und Ökologischen Marktwirtschaft bietet die besten Chancen, die sozialen und ökologischen Probleme auf nationaler, europäischer und globaler Ebene zu lösen. Denn es kann durch geeignete, durchaus den Egoismus der Menschen klug nutzende Anreizstrukturen und Spielregeln („Rahmenbedingungen“) insgesamt zu moralisch erwünschten Ergebnissen führen. Damit kann auch ein fairer Ausgleich zwischen legitimen Freiheitsansprüchen der Individuen, der notwendigen sozialen Gerechtigkeit und der nachhaltigen Berücksichtigung ökologischer Erfordernisse hergestellt werden.
Tatsächlich wird dem im Prinzip jeder zustimmen, der sowohl eine zentralistische Planwirtschaft als auch eine unregulierte Laissez-faire-Wirtschaft als ungeeignet ablehnt. Allerdings – und das macht das Papier an verschiedenen Stellen ebenfalls deutlich – darf das Konzept der Sozialen und Ökologischen Marktwirtschaft nicht dazu dienen, Gerechtigkeitsdefizite ideologisch zu bemänteln, sondern fordert tatsächlich einen an der Forderung nach Gerechtigkeit für alle Menschen ausgerichteten Primat der Politik über die Wirtschaft und eine konsequent darauf ausgerichtete Gestaltung der Rahmenbedingungen für die Wirtschaft.
Das kann und muss für manche, die sonst immer gerne das Lied der Sozialen und Ökologischen Marktwirtschaft singen, auch unangenehme Konsequenzen haben. Und angesichts der verbreiteten Unkenntnis über das Konzept einer „Sozialen und Ökologischen Marktwirtschaft“ ist es sehr verdienstvoll, dass sich die Kirchen in dieser argumentativ-sachlichen und differenzierten Weise dafür stark machen.
Der oft konstruierte Gegensatz zwischen Beteiligungsgerechtigkeit und Verteilungsgerechtigkeit
In insgesamt zehn Thesen wird dieses Konzept in dem Impulstext konkretisiert, wobei sich einige durchaus bemerkenswerte Einzelaussagen finden. Und sie werden nicht weniger relevant dadurch, dass sie nicht nur von den Kirchen, sondern auch von vielen anderen Kräften in der Gesellschaft erhoben werden.
So müssen die Finanzmärkte wieder in den Dienst der Realwirtschaft gestellt werden, was längst noch nicht erreicht ist. Auch globale Märkte brauchen im Sinne des Konzepts Sozialer und Ökologischer Marktwirtschaft eine globale Ordnung, die noch weitgehend aussteht.
Bildungspolitik ist vorsorgende Sozialpolitik. Deshalb muss in sie mehr als bisher investiert werden, besonders auch im Bereich frühkindlicher Bildung. Die Forderung nach einem kostenlosen Kindergartenplatz, die in einer Vorversion von Ende Mai 2013 noch enthalten war, ist für die Endfassung leider gestrichen worden.
Gestrichen wurde in der These 2 leider auch eine Aussage über die „gläserne Decke“, mit der Frauen auf dem Karriereweg nach oben oft konfrontiert werden – und in diesem Kontext leider auch die Bemerkung, hier hätten die Kirchen „Anlass zur Selbstkritik“, wie überhaupt die Frage nach der Anwendung der insgesamt hier erhobenen Forderungen auf die Kirchen selbst bedauerlicherweise nur am Ende äußerst knapp angedeutet wird.
Aufgeräumt wird mit dem oft konstruierten Gegensatz zwischen Beteiligungsgerechtigkeit und Verteilungsgerechtigkeit. Denn beide gehören eindeutig zusammen. Um Beteiligung sicherzustellen, muss eben auch umverteilt werden, denn Chancengerechtigkeit, ohne die auch Leistungsgerechtigkeit nicht legitim sein könnte, setzt Bedarfsgerechtigkeit voraus. Besonders betont wird, dass die Steuerpflicht nicht nur eine rechtliche, sondern eine moralische Bürgerpflicht sei. Durch Steuerhinterziehung begehe man deshalb nicht „nur“ eine Straftat, sondern mache sich „am Gemeinwohl schuldig“.
Weggefallen ist leider die in These 7 der Vorversion noch erhobene Forderung, aus Gründen der Stärkung von Solidarität und zur Minderung von Ungleichheit über eine Besteuerung von großen Vermögen und insbesondere von Erbschaften nachzudenken.
Hinsichtlich der ökologischen Tragfähigkeit unseres Planeten wird den reicheren Ländern der berechtigte Vorwurf gemacht, dass sie weit mehr Ressourcen verbrauchten, als ihnen gerechterweise zustünden, weshalb es zu einer grundlegenden „Transformation der Wirtschafts- und Lebensstile“ kommen müsse. Die Energiewende wird als ein wichtiger Schritt in diese Richtung gelobt.
