HK: Herr Ortheil, das Interesse am genauen Beobachten gehört zu den markanten Merkmalen Ihrer Romane. Steckt darin ein gesellschaftskritisches Plädoyer für eine verloren gegangene Kultur der Aufmerksamkeit?
Ortheil: Mit dem Projekt einer „Gesellschaftskritik“ verbindet mich eigentlich nicht viel. Das soll heißen: Mein Schreiben fußt nicht in erster Linie auf negativen Erfahrungen von „Gesellschaft“, auf die man dann, wie das etwa bei Bertolt Brecht der Fall war, mit Gegenmodellen antworten könnte. Bei mir war das Moment der genauen Beobachtung vielmehr einfach lebensnotwendig. Es hat die ganze Kindheit geprägt, weil alle Bewegungen außerhalb unserer Familienwohnung in Köln von einer ungeheuren Aufmerksamkeit bestimmt waren. Wenn ich allein mit meiner Mutter unterwegs war, so waren das sehr langsame, von Angst geprägte Gänge. Diese Langsamkeit hat später auch das Erzählen eingeholt, eben deshalb schreibe ich auch keine besonders handlungsbezogenen Bücher. Es gibt keine starken Spannungsmomente, keine großen Konfrontationen zwischen den Figuren und kein eiliges Handlungstempo, stattdessen ist alles auf Langsamkeit und auf allmähliche, innere Bewegungen hin ausgerichtet.
HK: Ist diese Prägung einfach im Hintergrund präsent, oder zelebrieren Sie sie auch hier und da?
Ortheil: Ich habe das bis ins Unterbewusste verinnerlicht. Wenn ich mit meinen jungen Studenten unterwegs auf Exkursionen bin, merke ich besonders deutlich, wie anders und wenig temporeich sich meine Beobachtung der Welt ereignet. Genaue, langsame Raumwahrnehmung ist für mich etwas ganz Wichtiges, im Grunde will ich alle Zeichen, die sich in der Umgebung verdichtet haben, ernst nehmen: ob nun topographische, geographische, bildliche, akustische, emotionale.
HK: Eine solche Haltung fällt bei religiös sensiblen Menschen auf einen fruchtbaren Boden, wie die Rezeption Ihrer Bücher beweist. Ist es eine Überinterpretation, wenn man ihr Werk als einen Beitrag zu einer christlichen Spiritualität liest?
Ortheil: Nein, keineswegs. Tatsächlich steckt dahinter die Anmutung eines spirituellen Wahrnehmens – wenn man sich denn darauf verständigt, dass „spirituell“ bedeutet, die Welt nicht einfach faktisch zu lesen, sondern als bedeutungstragend – was eine große Anstrengung sein kann. Ich möchte einen Raum mit seinen vielen verschiedenen Komponenten als einen spirituellen Raum verstehen, der mit geheimen, fernen Zeichen aufgeladen ist. Erst wenn ich sie spüre und zu lesen versuche, werde ich zu einem wirklichen Bewohner dieses Raumes und bin nicht nur ein Passant.
HK: Spiritualität kann ja ein sehr vager Begriff sein. Inwiefern geht es dabei auch um Religion in einem engeren Sinne?
Ortheil: Ich habe mich sehr lange mit dem Pilgern beschäftigt, auch wenn ich selbst nie im klassischen Sinne gepilgert bin. Das Pilgern in seiner Bedeutung als Unterwegssein ist in der abendländischen Geschichte zentral für das spirituelle Gehen und Wahrnehmen – im Gegensatz zur Antike, die ein solches Pilgern mit seinen verschiedenen Stationen nicht kennt. Die Genialität der Pilger-Idee besteht in der Spiritualisierung des Gehwegs. Entscheidend ist nicht, einfach von A nach B zu gehen, sondern auch die Zeichen unterwegs wahrzunehmen: die kleine Kapelle etwa, eine Station am Wegrand, wo man spirituellen, regionalen Zeichen begegnet. Der Weg wird dadurch zu einer meditativen Bewegung, er wird nicht nur beobachtet, sondern auch von innen her erfahren. Die Pilgerschrift ist in diesem Sinn für mich eine Vorstufe des innerlichen Schreibens. Die spätere moderne Tagebucherfahrung hat hier eine Wurzel. Ich vermute, dass unsere ganze moderne Innerlichkeit sich daraus entwickelt hat. Das dauernde Nach-innen-Schauen: Wer bin ich? Wie verändere ich mich auf diesem Weg? So hat die Antike nicht gedacht. Der Weg der inneren Selbsterkenntnis und Selbstbeobachtung, der ja für Spiritualität kennzeichnend ist, ist in den Pilgerrhythmen vorgeprägt.
