Die Bedeutung der Aufsehen erregenden Handschriften – heuteJesus kam nicht bis Qumran

Die Aufregung um die ominösen Schriftrollen von Qumran ist abgeflacht. Das macht es leichter, die nötigen Differenzierungen und Präzisierungen aufgrund der bisherigen Erkenntnisse bei der Beschäftigung mit diesen Texten zu vermitteln. Was ist der wissenschaftliche und theologische Gewinn, den die Qumranwissenschaft in den vergangenen Jahren abgeworfen hat?

In den neunziger Jahren entstand urplötzlich eine mächtige Aufregung um die bis dahin der breiten Öffentlichkeit weitgehend unbekannten Schriftrollen von Qumran. Eine kleine Gruppe von Gelehrten war dabei, selbige in akribischer Kleinarbeit zu entziffern, zu rekonstruieren und zu übersetzen – irgendwo in einem stillen Kämmerchen. Die sporadischen Publikationen in eher abgelegenen Organen blieben weitgehend unbemerkt. Doch mehr und mehr begannen sich Bibelwissenschaftler für diese Dinge zu interessieren, schien doch das Wenige, das man in Erfahrung bringen konnte, geeignet, neue Erkenntnisse zu bieten über die Zeit des Frühjudentums zwischen Altem und Neuem Testament.

Das Material erschien jedoch auch auf Nachfragen der Wissenschaftler hin äußerst schwierig bis gar nicht zugänglich. Für diese scheinbare Geheimnistuerei wurden mehrere Gründe genannt: Qumran lag politisch in Jordanien und israelische Gelehrte hätten sich das Material aus Höhle 1 widerrechtlich angeeignet. Die Fragmente aus den Höhlen 2-11 wurden deshalb in das Rockefeller-Museum in Ostjerusalem und nach Amman gebracht, wozu vorerst nur Gelehrte der Dominikaner der École Biblique Zugang erhielten. Von hier aus startete der Dominikaner Roland de Vaux auch die Ausgrabungen in Chirbet Qumran. Alles schien fest in römisch-katholischer Hand. Nur wenigen Wissenschaftlern gelang es – meist über persönliche Beziehungen – gelegentlich einen Blick auf die Fragmente zu werfen. Jetzt wurde die Zurückhaltung damit begründet, dass durch einen weltweiten „call for money“ die Handschriften von den Beduinen aufgekauft worden waren, um im Gegenzug den Sponsoren entsprechende Bearbeitungskontingente und Publikationsrechte einzuräumen, unter anderem auch dem Vatikan, der 20 000 US-Dollar beigesteuert hatte.

Als nach fast 50 Jahren die Texte von Qumran immer noch nicht ediert waren, wurde das Gerücht gestreut, dieses wissenschaftliche Debakel müsse einen anderen Grund haben. Es konnte eigentlich nur eine Institution geben, die ernsthaft daran interessiert sein musste, die Edition dieser Texte aus der Zeit rund um Jesu Geburt und Beginn der Urkirche zu unterdrücken: die Kirche. Die Texte reichen vom 3. Jahrhundert vor bis 68 nach Christus, umfassen also auch die Zeit Jesu und die der Urkirche. Qumran lag in der judäischen Wüste, wo Johannes der Täufer aufgetreten und Jesus sich für 40 Tage zurückgezogen hatte. Allen Ernstes wurde behauptet, die Kirche verhindere die Publikation der Texte, weil aus ihnen hervorgehe, wie es wirklich war.

In der Tat betonen Zuhörer und Zuhörerinnen bei Vorträgen auch heute, dass sie sich angesichts des desolaten Erscheinungsbildes der Kirche erhoffen, über Qumran wieder etwas von der ursprünglichen Frische und Dynamik der Jesus-Bewegung zu erfahren. Die heutige Kirche sei so weit von ihren Ursprüngen entfernt, dass das Charisma des Beginns den Menschen nicht mehr zugänglich sei. Die Kirche reguliere und reglementiere, ergehe sich in Reichtum und Palast gewordenen Strukturen, aber die frohe Botschaft von der Befreiung des Menschen komme nicht mehr rüber.

Interesse an Qumran ist also eigentlich ein Interesse an der Kirche. Umso wichtiger ist es, dies zu nutzen, um die nötigen Differenzierungen und Präzisierungen zu vermitteln. Was also ist der wissenschaftliche und theologische Gewinn, den die Qumranwissenschaft bisher abgeworfen hat?

