Nach der Theologie im Kirchenlied zu fragen oder Kirchenlieder als Theologie zu betrachten – eine solche Themenstellung klingt zunächst tautologisch und man könnte geneigt sein, sie einfach nur zustimmend zur Kenntnis zu nehmen. Wer wüsste nicht, dass wir es im Kirchenlied mit theologischen Aussagen zu tun haben, ja dass man die Geschichte und Gegenwart des Kirchenliedes als Kompendium der Kirchen- und Frömmigkeitsgeschichte wie auch der Musikgeschichte entfalten kann? Aber gerade in einem Augenblick, da die Einführung eines neuen katholischen Gesangbuches erfolgt, lohnt es sich, danach zu fragen, was wir eigentlich tun, wenn wir als christliche Gemeinde singen.
Als Basisbegründung verweist man gerne darauf, dass die christliche Kirche von Anfang an eine singende Kirche gewesen sei. Das ist richtig, darf aber nicht vergessen machen, dass die jungen christlichen Gemeinden damit jüdisches Erbe übernahmen und fortführten. Insofern war das Singen in judenchristlichen Gemeinden weniger überraschend als in heidenchristlichen.
Dabei soll nur auf ein wichtiges Charakteristikum dieser jüdisch-christlichen Musik- und Singepraxis hingewiesen werden. Sie ist weitgehend von magischen Konnotationen frei, stattdessen aber ein Medium der Aneignung und Verlautbarung von Glaubensinhalten. Psalm 96 bringt dies zum Ausdruck, wenn es im zweiten und dritten Vers heißt: „Singet dem Herrn und preist seinen Namen, verkündet sein Heil von Tag zu Tag! Erzählt bei den Völkern von seiner Herrlichkeit, bei allen Nationen von seinen Wundern.“
Vier Aufforderungen stehen hier nebeneinander: singt, preist, verkündet, erzählt. Singen und Erzählen sind hier kein Wechsel vom hohen zum niederen Stil, sondern gehen wie selbstverständlich ineinander über. So sprach auch Martin Luther häufig in unlösbarem Zusammenhang von „singen und sagen“, nicht nur im Weihnachtslied „Vom Himmel hoch“: „der guten Mär bring ich so viel, davon ich singen und sagen will.“
Doch ist Singen wirklich so selbstverständlich? In unserer Zeit scheint eher das Gegenteil der Fall zu sein. Dafür sind nicht zuletzt katastrophale Defizite unseres Bildungswesens, vom Kindergarten angefangen, mitverantwortlich. Und sicherlich laden auch viele Formen heutiger populärer Musik kaum zum Mitsingen ein. Abgesehen von der auf bewusster Entscheidung beruhenden Mitwirkung in Chören und abgesehen von Fan-Gesängen in Stadien – inzwischen ein Forschungsfeld der Musiksoziologie – sind Kirchgemeinden nahezu der einzig verbliebene Ort, an dem regelmäßig gesungen wird. Dies trifft vielleicht nicht für alle Länder in gleicher Schärfe zu, für Deutschland ist es aber kaum zu leugnen.
Gleichwohl gibt es gute Gründe, Singen als wünschenswerte Selbstverständlichkeit zurückzugewinnen. Im Singen nutzen wir das unserem Körper gegebene „Instrument“, die Stimme, den Atem, den Puls und Rhythmus unserer Lebendigkeit. Dies scheint das stärkste Argument für das Singen zu sein. Es ist eine intensive Form der Erfahrung und Erkundung dessen, was in uns steckt. Weniger hilfreich scheint ein Argument, das in der gegenwärtigen Religions- und religionspädagogischen Debatte zu Gunsten der Musik gerne gebraucht wird, Musik nämlich würde in existenzielle Tiefenschichten führen, die vom Wort nicht erreicht werden, würde gleichsam Unsagbares zum Ausdruck bringen.
Der Hinweis ist häufig dort zu finden, wo nach Anknüpfungspunkten für religiöse Erfahrungen, nach Brücken zur Religion gesucht wird. Stillschweigend scheint man hier vorauszusetzen, dieser Tiefenort sei identisch mit dem Siedlungsort des Religiösen. Sucht man solche Brücken im Bereich unaussprechlicher Gefühlstiefen, dürfte es indes umso schwieriger sein, von dort wieder auf die Ebene kritisch reflektierter Glaubensinhalte zu gelangen.