Erfreulicherweise wird die „Rente mit 67“ angesichts des demographischen Wandels eindeutig als notwendig bezeichnet, was indirekt eine Kritik an den aktuellen Koalitionsplänen bedeutet, unter bestimmten Bedingungen schon mit 63 abschlagsfrei in Rente gehen zu können. Dies kostet sehr viel Geld, nützt allenfalls denen, die meist bereits hohe Rentenansprüche erworben haben und verschärft möglicherweise den Fachkräftemangel. Die ebenfalls sehr teure verbesserte Anerkennung für die Erziehung von vor 1992 geborenen Kindern in der „Mütterrente“ wird jedoch ausdrücklich begrüßt – was auch richtig ist, um die Erziehungsleistung dieser Mütter zu honorieren und sie nicht sehr viel schlechter zu stellen als jene Mütter, deren Kinder ab 1992 geboren wurden.
Vorsichtige Zustimmung zur Einführung eines allgemeinen gesetzlichen Mindestlohns
Die viel geschmähte Maxime des Forderns und Förderns im Rahmen eines „aktivierenden“ Sozialstaates wird grundsätzlich für richtig gehalten. Jeder Hilfeempfänger muss an der Verbesserung seiner Lage mitwirken, gleichzeitig muss der Sozialstaat aber auch die Bedingungen dafür schaffen, dass das möglichst allen Betroffenen auch möglich ist, damit die Balance zwischen „Fordern“ und Fördern“ gewahrt bleibt beziehungsweise wieder hergestellt wird. Besonders die verfestigten Gruppen von Langzeitarbeitslosen müssen deshalb gezielter begleitet und betreut und mit auf den Einzelfall zugeschnittenen Instrumenten unterstützt werden. „Kein Mensch darf als ‚nicht-aktivierungsfähig‘ abgeschrieben werden“ (These 8). Es ist schade, dass dieser sehr wichtige Satz in der öffentlichen Rezeption des Dokuments bisher kaum vorkommt.
Wohl als Reaktion auf entsprechende Kompromisse der Großen Koalition ist in diese These 8 dann auch noch ein kurzer Abschnitt über gesetzliche Mindestlohnregelungen aufgenommen worden, die grundsätzlich für sinnvoll gehalten werden, auch wenn die Kirchen dafür eintreten, dass darauf geachtet wird, „dass bestehende Arbeitsverhältnisse nicht verdrängt und nicht neue Barrieren zum Einstieg in den Arbeitsmarkt geschaffen werden“.
In der Tat wird man sehen müssen, ob die Einführung eines allgemeinen gesetzlichen Mindestlohns auf hohem Niveau nicht doch eher denen schadet, die zu schützen die Vertreter einer solchen Maßnahme vorgeben, weil nämlich doch auch Arbeitsplätze für Geringqualifizierte verloren gehen könnten. In der zehnten These wird dann auch auf die besondere Verantwortung Deutschlands in der Europäischen Union und – wenn auch sehr knapp – auf die besondere Verantwortung Europas als des reichsten Kontinents der Welt für die ärmeren Länder hingewiesen.
Am Ende schließlich finden sich sehr wichtige Ausführungen zur notwendigen Verbindung von Freiheit und Gerechtigkeit und gegen eine Trennung von Ökonomie und Moral. Dabei wird nicht moralisierend nur an die Gewissen der Einzelnen appelliert, sondern noch einmal der Grundgedanke der Sozialen und Ökologischen Marktwirtschaft betont: „Wo Ökonomie und Menschlichkeit in Widerspruch zueinander geraten, stimmt etwas an der ökonomischen Ordnung nicht mehr.“ Dass hier wichtige Grundelemente der neoklassischen Wirtschaftstheorie aufgegriffen werden, ist ja für sich kein Argument dagegen, sondern zeigt, wie sehr sich die Autoren dieses Papiers auf wirtschaftsethische Reflexionen eingelassen haben, wie sie heute eben zum „state of the art“ gehören.
Manche haben dem neuen Sozialwort vorgeworfen, ohne breitere Beteiligung von Experten, kirchlichen Initiativen und zivilgesellschaftlichen Organisationen entstanden zu sein. Dieser Vorwurf ist eigentlich nur dann gerechtfertigt, wenn es dem vorliegenden Papier nicht gelingt, einen solchen Prozess zu eröffnen. Es wird ja dezidiert nicht als ein „letztes Wort“ verstanden. Auch die als Start für den breiteren Konsultationsprozess 1994 veröffentlichte „Diskussionsgrundlage“ beruhte nicht auf breiter Beteiligung.
Dieses Mal wurde, um eine einfachere und breitere Beteiligung zu ermöglichen, die Internetseite „www.sozialinitiative-kirchen.de“ freigeschaltet, auf der der Text abschnittweise kommentiert werden kann, auf der Pressestimmen, Links zu einschlägigen Pressekommentaren und „Testimonials“ als Videobotschaften zu finden sind und Gastbeiträge hochgeladen werden können. Eine solche moderne Kommunikationsmöglichkeiten eröffnende und durchaus ansprechend gestaltete Plattform zu schaffen, ist sicherlich sehr lobenswert. Am 18. Juni 2014 soll in Berlin eine Tagung stattfinden (über die allerdings auf der Internetseite bisher nicht informiert wird), bei der dann das Papier und die Kommentare aus dem Internet mit Experten aus Wissenschaft, Politik, Verbänden und kirchlichen Organisationen diskutiert werden sollen.