HK: Pilgern ist nicht nur etwas Christliches, sondern auch etwas typisch Katholisches. Vor diesem Hintergrund fällt auch die große Rolle auf, die die Sinnlichkeit in Ihren Romanen spielt, angefangen von den ausführlich gewürdigten Sinneswahrnehmungen bis zu den detaillierten Beschreibungen einzelner Speisen, aber auch dem Verlauf einer gemeinsamen Mahlzeit…
Ortheil: Zu solchen Textstellen habe ich schon die merkwürdigsten Kommentare zu lesen bekommen. Es liegt mir dabei aber gar nichts am Moment des Kulinarischen. Das hielte ich für völlig abwegig. Bei dem, was da gegessen und getrunken wird, geht es nie einfach nur um Genuss oder darum, diesen um seiner selbst willen zu ästhetisieren, sondern um eine weitere Form der intensiveren Sinneswahrnehmung. Es wird immer dasjenige gegessen oder getrunken, was zu den Romanfiguren und ihren Handlungsräumen in einer besonderen Verbindung steht. In meinem Roman „Die große Liebe“ essen die beiden Liebenden, als sie zum ersten Mal am Meer zusammen sitzen, eine Fischsuppe. Damit nehme ich Bezug auf diese Region, sodass der Raum gewissermaßen mit dem Mund berührt und geschmeckt wird. Auch das gehört zu einer intensiven Wahrnehmung von Räumlichkeit.
HK: Lassen sich diese Passagen also auch aus einer geradezu eucharistischen Perspektive lesen?
Ortheil: Tatsächlich geht es in der Abendsmahlszene ja nicht einfach nur um diese eine Mahlzeit, sondern um mehr: Man wird sich wiedersehen, man wird diese Mahlzeit auf erweitertem Niveau fortsetzen. Solche Verweise gibt es auch in meinen Büchern, und sie haben sicher mit dem Untergrund einer Erinnerung von biblischen Passagen zu tun. Wie käme ich sonst immer wieder auf ähnliche Szenerien?
HK: Gibt es einen besonderen Reiz des Katholischen für den Schriftsteller?
Ortheil: Zum Katholischen gehört das Moment der Freude. In meiner Kindheit spielten die kirchlichen Feste eine große Rolle. Wir lebten in der Familie nicht einfach nach den Jahreszeiten, sondern sehr stark nach dem katholischen Festkalender. Danach war das Jahr ausgerichtet und strukturiert. Für mich als Kind war das sehr wichtig: Angesichts von drei üblen Tagen, die vor einem lagen, half es, an den nächsten Festtag zu denken.
HK: In Ihrem jüngsten Roman „Das Kind, das nicht fragte“ wird auch ein Zusammenhang zwischen Erzählen, Identität und Glauben aufgestellt. Wie eng ist das Wechselspiel zwischen einer narrativen Identität und dem Gottesglauben?
Ortheil: Dieser Roman gründet auf einer Idee vom gelingenden Gespräch. Sie beinhaltet, dass die eigene Weiterentwicklung besser gelingt, wenn man sich die Ausrichtung seines Lebens immer genauer zu erzählen vermag. Dieses Sich-immer-genauer-etwas-Erzählen geschieht nie allein, sondern verläuft besser, wenn es einem anderen erzählt wird. Der andere setzt dieses Erzählen in Bewegung und beheimatet es erst; sonst bleibt es unbestimmt und undeutlich. Schließlich gibt es dann noch die dritte Stufe: Etwas nicht nur mir und einem anderen, sondern etwas auch Gott erzählen. Für meine Arbeiten ist diese letzte Ebene die fundamentalste, die alles andere erst bindet und hält. Das ist der große Rahmen, innerhalb dessen sich die menschlichen Begegnungen ereignen.