Gerade in der Reflexion liegt aber ein entscheidendes Moment jüdisch-christlicher Glaubenstradition. „Den Glauben mehr, stärk den Verstand“ heißt es im Lied „Herr Jesu Christ, dich zu uns wend“ (Evangelisches Gesangbuch [EG] 155; Gotteslob, neue Ausgabe [GL] 147); und Luther übersetzt in der dritten Strophe von „Veni creator spiritus“: „zünd uns ein Licht an im Verstand“.
Christliches Singen hat es auch mit dem Verstand zu tun, mit der kritischen Reflexion dessen, was ich singe. Im Text lasse ich mich auf etwas ein, das zunächst nicht meines ist und mich deshalb herausfordert. Singen und Sagen, Emotion und Reflexion bilden einen Zusammenhang, der nicht zerrissen werden darf.
Wo allerdings dieser Zusammenhang von Emotio und Ratio verkümmert, haben Theodor W. Adornos harsche Sätze ihr Recht: „Nirgends steht geschrieben, dass Singen not sei. Zu fragen ist, was gesungen wird, wie und in welchem Ambiente“ (Kritik des Musikanten, in: Gesammelte Schriften, Band 14, Rolf Tiedemann [Hg.], Frankfurt 1997, 83). Werden diese Sätze zitiert (meist verkürzt auf den ersten Satz), rufen sie in Kreisen der Kirchenmusik auch heute noch schiere Entrüstung hervor. Dass sie fatale musikpädagogische Folgen hatten, lässt sich nicht leugnen. Worauf Adorno aber pointiert einseitig zielte, ist der Manipulationsverdacht, unter den gemeinsames Singen geraten kann und der für Adorno auch auf die so genannte Kirchenmusikalische Erneuerungsbewegung zutraf.
Man sollte diesen schmerzhaften Pfeil jedoch aushalten. Denkt man an gewisse Singeformen beispielsweise in den so genannten Lobpreis-Gottesdiensten mit ihren auf unreflektierte Kurzmessages reduzierten Texten, drängt sich der Manipulationsverdacht durchaus auf. Aber auch bei „seriösen“ Kirchenliedern ist das Singen keineswegs so harmlos, wie man gemeinhin denken möchte. Die Geschichte der Kirche und des Kirchenliedes ist sich dessen bewusst gewesen.
Vom Theologischen in Kirchenliedern
Kirchenlieder enthalten Theologie und häufig genug auch theologischen Sprengstoff, gegen den es unterschiedliche Strategien und Schutzwälle gab. Sattsam bekannt ist das frühmittelalterliche Misstrauen gegen „Texttropierungen“ (Ergänzung eines approbierten Textes durch neue Zusätze) oder gegen das spontane volkssprachliche Singen, das immer von der Angst vor unkontrollierten Texten begleitet war. Textänderungen oder das Verschweigen eines Lieddichters, in katholischen Gesangbüchern bekanntlich über Jahrhunderte hinweg bei Luther-Liedern üblich, waren wohl die probatesten solcher Schutzwälle.
Um dem Theologischen in Kirchenliedern nachzuspüren, könnte man frömmigkeitsgeschichtliche Prägungen verfolgen, beispielsweise wann und in welchem Grade der Subjektivität im Kirchenlied „Ich“ gesagt wird. Im Kirchenlied des 17. Jahrhunderts und allen voran bei Paul Gerhardt spielt das „Ich“ bekanntlich eine große Rolle.
Man könnte ebenso über die Balance zwischen theologischer Objektivität und poetischer Freiheit nachdenken, etwa wenn in „Stille Nacht“ behauptet wird, das Kind in der Krippe sei ein „holder Knabe im lockigen Haar“. Und überhaupt wäre über das Kirchenlied als Symbiose von Theologie und Poesie sehr viel zu sagen.
Hier soll der Zugang über zwei Psalmlieder geschehen und damit über eine besondere Gattung des adaptiven Bibelgebrauchs. Für eine vergleichende Betrachtung bietet sich das Psalmlied umso mehr an, weil diese Gattung im 16. Jahrhundert nicht nur spezifische lutherische und calvinistische Traditionen ausbildete, sondern mit Caspar Ulenberg alsbald auch eine katholische.