Sicher ist, dass die Textfunde aus Qumran ein Glücksfall sind, denn sie decken eine empfindliche Literatur-Lücke zwischen dem Ausgang des Alten Testamentes und den ersten Schriften des Neuen Testamentes ab. Sie sind für die Analyse des späten Hebräischen wichtig, belegen wichtige semantische Verschiebungen und bezeugen die Existenz einer konservativen Theologie, die sich wohltuend neben der dominierenden Gesetzesfrömmigkeit der Pharisäer positionieren konnte und in der Tat manche Ähnlichkeiten zur Botschaft Jesu zeigt.

Rund um die Ausgrabungsstätte Chirbet Qumran am Nordwestufer des Toten Meeres wurden zwischen 1947 und 1957 insgesamt 11 Höhlen erschlossen, aus denen rund 960 mehr oder weniger fragmentarische Handschriften geborgen wurden. Gut 210 Handschriften enthalten Bibeltexte, aus denen hervorgeht, dass Qumran fünf unterschiedliche hebräische Bibeln hatte: eine Textpluralität, wie sie auch noch den Kirchenvätern bekannt war, die später jedoch aus dogmatischen Gründen auf einen einzigen Bibeltext verdichtet wurde. Daneben bieten uns die Handschriften auch die deuterokanonischen (Luther: apokryphen) Bibeltexte in Hebräisch, die uns bisher nur aus der griechischen Bibel bekannt waren. Das hat zur Folge, dass nach Qumran die Textgeschichte der Bibel neu geschrieben werden muss.

Die biblische Text- und Kanongeschichte müssen neu geschrieben werden

Doch auch die vielen Kopien des Henoch- und des Jubiläenbuchs signalisieren, dass Qumran sich nicht dem rabbinischen Diktum unterwarf, dass Gott sich den Menschen nur in der Zeit zwischen Moses und Artaxerxes geoffenbart habe (Flavius Josephus, Contra Apionem 1,38). Vielmehr glaubten die Qumraner im Gegensatz zum gesamten Judentum ihrer Zeit an die Fortdauer göttlicher Offenbarung, die wiederum den Grundstoff lieferte für weitere Bücher mit kanonischer Dignität – eine entscheidende Übereinstimmung mit dem Urchristentum. Damit musste auch die Kanongeschichte neu geschrieben werden.

Ein Überblick über die Qumrantexte zeigt uns neben den Bibeltexten viele Nacherzählungen biblischer Texte mit reichlich zusätzlichem legendarischen Material wohl zu pädagogischen Zwecken. Daneben finden sich Gesetzessammlungen, die das Zusammenleben dieser frommen orthodoxen jüdischen Gruppe regeln sollten. Durch die demonstrative Abwendung vom Jerusalemer Tempel mit seinem umfassenden Regelwerk musste diese Gruppe ihre Identität neu bestimmen und sich auf der Basis ihres priesterlich geprägten Selbstbewusstseins als Gemeinde organisieren, die sich selbst als Tempel verstand und auf jeden Opferkult verzichtete. Die zahlreichen Weisheitstexte weisen auf eine Gemeinde, die sich mit ihrer Philosophie gegen die weitgehend atheistische oder polytheistische griechisch-hellenistische Philosophie positionierte. Eine große Gruppe kultischer Bücher, Manualien für die Rituale und Festfeiern, Dienstordnungen für Priesterfamilien und Reinheitsvorschriften bestärkte den Verdacht, in Qumran eine stark priesterlich geprägte Gemeinde vor uns zu haben.

Diese Gemeinde legte die prophetische Botschaft von Jes 40,3 „Stimme des Rufers: In der Wüste bereitet den Weg des Herrn!“ anders als Johannes der Täufer (Mt 3,3) aus: Der Täufer predigt in der Wüste, die Menschen sollen jedoch in ihren Städten und Dörfern vom Bösen umkehren. Die Qumraner aber gingen in die Wüste ins Exil, um hier ihre Umkehr zu leben. Sie haben die Jerusalemer Priesterschaft verlassen, weil diese der hellenistischen Säkular-Philosophie anhing. Sie haben sich vom Tempel getrennt, weil dort ein blasphemischer Opferkult praktiziert wurde. Sie selbst lebten in priesterlicher Reinheit, studierten unablässig die Tora und beachteten auch Bestimmungen, nach denen schon Noach, Abraham und Isaak weit vor Moses gelebt haben.