HK: Antwortet Gott denn auch?
Ortheil: Von seinen Antworten können wir nur so viel wissen, wie er selbst von sich preisgegeben hat. Anders als zum Beispiel viele katholische Lehrende habe ich große Schwierigkeiten damit, immer schon zu wissen, was und wie Gott antwortet. Wenn ich Predigten höre, wird oft so getan, als wüssten wir genau, was Gott sagt, meint und tut. Das erscheint mir gefährlich. Ich glaube nicht, dass man den Gläubigen über die biblischen Texte hinweg einreden sollte, was Gott mit ihnen vorhat – als könnten wir daraus etwas für uns selbst Zurechtgeschnitztes machen. Wenn man das Neue Testament liest, fällt doch sofort auf, dass selbst der, der es am besten wissen müsste, äußerst zurückhaltend mit Aussagen über Gott ist – und sich in dieser Hinsicht nur sehr vorsichtig äußert.
HK: Was heißt das für Ihre Sicht von Kirche? Schon in „Die Moselreise“, ein Text, den Sie als Elfjähriger während des Zweiten Vatikanischen Konzils geschrieben haben, findet sich eine Liste, wie man die Kirche erneuern könnte.
Ortheil: Ich bin ein relativ konstanter Kirchgänger, aber ich werde mit den Jahren immer ungeduldiger. Ich kann viele Gottesdienste gar nicht mehr in Ruhe verfolgen, weil ich mich über so vieles wundere oder ärgere. Und das betrifft vor allem die Sprache und damit die Art und Weise, wie von und über Gott gesprochen wird. Häufig bekomme ich eine Weichspülersprache zu hören, die abstrakt, beliebig und undeutlich ist. Warum bleibt man nicht näher am biblischen Text? Warum spricht man nicht konkreter über das Leben, das wir jetzt leben – und was aus den Texten für unseren Glauben folgt? Die Blumigkeit im kirchlichen Sprechen ärgert mich. Und mich ärgert auch, mit welchen Büchern und Buchtiteln man es zu tun bekommt, wenn man in eine katholische Buchhandlung geht. Das ist zum Gruseln. Mit den Jahrzehnten werde ich deshalb immer kritischer und immer ungeduldiger. Aber ich löse mich nicht davon und sage nicht: Lass die doch einfach ihre Dinge tun, es braucht mich doch nicht zu kümmern. Nein, das kommt nicht in Frage.
HK: Wie kann denn angesichts dieser Einwände das Sprechen über Gott heute gelingen? Was braucht es für eine überzeugende Gottesrede, sei es in der Predigt, in theologischen Texten oder für die in der ganz alltäglichen Begegnung mit einem anderen Menschen?
Ortheil: Das ist ein schwieriges Thema. Ich bin kritisch gegenüber den selbstgewissen Aussagen, was und wer Gott sei und wie wir mit ihm umgehen sollten. Ich bin nicht kritisch gegenüber der fundamentalen Annahme, dass Gott existiert. Das Problem besteht in unserem Umgang mit seiner angenommenen und geglaubten Existenz. Und es besteht vor allem darin, dass wir diesen puren Glauben auskleiden, daraus Regeln ableiten und so tun, als könnte der Glaube die Welt regieren. Das kann er eben nicht. Der Glaube ist kein äußeres Regiment, sondern eine Durchdringung der Welt von innen her.
HK: Das schwierige Wort „Liebe“ steht in vielen Ihrer Bücher, nicht nur in der Trilogie zu diesem Thema, im Mittelpunkt. Sie haben einmal davon gesprochen, dass dies einer der besten Wege sei, um heute über den christlichen Glauben zu reden. Wie ist das gemeint?