Schauen wir auf zwei Lieder zu Psalm 23: „Der Herr ist mein getreuer Hirt“ (Augsburg 1531; EG 274) und „Mein Hirt ist Gott der Herr“ (nach Caspar Ulenberg 1582; GL 421). Beide Lieder gehen dem Psalmtext genau nach. Dennoch sind beim Vergleich beider Lieder einige Akzente bemerkenswert.
Im Augsburger Lied fallen in Strophe 1 und 3 zwei Deutungen auf: Das „wohlschmeckend Gras“ in Strophe 1 wird als Gottes „heilsames Wort“ gedeutet; und „Stecken und Stab“ in Strophe 3 werden ebenfalls in einen Bezug zum Wort Gottes gerückt. Derlei findet sich bei Ulenberg nicht. Das „Wasser“ der zweiten Strophe wird als der Heilige Geist interpretiert, Strophe 4 greift dies nochmals auf in der Verbindung von Öl, Geist und „geistlichen Freuden“. Und schließlich geht die letzte Strophe über den Psalm weit hinaus, wenn hier von Christus und der „christlichen G’mein“ die Rede ist.
Es ist unverkennbar, wie mit diesen Stichworten (Wort, Christus, Gemeinde) Charakteristika der typisch lutherischen, nämlich christologischen Relecture des Psalters aufscheinen. Und es ist in sich bereits trinitarisch angelegt, wobei der Bezug auf Christus in Strophe 5 zugleich noch einen Bogen zurück zum Liedanfang schlägt, weil das Bild vom Hirten im christlichen Gebrauch immer auch an Joh 10,11 denken lässt.
Und Ulenberg? In seiner zweiten Strophe heißt es: „Und wenn aus blinder Wahl ich auch im finstern Tal weitab mich sollt verlieren …“ Von Wahl, gar von blinder Wahl ist im Psalm keine Rede. Dort gehört es offenbar zum Geschick menschlichen Lebens, dass wir auch durch finstere Täler gehen müssen. Ulenberg gibt dem eine andere Pointe: Der Mensch hat durch das, was er wählt, sein Geschick selbst in der Hand. Geht es zu weit, hinter dieser Formulierung einen Nachklang der Kontroverse zwischen Luther und Erasmus über die Willensfreiheit zu sehen?
Auch in den weiteren Strophen Ulenbergs finden sich bemerkenswerte Nuancen. Vom Tisch, der „immerdar“ bereitet ist, spricht die zweite Strophe, von ihm werden Kräfte zum Sieg über die Feinde geschenkt. Strophe 4 greift dies mit einem scheinbar unglücklichen Bild auf: „Du hast mein Haupt getränkt, geölt mit Freudenöle“. Verständlich wird die Rede vom „getränkten Haupt“ wohl nur, wenn sie als Hinweis auf die Taufe verstanden wird. Und wenn dem „du schenkest mir voll ein“ der Kelch hinzugefügt wird, so entsteht die Assoziation zur Eucharistie. Die Folie, auf die sich Ulenbergs Psalmübertragung bezieht, sind also die Gnadengaben der Kirche. Taufe und Eucharistie stehen hier als Garanten von Gottes mitgehender Gegenwart und nehmen damit die Stelle ein, die im Lied aus Augsburg „das Wort“ einnimmt.
Es geht hier nicht darum, die eine gegen die andere Fokussierung auszuspielen. Man hat hier aber Beispiele dafür, wie aus unterschiedlichen theologischen Prämissen heraus mit einem zunächst gleichen „Urtext“, dem Psalm 23, umgegangen wird.
Das neue Gotteslob enthält zwei sehr eindrückliche zeitgenössische Psalmlieder, an denen zugleich deutlich wird, wie die genannten Traditionen auch heute noch wirksam sind. „Erhör, o Gott, mein Flehen“ (GL 439) ist eine Edith Stein zugeschriebene Übertragung von Ps 61. Hier sind je zwei Psalmverse zu einer Liedstrophe zusammengezogen, also ganz nach dem strengen Ideal des calvinistischen Liedpsalters. Auffällig scheint überdies, dass gerade eine Ordensfrau das zweimalige „Gelübde“ des Psalms nicht übernimmt, sondern in Strophe 3 mit „Bitten“ und in Strophe 4 mit „Lobesopfer“ umschreibt und auslegt.