Führt man diese Charakteristika zusammen, verdichtet sich das Bild von der Qumrangemeinde so, dass man in mancherlei Hinsicht einen Vergleich mit dem, was wir von der Jerusalemer christlichen Urgemeinde wissen, anstellen könnte. Dies verstärkt sich, wenn man einen kurzen Blick in die Frühgeschichte dieser Gemeinde wirft. Qumran führte sich zurück auf eine recht umfangreiche Bewegung von „Frommen“ (Chassidim) im Judentum während der hellenisierenden Pogrome gegen die Jerusalemer Juden unter Antiochus IV., zur Vertreibung des Hohenpriesters führten. Die diversen Gruppen der Chassidim sahen in ihm die entscheidende geistig-geistliche Autorität und schlossen sich seinem Bestreben an, sie alle zu einer umfassenden „Einheit“ (jachad) – Spezialbezeichnung für die Gemeinde von Qumran – zusammenzuführen. Analog dazu lassen sich hier die Aussagen aus dem Johannesevangelium vom „Eins-Sein“ der Urgemeinde anführen (Joh 10,30; 17,11.21.23). Sie verstanden sich als „Gemeinde des Neuen Bundes“ und sahen in ihrer Führungsfigur den „Lehrer der Gerechtigkeit“, die im Buch Deuteronomium verheißene Gestalt des endzeitlichen Offenbarungsempfängers (Dtn 18,18).

Die Gemeinde wusste sich unmittelbar in der Situation der Endzeit, ihr Denken war geprägt von einer hochgespannten Naherwartung. Das nahe Weltgericht verlangte ein Höchstmaß an Ethik, die sich nicht zufrieden geben konnte mit einer pharisäischen Tora-Observanz oder einer klerikalistischen sadduzäischen Opfermoral. Wie nahe sind wir hier doch den neutestamentlichen Texten ein Jahrhundert später!

Gottesverhältnis als intime Nähe

Die Darstellung der Theologie dieser Gemeinde hat zuerst zu berücksichtigen, dass die Qumraner Juden und damit unmittelbare Erben des Alten Testamentes sind. Und doch sind sie anders als die zeitgenössischen Judentümer, weil sie zentrale „Dogmen“ anders interpretierten.

Obwohl Qumran wie das zeitgenössische Judentum den Gebrauch des Gottesnamens weitgehend vermied, finden sich doch die diversen Gottesnamen in einer auffälligen Dichte. Darin dokumentiert sich eine neue Unmittelbarkeit, in der weniger über Gott als mit Gott und zu Gott gesprochen wurde. Der Terminus „Gott“ meinte die personale Größe, löste sie aber auch auf in eine kollektive himmlische Größe, die die Grenzen von Immanenz (Ko-Existenz mit der Gemeinde) und Transzendenz (Ko-Existenz mit und in Gott) fließend machte. Das mag der Grund dafür sein, dass es in Qumran keine explizite „Monotheismus-Formel“ gab (vgl. Dtn 6,4).

In einer Renaissance der mythischen Sprache (vor allem in den Sabbatopfer-Liedern) wurde es möglich, das Gottesverhältnis der Gemeinde als eine intime Nähe zu beschreiben, ohne die Transzendenz zu verleugnen. Diese einzigartige Konzentration auf Gott zeigt zugleich eine partikularistische Entfremdung der Gemeinde von der jüdischen und erst recht heidnischen Umgebung an. Gott wurde durchaus auch als strafender Gott gesehen, aber seine Haupteigenschaft war seine Gnade, die wie Regentropfen auf die Gemeinde herniederfällt. Sie ist Gegenstand der Offenbarung und Erkenntnis und gilt ausschließlich der Gemeinde. Seine Glorie war im Judentum mit dem Tempel auf dem Zion verbunden, jetzt ist es die Gemeinde, in der sich Gottes Größe zeigt.