Ortheil: Der christliche Glaube hat die Liebe zu einem zentralen Motiv gemacht – nicht nur in dem säkularen Sinn, dass sich zwei Menschen in Liebe begegnen. Es geht vielmehr auch um Gemeinschaft, das ist der große Fundus, von dem sich eine ganze Religion herleitet: dass Menschen aufeinander zugehen, sich einander öffnen und sich nicht nur mitteilen, was sie gerade gekauft haben – sondern sich erzählen, warum, was und wen sie lieben. Die Einbeziehung des inneren emotionalen Bereichs, die Öffnung im Gespräch und im Zusammensein halte ich für ganz zentral christlich. Dazu gehört auch, dass aus dem Miteinander-Sprechen ein Miteinander-Fühlen wird. Das geht anderen Religionen ab, die den Gläubigen meditativ alleine lassen. Ein besonderer Zauber des Christentums besteht darin, von einer durch Emotionen geprägten Gemeinschaft zu träumen, die sich zu gemeinschaftlichem Handeln bekennt.
HK: Bei vielen Ihrer Figuren spürt man vor diesem Hintergrund ein Urvertrauen in die Schöpfung, eine gelebte Zustimmung zum Dasein, in „Das Verlangen nach Liebe“ ist sogar vom „zungenschnalzenden Glück“ die Rede. Ärgert Sie es, wenn wegen einer solcher Lebenslust, wie es gelegentlich geschieht, ein Kitsch-Vorwurf erhoben wird?
Ortheil: Nein, das erschüttert mich nicht, damit muss ich mich abfinden. Ich verstehe solche Passagen selbst auch ganz anders. Oft führe ich meine Romanfiguren nach großen Anstrengungen zu stark positiv erlebten Momenten. Ich übertreibe diese Momente aber nicht, und ich stelle sie auch nicht aus, als würden sie nun ewig dauern. Solche Momente stehen am Ende eines Weges und nach einem Durchgang durch etwas Erlittenes. Sie sind dann aber weder süßlich noch weich, sondern sie haben einfach nur ein gewisses Strahlen und eine Sicherheit, die von der Sicherheit herrührt, die meine Figuren dann für einen Augenblick gefunden haben. Und außerdem sollte man nicht vergessen, dass es auch einen Kitsch der Negativität gibt. Es gibt viele Autoren, die versessen darauf sind, das ewige Unglück zum Zentrum alles Erlebten zu machen. Daraus entsteht schwarzer Kitsch.
HK: Gehört zur Liebe aus christlicher Sicht aber nicht auch, dass sie über die Zweierbeziehung hinausgehen muss, sich nicht gegenüber der Welt abschließen sollte, sondern auch gesellschaftlich wirksam wird?
Ortheil: Die Annäherung zwischen Zweien ist das Urmodell, das Familienmodell findet sich aber ebenfalls in mehreren meiner Romane – am deutlichsten in „Lo und Lu“. Zunächst jedoch bedarf es der absoluten Konzentration auf die Eine oder den Einen. Wenn eine solche Verbindung sich zu entfalten beginnt, bezieht sie mit der Zeit immer mehr andere Menschen in der Umgebung mit ein. Es entsteht dann eine Art von „Liebesgesellschaft“. Dritte und vierte Personen spannen einen größeren Raum auf; Nebenfiguren kommen hinzu, die sich dann auch in liebende Figuren verwandeln können. Von den beiden Liebenden gehen gewissermaßen immer intensivere Strahlungen aus. Der zunächst noch fremde Raum der Umgebung wird besetzt mit Personen, die den Liebenden zugetan sind. Was sich daraus entwickeln kann, ist „Ehe“. Darüber habe ich noch nie geschrieben, werde es aber bestimmt einmal tun.
HK: Grundsätzlich gefragt: Welche Bedeutung hat eine religiöse Disposition für die Schriftstellerei und die Produktivität beim Schreiben?
Ortheil: Ich arbeite noch so handwerklich wie ein mittelalterlicher Mönch. Ich schreibe mit der Hand; alles, was ich wahrnehme, zeichne ich in bewusst graphisch schöner und deutlicher Schrift auf. Diese Skizzenbücher sehen aus wie mittelalterliche Handschriften. Und diese Handschriften haben vor allem eine dienende Funktion. Pathetisch gesagt, könnte ich behaupten: Meine Handschriften versuchen, die Zeichen Gottes zu erkennen, zu benennen und zu beschreiben – und in der Wiedergeburt dieser Zeichen die Schönheit des Kosmos wiederherzustellen und anderen bewusst zu machen. Das religiöse Moment am Schreiben ist das der Rekreation des Kosmos. Subjekteitelkeiten im Sinne des klassischen Tagebuchs interessieren mich überhaupt nicht, mich interessieren die Notierer und Skizzierer – und damit die Zeichendeuter und Spurenleser unter den Schriftstellern. Noch bei Goethe erkennt man in seinen so genannten Tagebüchern diese Idee von der Rekreation des Kosmos: das Beobachten der Natur auf allen Ebenen.