Von Diethard Zils wird Ps 137 als „Wir, an Babels fremden Ufern“ in Liedform gebracht (GL 438). In vier Strophen folgt Zils den Psalmversen 1 bis 5, um in der Schlussstrophe den Psalm unter eine christologische Perspektive zu stellen: „Jesu Kreuz sei meine Hoffnung gegen jede Tyrannei“. In gewisser Weise, freilich mehr additiv als intern, nimmt Zils damit die lutherische Tradition einer christologischen Psalmauslegung auf.
Theologische Eingriffe von großem Gewicht
Das Kirchenlied als theologischer Sprengstoff? Das zeigt sich noch schärfer an zwei anderen Beispielen: Das EG hat sich seinerzeit nicht entschließen können, die ökumenische Fassung von „Es ist ein Ros entsprungen“ zu übernehmen. Hatte man sich in der Arbeitsgemeinschaft für ökumenisches Liedgut (AÖL) in der zweiten Strophe darauf verständigt, dass das Röslein der ersten Strophe „Maria, die reine“ ist, „die uns das Blümlein bracht“, so dreht das EG die Sache um und spricht vom „Blümlein, das ich meine (…) hat uns gebracht alleine Marie, die reine Magd“.
Zwar ist damit – im Unterschied zu der noch unsinnigeren Fassung des Evangelischen Kirchengesangbuches (EKG, Mitte der neunziger Jahre vom EG abgelöst) – die Rätselfrage des Liedes, wer das Röslein und wer das Blümlein sei, einigermaßen geklärt. Aber aus einer Marienstrophe ist eine Christusstrophe geworden, vermutlich um zarte protestantische Gewissen nicht zu sehr zu strapazieren. Freilich: auch schon das alte GL hatte die ökumenische Fassung der zweiten Strophe nur anhangsweise berücksichtigt. Und das neue GL kennt nun wieder ausschließlich die traditionelle katholische Textfassung, in der die letzte Zeile („und blieb doch reine Magd“) eine bereits getroffene Aussage wiederholt und damit den mariologischen Akzent verstärkt.
Theologische Eingriffe von noch größerem Gewicht sind an Luthers Lied zu Ps 130 „Aus tiefer Not schrei ich zu dir“ zu beobachten. Die „Gemeinsamen Kirchenlieder“ von 1973 hatten sich, von geringfügigen sprachlichen Retuschen abgesehen, auf die vollständige fünfstrophige Originalfassung geeinigt und dieser für die zweite, die rechtfertigungstheologische Strophe den Kommentar hinzugefügt, „sittliche Leistung und persönliche Verantwortung werden in diesem Lied nicht ausgeschlossen, sondern vorausgesetzt“, um Luthers Rechtfertigungstheologie für katholisches Singen und Sagen etwas zu entschärfen.
Das alte GL kannte indes eine dreistrophige Fassung, die zwar am Rande ein uneingeschränktes „ö“ führte, um dann im Kleingedruckten einzuräumen, dass es sich bei den Strophen 2 und 3 um eine eigene katholische Fassung „nach Martin Luther“ handelt. Diese beiden Strophen stellten nicht nur ein unglückliches Gemisch aus neu erfundenen Zeilen und einigen Luther-Zitaten aus dessen dritter bis fünfter Strophe dar, sondern eliminierten Luthers rechtfertigungstheologische Aussagen.
Doch dann folgte 1999 in Augsburg die „Gemeinsame Erklärung zur Rechtfertigung“, mit der jener Kommentar der AÖL nachträglich geadelt zu sein schien. Und das neue GL? Zunächst sei festgestellt, so viel originaler Luther ist bei diesem Lied in einem katholischen Gesangbuch selten! Der Preis dafür ist freilich recht hoch: Die offenbar nach wie vor anstößige zweite Strophe „Bei dir gilt nichts denn Gnad und Gunst, die Sünde zu vergeben“ ist, 14 Jahre nach der ökumenischen Erklärung von Augsburg, schlicht ausgelassen. Und das „Darum“, mit dem die dritte (beziehungsweise im GL zweite) Strophe einsetzt, verliert seinen eigentlichen Bedeutungszusammenhang.
Die beiden Beispiele mögen genügen um zu zeigen, wie konfessionelle Reinheitsgebote mit dem theologischen Sprengstoff von Liedtexten umgehen. Hier scheint, um es etwas provokant zu sagen, weniger das Ideal „versöhnter Verschiedenheit“ als vielmehr eine um Konfliktpotenziale bereinigte, aber damit vielleicht auch lau und sprachlos werdende Koexistenz am Werke.