Für die Kosmologie rezipierte die Gemeinde die Vorgaben des Deuterojesaja: Gott ist der „Schöpfer“ des Alls und „alles Seienden“ (1QH 20,12), er ist der „Urgrund des Seienden“ (1QS 3,13ff.) – eine Terminologie, die einen reflektierten hellenistischen Einfluss erkennen lässt. Seine Schöpfungsgaben bestehen in Leben, Land, Tora und Bund, jetzt aber auch in Geist, Einsicht, Erkenntnis, Wissen, Weisheit und einem „Herzen der Einsicht“. Er hat den Erdkreis fest gegründet, wobei sein Schöpfungswirken bereits in der prä-kreationalen Phase ansetzt. Vor aller Zeit und vor allem Geschaffenen hat er in der „Wahrheit“ (’æmæt) die der ägyptischen Ma‘at vergleichbare Urordnung gesetzt, das „wahre Gesetz“ (1QS 1,15), die dem Kosmos zugrundeliegende Wirklichkeit des einen Seins, die den überkommenen kosmischen Dualismus letztlich doch zu einer höheren Einheit zusammenführt. Es ist genau der prä-existente Logos, wie er uns aus dem Beginn des Johannesevangeliums in neutestamentlicher Diktion überliefert ist.

Diese eine Wirklichkeit kann deshalb auch nur in „einer“ Gemeinde ekklesiologisch gelebt werden und das Leben ethisch bestimmen, eben in der „Einung der Wahrheit“. Gott selbst ist der Schöpfer dieser Einung, die Gemeinde ist sein Erbteil. Trotzdem kann die Existenz dieser Gemeinde nicht den kosmischen Dualismus negieren: Wahrheit und Sünde erscheinen als zwei kosmische Mächte, die miteinander ringen, ein Kampf, der sich auch im individuellen Beter abspielt und erst im ­eschatologischen Kampf entschieden werden wird (so auch Röm 11,18; 1 Tim 2,4; 3,15). Die Gemeinde ist sichtbares Zeichen göttlicher Erwählung, die sich dokumentiert in einer durch Sonder-Offenbarung und Nähe zu den göttlichen Wesen ermöglichten endgültigen Auslegung der Tora.

Einerseits kollidiert mit solchen Aussagen der feste Glaube an Prädestination und göttliche Determination, andererseits antwortet die Gemeinde auf diese göttliche Erwählung mit Gottesfurcht und Tora-Gehorsam, sieht also für sich eine Entscheidungsfreiheit als Ermöglichungsgrund individueller ethischer Verantwortlichkeit. Die durch die Erwählung bewirkte einzigartige Konstellation wird auch in Qumran mit dem Begriff Bund qualifiziert. In den Texten von Qumran hat dieser Begriff jeden profanen Bezug aufgegeben und dient einzig der Beschreibung dieses besonderen Zustandes zwischen Gott und Menschen.

Dieser Bund des Noah, der Patriarchen und des Moses ist in Qumran jetzt im „neuen/erneuerten Bund“ der Gemeinde endgültige eschatologische Wirklichkeit geworden. Hier liegt der endgültige Fluchtpunkt der Geschichte und Heilsgeschichte Israels, Grund und Anlass, genau diese eschatologische Wirklichkeit jährlich in einer eigenen liturgischen Bundes-Memoria zu feiern.

Im „neuen Bund“ wird das „Verborgene“, das heißt der richtige Kalender und die gerechten „Bezeugungen“ bis hin zur „Seinsordnung“ mit Ewigkeits- und Ausschließlichkeitscharakter aufgedeckt; jetzt gewährt der „Gott der Erkenntnis“ durch Sonderoffenbarung die endgültige Einsicht und macht die Menschen zu „Wissenden“. In dieser Bezeichnung zeigt sich die kreative Antwort auf die spätalttestamentliche Krise der Weisheit. Der erwählte Mensch ist Empfänger der göttlichen Offenbarung und hat als solcher Anteil an der kognitiven Potenz der Engel. Die Gemeinde wird transparent auf die Gemeinschaft mit diesen göttlichen Wesen, deren Präsenz in der Gemeinde im Gegenzug höchste Reinheitsstandards erfordert. Durch diese Offenbarungsgemeinschaft wird die Gemeinde – darin vornehmlich der „Lehrer“ – fähig zur endgültigen Rechtsbelehrung und zur Gotteserkenntnis, die aus sich heraus den Lobpreis entlässt, für Qumran tragender Bestandteil der Liturgie der Bundeserneuerung (vgl. die christliche Eucharistie).