HK: Der Literaturwissenschaftler Hermann Kurzke hat einmal bilanziert, dass es in der Gegenwartsliteratur nur noch sehr wenige Autoren gebe, die vom christlichen Erbe zehren – weil es weitgehend zerrieben sei. Ein Irrtum?
Ortheil: Vor 20 oder 30 Jahren hatte ich viel stärker das Gefühl, ein Solitär zu sein. Damals hätte ich niemanden unter den Kollegen gewusst, mit dem ich mich über Literatur und Religion gerne unterhalten hätte. Es sind aber immer mehr geworden. Ich kenne heute viele Autoren, angefangen von Ralf Rothmann über Arnold Stadler, Petra Morsbach, Patrick Roth, Thomas Hürlimann bis hin zu Andreas Maier, für die dieses Erbe eine Rolle spielt. Es gibt inzwischen also einen gar nicht so kleinen Kreis von mit religiösen Themen stark beschäftigten Autoren. Sie arbeiten damit nicht verdeckt, sondern elementar – ich selbst freilich bin wohl noch zusätzlich besonders stark durch meinen Kindheitsraum geprägt und mit ihm verbunden, aus dem andere dann irgendwann ausgewandert sind.
„Das Erbe ist selbst in der Abwehr noch virulent“
HK: Um das Interesse der Gegenwartsliteratur an der Religion ist es also gar nicht so schlecht bestellt?
Ortheil: Es ist im Grunde doch sehr erstaunlich, wie stark in der Gesellschaft Kirche und kirchliche Themen noch im Gespräch sind. Teilweise werden sie mit einem Hass diskutiert, den ich nicht verstehe. Wenn diese Themen den Menschen derart egal wären, wie es der Hass darstellen will, würden sie nicht so ungeheuer emotional auf sie reagieren. Das Erbe ist überhaupt nicht verschwunden, sondern selbst in der Abwehr und der Häme immer noch virulent. Man spürt: Da ist noch etwas, was unbedingt gesagt werden muss. Solange es diesen Erregungsfaktor gibt, ist Religion noch sehr lebendig.
HK: Gilt dieses Interesse an der Religion auch für Ihre jungen Studierenden an der Universität Hildesheim, denen Sie als Hochschullehrer die Kunst des Schreibens vermitteln wollen?
Ortheil: Das Thema ist durchaus da, aber natürlich versteckt. Man erkennt es erst nicht, es wird nicht darüber gesprochen. Wenn man selbst aber darüber spricht, kommen manche Studenten später darauf zurück. Oft schlägt das dann auch ins Handeln um, und man bemerkt, mit großem Erstaunen, wie sich plötzlich Hilfsbereitschaft und soziales Engagement scheinbar aus dem Nichts ergeben. Das sind große Momente, wie überhaupt der universitäre Schreibunterricht voll ist von starken, verblüffenden Momenten.
„Mehr oder minder versteckt arbeite ich im Gebäude dieses gewaltigen Erzählkosmos“
HK: Haben Literaten, die sich mit religiösen Themen befassen und dafür eine gewisse Sensibilität haben, es heute letztlich nicht doch schwerer im Literaturbetrieb?
Ortheil: In einem banalen Sinne schwerer haben sie es höchstens deshalb, weil man im Betrieb selbst nicht so viele Begleiter hat, die das eigene Schaffen mit derselben Aufmerksamkeit beobachten wie das von Autoren, die auf anderen Wegen unterwegs sind. Man hat weniger Gefährten, die im Betrieb wichtig sind: etwa Kritiker, die ein Buch schon vor dem Erscheinen lesen und sich um eine rechtzeitige Besprechung kümmern. Unter den Kritikern ist eine Generation nachgewachsen, die sich vor allem für die ganz jungen Autoren interessiert und schnell fertig mit Autoren ist, die sich mit anderen Themen beschäftigen. Alles soll nur von heute kommen und soll sich nur möglichst unauffällig mit den klassischen Traditionen verbinden. Die gelten als nicht „zeitkonform“.