Dabei soll keineswegs die gerade für die deutsche Kirchenliedgeschichte so überreiche ökumenische Gemeinsamkeit des Singens verkannt sein. Jedes „ö“ in unseren Gesangbüchern ist erfreulich, ebenso, dass das neue GL davon noch viel mehr hat als das alte. Wir wissen, im Kirchenlied und überhaupt in der Kirchenmusik ist das ökumenisch Gemeinsame und Verbindende umfänglicher und weitreichender, als es das offizielle Verhältnis der Kirchen zuzulassen scheint.
Es ist auch sehr mutig, dass das neue GL dabei auch Lieder unserer Zeit aus dem EG berücksichtigt, die noch nicht einmal in evangelischen Gemeinden so recht heimisch geworden sind, wie zum Beispiel „Wir ziehen vor die Tore der Stadt“ (GL 225) oder „Es wird sein in den letzten Tagen“ (GL 549). Freilich ist der Gebrauch von uneingeklammertem und eingeklammertem „ö“ nicht durchweg zu durchschauen.
So hat „Der du die Zeit in Händen hast“ (GL 257) gar kein „ö“, obwohl es wegen des gemeinsamen Textes bei unterschiedlicher Melodie doch ein „ö“ in Klammern verdient hätte. Wohingegen „Von guten Mächten“ (GL 430) trotz anderer Melodie als im EG-Stammteil ein uneingeschränktes „ö“ besitzt. Und Ben Chorins „Und suchst du meine Sünde“ (GL 274), textidentisch mit dem EG und mit von diesem abweichender Melodie, muss auch auf jedes „ö“ verzichten. Übrigens ist diese Verwirrung teilweise auch darauf zurückzuführen, dass die AÖL in den letzten Jahren gemeinsame Liedfassungen verabschiedet hat, die unerklärlicherweise aber nach wie vor nicht allgemein zugänglich sind.
Beckmesserische Anmerkungen? Schließlich sind Kirchenlieder auch „Gebrauchstexte“ und Gesangbücher sind keine kritischen Editionen. Die Streichung von Strophen, die Anpassung an veränderte Sprachkonventionen und Verstehensgewohnheiten gehören zur Geschichte des Kirchenliedes und der Gesangbücher und sind ein Spiegel der jeweiligen Zeit. Doch wie weit darf man dabei gehen und wo sind die Grenzen?
Und um keinen falschen Eindruck aufkommen zu lassen: Auch das EG kennt mehrere Fälle, bei denen die Grenze zulässiger Eingriffe überschritten zu sein scheint. Um nur ein Beispiel zu nennen, sei auf die unglückliche Kompilation der Lieder Martin Luthers und Justus Jonas’ zu Ps 124 (EKG 192 / 193) zu nur einem Lied (EG 297) hingewiesen.
Sieht man sich die Originaltexte genauer an, so erweist sich Luthers Lied als echtes Psalmlied, dasjenige von Jonas indes als ein Glaubenslied in Anlehnung an Ps 124. Hier ist also zusammengeschweißt, was typologisch nicht zusammengehört, noch dazu um den Preis unsinniger Doppelungen und Überschneidungen im Vergleich zum Psalm selber.
Kirchenlieder sind Theologie und bergen gegebenenfalls theologischen Sprengstoff. Sie sind übrigens nicht selten Laientheologie, ein Umstand, der für die katholische Tradition vielleicht noch überraschender ist als für die protestantische. Und daher ist die These zu erweitern: Kirchenlieder sind – auf dem Hintergrund eines kirchlich-konfessionellen Konsenses – eigenverantwortete Theologie. Sie sind jedenfalls keine institutionell abgesicherten Lehrverlautbarungen. Von daher ist es gewiss kein Zufall, dass die Blüte des Kirchenliedes im gleichen Augenblick einsetzte, in dem im 16. Jahrhundert auch der Stellenwert der eigenverantworteten Predigt gestärkt wurde. Im Weg vom Eigenverantworteten zum kirchlich-gemeindlich Akzeptierten stecken aber wohl gerade die Gefährdungen, denen die Texte ausgesetzt sind und um derentwillen sie sich solche Veränderungen gefallen lassen müssen, wie sie exemplarisch gezeigt wurden.