Die Messiaserwartung spiegelt die Naherwartung in politisch katastrophaler Zeit

Die Tora-Observanz hat die Gemeinde zwar mit den Pharisäern gemeinsam, in Qumran aber ist die Tora nicht einfach nur das Gesetz, sondern der Wille und der Wunsch Gottes, das „Grundprinzip“ und „Fundament“ der Gemeinde, dessen Befolgung den Menschen zur Gotteserkenntnis befähigt. Die Gesetzesbefolgung wird zu einer umfangreichen Ethik weiterentwickelt, die als die „Grundlagen der Gemeinde“ bezeichnet wird. Diese wurden von den Priestern gelegt und sind nun bleibende Strukturordnung des Bundes. Der verwendete Begriff „Fundament“ (sôd) ist in Qumran semantisch transparent auf eine wirkliche Grundlegung, aber auch auf ein „Geheimnis“ hin, auf den „Rat“, der exklusiv der Gemeinde von Gott geoffenbart ist.

Der in Qumran dezidiert verwaltete und auf die Gemeinde hin erneuerte „Bund der ewigen Priesterschaft“ (1QSb 3,26) geht zum einen auf eine alte aaronidische Tradition zurück: Die Priester haben die Gemeinde gegründet, sind ihre Träger und bilden ihre hierarchische Spitze. Ihre Hauptaufgabe besteht im Gottesdienst, der aufgrund der Ablehnung des Jerusalemer Opferkultes ganz neue Formen kreieren muss, in denen die Gebetsliturgie als „Hebopfer der Lippen“ eine zentrale Rolle spielt.

Um die Sezession zu vervollständigen, sieht sich die qumranische Priesterschaft in einer Sukzession, die sich nicht mehr nur wie die Jerusalemer Priesterschaft auf Aaron beruft, sondern vielmehr bis in die vor-aaronidische Zeit zu den priesterlichen Urahnen Levi (Dtn 18,1-8), Amram (Ex 6,20) und Hur (Ex 24,14) zurückreicht. Ihre Sukzession ist also älter und damit nach dem presbyteron-kreiton-Argument authentischer. Andererseits beruft sich Qumran auch auf den alttestamentlich weitgehend vergessenen Melchisedek als neue priesterlich-messianische Leitfigur, die dann auch in der Christologie des Hebräerbriefes (Hebr 5,6.10; 7,2f.) eine entscheidende Rolle spielt, wenn dort Jesus „Hoher­priester nach der Ordnung des Melchisedek“ genannt wird.

Die Vorstellungen von Sünde und Schuld rezipieren eindeutig die alttestamentlichen Vorgaben. Jetzt aber kommt mehr die Dichotomie der Welt in Gerechte und Frevler ins Spiel, die durch die Prädestination vorgegeben ist. In dieser Situation ist das Bekenntnis zur Gemeinde der Gerechten in Umkehr und Nächstenliebe der ethisch richtige Schritt. In den Vorstellungen der Sühne löst sich die Gemeinde vom zeitgenössischen Judentum: Sühne ist nicht mehr Verdienst des Menschen und durch Schlachtopfer zu erreichen. Sie wird theozentriert, insofern nur Gott sie ermöglicht. Angesichts dieser göttlichen Vorgabe geschieht eine Ethisierung der Sühnepraxis, die die Gemeinde als Ort der Sühne sieht, wo sie durch ihre Tora-Observanz Sühne leistet, indem sie Gott bewegt, die Priester, die Gemeinde und das Land zu entsühnen.

Aus Ähnlichkeiten und Analogien folgen keine Abhängigkeiten

Im Neuen Testament bricht mit Jesus Christus die Gottesherrschaft an, die in der Gemeinschaft der Christen sichtbare Gestalt annimmt. Die Forschung hat lange Zeit geglaubt, Qumran habe keine Vorstellung von der „Königsherrschaft Gottes“ gehabt. Dies war zutreffend, solange man nur nach dem Terminus malekût („Königsherrschaft“) gesucht hat. Tatsächlich hat Qumran diesen Terminus weitgehend unterdrückt, da die Gemeinde mit einer Monarchie nichts anfangen konnte. Erst als man den Begriff mæmšalah analysierte, wurde deutlich, dass sich die Gemeinde selbst als Herrschaftsbereich versteht, in dem Gott mit seinen göttlichen Wesen präsent ist und sich im Eschaton in seiner ganzen Größe offenbaren und die Weltherrschaft übernehmen wird. Indem die Gemeinde der „Herrschaft Belials“ standhält und ihr durch Tora-Gehorsam und Festhalten am Bund Paroli bietet, wird sie zur „Gegen-Herrschaft“, eben zur mæmšalah Gottes, derer sich jedes Gemeindemitglied am Fest der Bundeserneuerung je neu vergewissert.