Zwei Unterschiede zum Konsultationsprozess von 1994 bis 1997 fallen jedoch auf: Die für den öffentlichen Austausch vorgesehene Zeitspanne bis zu dem geplanten Kongress im Juni umfasst erstens nur dreieinhalb Monate und ist damit sehr kurz. Für die spontanen Reaktionen einzelner auf der Webseite mag das ausreichen, qualifizierte und durch Mitgliedervoten legitimierte Stellungnahmen von Verbänden und Vereinen, differenziert ausgearbeitete Expertisen von Fachleuten oder gemeinsam erarbeitete Ergebnisse von Tagungen, etwa in Katholischen und Evangelischen Akademien, sind innerhalb dieser kurzen Zeit wohl kaum zu erwarten.
Zweitens ist der Zielpunkt des Prozesses nicht klar bestimmt. Damals gab es ein auf der Grundlage des Konsultationsprozesses erarbeitetes gemeinsames Wort. Und sehr viele Menschen fühlten sich geehrt und motiviert, an der Erstellung eines solchen als wichtig erachteten kirchlichen Dokuments zum ersten Mal direkt mitwirken zu können. Wenn dieses Mal nur in Aussicht gestellt wird, die Diskussion zu dokumentieren und zu publizieren, fällt ein erheblicher Teil der damaligen Motivation zur Teilnahme weg. Denn man weiß nicht, ob man mit seinen Eingaben wirklich etwas bewirken kann, ob die Kirchen bereit sind, aus dem Beteiligungsprozess zu lernen. Man weiß nicht einmal, ob sie ihn wirklich ernst nehmen.
Bisher ist die Beteiligung an den Kommentierungsmöglichkeiten auf der Webseite eher gering. Zehn Tage nach ihrer Freischaltung (am 9.3.2014) fanden sich nur 88 Beiträge darauf. Viele davon waren wenig sachlich gehalten, trugen auch wenig zur Sachdiskussion bei und tendierten dazu, sich an Nebenaspekten festzubeißen. Daran wird sichtbar, was man an Erkenntnis auch schon aus anderen öffentlichen Diskussionsforen im Internet hätte lernen können, hier aber offenbar (bislang?) noch nicht umsetzen will: Solche Foren müssen kompetent von Moderatoren begleitet werden, die die Beiträge ordnen, das virtuelle Gespräch sinnvoll strukturieren, Anregungen geben, Zwischenbilanzen ziehen und weiterführende Fragen stellen. Auch sollten gezielt Experten angefragt werden, um zu einzelnen Fragen Stellung zu beziehen. Bei manchen Themen würden auch so einfache Mittel wie ein Faktencheck helfen, die Diskussion zu versachlichen.
Trotz aller Kritik, die man weniger an dem jetzt veröffentlichen Text als vielmehr an der Gestaltung des Konsultationsprozesses üben kann, ist der Wert anzuerkennen, der darin liegt, dass die beiden großen Kirchen in Deutschland nach einer Zeit deutlicher Distanzierung voneinander, die einen ersten Höhepunkt 2009 erreicht hatte und auch durch den Papstbesuch 2011 nicht überwunden wurde, nun doch wieder zu einer solchen gemeinsamen Initiative zusammengefunden haben. In der Tat werden sie ihren schwindenden gesellschaftlichen Einfluss heute nicht mehr gegeneinander, sondern nur noch miteinander erhalten oder womöglich sogar wieder etwas steigern können.
Sicherlich bringt das den Nachteil mit sich, dass man sich um der Gemeinsamkeit willen auf Kompromisse einlassen muss und deshalb in der Öffentlichkeit durch ein solches Papier nicht mehr so viel Aufmerksamkeit erregt. Dieser Nachteil wäre aber dadurch zu beheben, dass die Kirchen stärker als bisher nicht in erster Linie ihre Forderungen an andere richten, sondern sich stärker selbst in die Pflicht nehmen und mit guten oder besseren Beispielen vorangehen.
Böte nicht das anstehende Reformationsjubiläum im Jahre 2017 für die Kirchen eine gute Gelegenheit, um gemeinsam und mit einem breiten, vor allem auf ihre Mitglieder ausgerichteten Konsultationsprozess darüber nachzudenken, was sie selbst tun können und tun sollten, um für mehr Gerechtigkeit und Menschlichkeit in unserer deutschen Gesellschaft und darüber hinaus einzutreten? Das wäre ganz im Sinne der von Papst Franziskus herausgestellten „absoluten Vorrangigkeit des ‚Aus-sich-Herausgehens auf den Mitmenschen zu‘“ (Evangelii Gaudium, Nr. 179).