Dem Eigenverantworteten der Texte entspricht die komplizierte Rezeptionsoffenheit im Vollzug des Singens. Text und Melodie eines Liedes sind ja zunächst, wie sie eben sind. Im Vollzug treffen sie aber auf je sehr verschiedene Dispositionen der Singenden, auf eine nur partiell zu erhellende „Gestimmtheit“. Beschreibende Analyse eines Liedes nach Text und Melodie sind das notwendige Eine, die nicht restlos steuerbare Offenheit der Wirkung beim Singenden das Andere. Beides sollte keineswegs gegeneinander ausgespielt werden, es kommt, wie Adorno sagte, durchaus darauf an, was „wie und in welchem Ambiente“ gesungen wird.
Daher ist zum Beispiel die Frage, ob eine Melodie zu einem Text passt, keineswegs überflüssig. Aber Lieder können eine persönliche oder historische Wirkungsgeschichte entfalten, die nicht steuerbar ist. Lieder können, ähnlich übrigens wie die biblischen Psalmen oder Lyrik, uns zu Zeiten näher und zu anderen Zeiten ferner sein. Persönliche und situative Erfahrungen reichern sie an und machen gegebenenfalls toleranter gegenüber offenkundigen Schwächen. Lieder sind Projektionsflächen von Einverständnis und Zustimmung ebenso wie von kritischer Reflexion und Distanz.
Und das gilt gleichermaßen für die Texte wie für die Melodien. Lieder eröffnen Deutungsräume, zwar keine beliebigen, sofern wir auch ihren eigenen Ansprüchen gerecht werden wollen, aber immer noch genügend offene Räume.
Wegen ihrer Rezeptionsoffenheit sind Lieder, ist das Singen immer auch ein Ausdruck unserer Freiheit. Lieder sind nur begrenzt funktional einzuhegen, immer bleibt zumindest den guten Liedern ein überschießender Mehrwert, weil sie – und das ist die andere Seite der Freiheit – ästhetische Gebilde sind. Und auch unter diesem Aspekt bleiben Lieder im gottesdienstlichen Gebrauch ein „Risiko“.
Zwar hat sich die Bedeutung des Liedgesangs im nachkonziliaren Gottesdienst der katholischen Kirche derjenigen im evangelischen Gottesdienst weitgehend angenähert: In beiden Kirchen sind wir davon überzeugt, dass die Gemeinde zuvörderst singend ihr liturgisches Amt vollzieht. Trotzdem wird man gewisse Unterschiede feststellen können.
Nicht nur, dass in der katholischen Messfeier viele Gesänge eine Begleitung liturgischer Vollzüge sind, während sie in der lutherischen Messe ein anderes Eigengewicht besitzen.
Ein deutlicher Unterschied besteht vor allem an zwei Stellen: Während auf katholischer Seite die Zwischengesänge bei den Lesungen kaum in Form des „freien“ Liedes ausgeführt werden, ist im evangelischen Gottesdienst gerade hier eine herausgehobene Stelle des Liedgesangs mit dem so genannten Wochenlied. Und nach der Predigt kennt der evangelische Gottesdienst eben auch die Antwort im Lied, während der katholische Gottesdienst etwas weniger risikobereit ist und als Antwort auf die Predigt ausschließlich das Credo kennt, sei es auch gegebenenfalls als Credolied. Gerade im Verkündigungsteil des Gottesdienstes scheinen mir derartige Unterschiede bedeutsam.
Zum Schluss eine persönliche Bemerkung: Vor einiger Zeit fuhren meine Frau und ich – wir waren beide dienstfrei – am Sonntagmorgen zum Gottesdienst in die Leipziger Innenstadt und hörten im Autoradio Kammermusik von Johannes Brahms. Wir sahen uns an und meinten, wenn es nur um religiöse Gefühle ginge, könnten wir unsere Andacht auch mit Brahms verrichten und bräuchten vielleicht gar keinen Gottesdienst. (Ich sehe einmal davon ab, dass auch Brahms’ Musik mehr fordert als eine rein gefühlsmäßige Rezeption.)
Dann aber waren wir uns schnell einig, dass wir vom Gottesdienst eben auch das Moment des ausdrücklich Reflexiven, des kritischen Nachdenkens über den Glauben erwarten, in Texten, Predigt und Liedern. Und wir setzten unsere Fahrt zum Gottesdienst fort.