Die qumranische Messiaserwartung spiegelt die diffuse Situation gespannter Naherwartung in politisch katastrophaler Zeit wider. Die Erwartung eines messianischen Königs („Messias aus Israel“) wechselt mit der eines messianischen Priesters („Messias aus Aaron“) oder gar eines messianischen Kollektivs („Friedensvolk“). Gelegentlich verwischen die Konturen zum Bild eines Messias, der als Kontrastfigur zu den jeweiligen Zeitläuften postuliert wird.

Die vielen Übereinstimmungen, Ähnlichkeiten und Analogien zwischen Qumran und der jesuanischen Jüngergemeinde haben ihre Gründe in der gemeinsamen sozio-kulturellen Umgebung und in der gemeinsamen jüdischen Überlieferung. Die Gemeinsamkeiten erklären sich weiterhin aus der katastrophalen politischen Situation, auf die das gesamte Judentum mit einer hochgespannten apokalyptischen Messias-Erwartung reagiert hat. Qumran und das Christentum haben auch dies aus ihrer jüdischen Umwelt übernommen. Aus diesen Ähnlichkeiten und Analogien jedoch Abhängigkeiten erschließen zu wollen, geht fehl. Denn es ist nicht zu übersehen: Die Gemeinde von Qumran wird in keiner neutestamentlichen Schrift genannt, wie auch umgekehrt in keiner Qumranschrift belastbare Hinweise auf neutestamentliche Figuren zu finden sind, da die Qumrantexte ausnahmslos aus der Zeit vor der Konstituierung des frühen Christentums stammen.

Die Qumran-Gemeinde und das frühe Christentum waren beide aktive Gruppierungen des Judentums, die davon überzeugt waren, dass der Offenbarungszeitraum noch nicht abgeschlossen war. Qumran hat die hebräische Bibel bevorzugt, die neutestamentlichen Evangelisten die griechische Septuaginta. Beide Gruppen waren überzeugt, dass der Heilige Geist die Generierung weiterer inspirierter Schriften über das Alte Testament hinaus ermöglicht. Beide Gruppierungen haben im Blick auf ihre Struktur und Organisation die Usancen antiker Kultvereine aufgegriffen, wie sie aus dem hellenistischen, aramäischen und nabatäischen Bereich in großem Umfang bekannt waren. Diese Gemeinschaften kannten die Gütergemeinschaft, flache Hierarchien, gemeinschaftliche Gastmähler und Armenfürsorge.

Obwohl die Umkehrpredigt des Täufers auch zentrales Thema qumranischer Frömmigkeit war, gingen Taufe hier und Reinigungsriten dort völlig unterschiedliche Wege, auch wenn beide mit der Sündenvergebung verbunden wurden: Die Taufe vollzog sakramental die Initiation in das „neue Israel“, während das Untertauchen in der Miqwe der kultischen Reinigung diente.

Jesus und seine ersten Jünger waren ausnahmslos Galiläer, die schon seit Davids Zeiten ein gespanntes Verhältnis zu den Judäern hatten. Bezüge Jesu zu Qumran sind deshalb wenig wahrscheinlich. Auch wenn Jesus und seine Apostel sich zeitweise in Jerusalem aufhielten, war eine Begegnung mit Qumranern wegen deren Rückzug aus Jerusalem wenig wahrscheinlich.

Die Qumranforschung der letzten Jahrzehnte hat sehr viele schwärmerische Hypothesen zurückweisen können. Den Dissens zwischen Urgemeinde und Kirche hat sie weder beseitigen noch vertiefen können. Ihre großen Leistungen bestehen darin, dass wir nun die zeitgenössische Umwelt des Urchristentums wesentlich differenzierter sehen können. Neue und belastbare Theorien über die Entstehung und Geschichte biblischer Texte sind jetzt möglich. Die Vorstellungen eines fest begrenzten Kanons verbindlicher Schriften erweisen sich als späteres kirchliches Konstrukt. Vor allem jedoch ermöglichen die Qumrantexte, die literarische Lücke zwischen Altem und Neuem Testament zu überbrücken und dabei die Entwicklung der Semantik tragender theologischer Begriffe, Leitmotive und literarischer Genres präzise zu erfassen.

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