HK: Gilt dasselbe auch für die Leser?
Ortheil: Nein, überhaupt nicht, bei den Lesern ist das völlig anders. Diese starke Diskrepanz wundert mich immer mehr. Meine Lesungen sind seit vielen Jahren sehr gut besucht. Und es ist ein beinahe schon irritierendes Gefühl, wenn in einem Ort mit 20 000 Einwohnern 300 Leute zu einer abendlichen Lesung kommen. Im Literaturbetrieb spiegelt sich das aber nicht. Der verhandelt seine eigenen Themen und kleinen Erregungen für sich und kümmert sich nicht um die Leser. Kein Wunder also, dass sich die Leser auch nicht mehr um den Betrieb kümmern.
HK: Gibt es besondere Möglichkeiten des fiktionalen Raumes für die Beschäftigung mit religiösen Motiven?
Ortheil: In meinem Fall ist eher umgekehrt in den letzten Jahren das Bedürfnis gewachsen, aus dem fiktionalen Text auszusteigen und religiöse Themen in essayistischer Form und damit direkter darzustellen. Schon als Kind habe ich viele solcher Aufzeichnungen gemacht. In einem gewissen Lebensalter zwischen dem elften und fünfzehnten Lebensjahr spielte das Thema Glauben sogar eine sehr dominante Rolle. Ununterbrochen habe ich große Fundamentalfragen gestellt wie etwa: Warum hat Gott die Welt überhaupt geschaffen? Wird der Gottesbegriff nicht kleiner, wenn Gott es nötig hat, die Welt zu schaffen – wo er doch so allmächtig ist? Da gab es ein ungeheures Grübeln… Ich finde diese Texte, in denen ich mir als Kind und Jugendlicher die Welt über den Glauben erklären wollte, immer noch hoch interessant. Das naturwissenschaftliche Denken zum Beispiel spielt darin überhaupt keine Rolle, es geht um „Theologie“, in allen Nuancen. Ich habe vor, diese Texte bald einmal zu veröffentlichen.
HK: Inwiefern stößt man angesichts solcher theologischer Fragen auch an die Grenzen des Ästhetischen?
Ortheil: Natürlich könnte man diese Texte auf Romanfiguren beziehen und diesen Figuren bestimmte Gedankengänge und Texte in den Mund legen. Das käme mir aber künstlich vor. Ich finde Literatur problematisch, in der Figuren Träger von großen Weltanschauungen sind und dann anfangen zu monologisieren – wovon man sich als Autor dann auch leichter distanzieren kann. Das gerät schnell zu einer puren Entfaltung von Weltbildern, wie bei Thomas Manns Lodovico Settembrini im „Zauberberg“ oder wie auch in seinem „Doktor Faustus“.
HK: Welche Rolle kann und sollte dann das Christliche in erster Linie für die Literatur spielen?
Ortheil: Wenn ich mir anschaue, was es an christlichen Zeugnissen und Texten gibt, so erscheinen mir diese Vorgaben unendlich reich. Der christliche Glaube ist ganz wesentlich auf einen ungeheuren Strom von Erzählungen aufgebaut, wie zum Beispiel im Fall der Heiligenviten. In ihnen wird erzählt, wie es den Menschen mit dem Glauben und dem Gottesgedanken ergangen ist. Für das Christentum ist zentral, dass seine allmähliche Ausbreitung in fast jeder Region der Welt zu einer eigenen Erzählkultur führte. Diese alte Erzählkultur ist noch heute die Basis unseres Erzählens. Mehr oder minder versteckt arbeite ich noch immer im Dienst und im Gebäude dieses gewaltigen Erzählkosmos. Nicht im einfachen Sinn, dass ich alte Geschichten neu erzähle, sondern in dem Sinn, dass in meinen Geschichten die alten Geschichten untergründig wieder neu erlebt werden.