Es ist wieder einmal so weit: Über die wiederverheiratet Geschiedenen in der katholischen Kirche wird heftig debattiert. Seit Jahrzehnten passiert das in Wellen mal mehr, mal weniger intensiv. Neu in der zur Zeit laufenden Debatte ist die Tatsache, dass nun auch aus dem Mund zahlreicher Bischöfe Worte, Hinweise und Argumente zu hören sind, die in all den Jahrzehnten vorher von den Betroffenen, Reformkreisen, Theologinnen und Theologen immer wieder klagend, hoffend oder als Anregung formuliert worden sind. Die zwei zentralen Aussagen lauten hier: „Es muss doch auch für zivil geschiedene und wiederverheiratete Gläubige einen Neuanfang in der Liebe und Partnerschaft geben können!“ Und: „Es kann doch nicht sein, dass alle wiederverheiratet Geschiedenen unterschiedslos zeitlebens in einer schweren Sünde – nämlich des Ehebruchs – leben!“
Wenn diese beiden zentralen Aussagen nicht nur schöne, aber folgenlose Rhetorik sein sollen, dann stehen damit zwei zentrale Fragen zur Lösung an: Wie kann ein Neuanfang aussehen, ohne die fest in der Tradition der katholischen Kirche verankerte Lehre von der Unauflöslichkeit der Ehe zu verletzen? Und: Wie kann denn die zweite, zivilrechtlich geschlossene Ehe von zivil Geschiedenen bewertet werden, wenn sie nicht mehr wie bisher als Ehebruch beziehungsweise als Verletzung des weiterhin bestehenden ersten Ehebandes gilt?
Unauflöslich, unauflöslicher, am unauflöslichsten
Von der lehramtlichen Seite des Papstes und der Bischöfe werden diese Fragen allerdings nicht gestellt. Hier wird vielmehr fast stereotyp nur immer wieder auf die Lehre von der Unauflöslichkeit der Ehe hingewiesen, die auf keinen Fall in Frage gestellt werden darf. Sie muss weiter gelten – ohne Wenn und Aber! Als Theologin mit dem Spezialgebiet des Kirchenrechts reibt man sich da verwundert die Augen und traut den eigenen Ohren nicht. Was für eine kühne Behauptung: die Unauflöslichkeit der Ehe sei unantastbar! Haben die Repräsentanten des Lehramtes etwa vergessen, dass die Unauflöslichkeit der Ehe im strengen Sinn des Wortes schon lange nicht mehr gilt, vielleicht sogar noch nie im absoluten Sinn gegolten hat?
Spätestens seit dem 12. Jahrhundert gilt doch in der katholischen Kirche, dass nicht einfachhin jede Ehe unauflöslich ist, auch nicht jede sakramentale Ehe und auch nicht jede geschlechtlich vollzogene Ehe, sondern nur jene Ehe, die sowohl sakramental als auch geschlechtlich vollzogen ist. Gelehrt hat dies zum ersten Mal Papst Alexander III. Er stand damals im 12. Jahrhundert vor der Herausforderung, rechtlich zu definieren, wann eine Ehe kirchlich gültig zu Stande kommt: schon durch die beiderseitige Willenskundgabe der Partner zur Ehe, wie es im römischen Recht der Fall war, oder erst durch den geschlechtlichen Vollzug der Ehe, wie es die germanische Rechtsauffassung war? Ist die Konsenstheorie des römischen Rechts in die Kirche zu übernehmen, wonach die Ehe allein durch die wechselseitige freie Willenskundgabe zur Ehe zu Stande kommt, oder die Kopulatheorie des germanischen Rechts, wonach die Ehe allein durch den ersten Geschlechtsverkehr zu Stande kommt?
Alexander III. entschied sich nicht zwischen beiden Theorien, sondern verband sie miteinander zu folgender Regelung: Die Ehe kommt durch den Konsens zu Stande und wird durch die Kopula gefestigt. Diese Regelung gilt bis heute und zeigt sich im kirchlichen Gesetzbuch in folgender Ausgestaltung: Einerseits gilt jede Ehe als unauflöslich. So heißt es im kirchlichen Gesetzbuch, dem Codex Iuris Canonici (CIC) von 1983 unmissverständlich: „Die Wesenseigenschaften der Ehe sind die Einheit und die Unauflöslichkeit, die in der christlichen Ehe im Hinblick auf das Sakrament eine besondere Festigkeit erlangen“ (c.1056).
Nicht erst oder nur die christliche Ehe ist demnach unauflöslich, sondern jede Ehe; darüber hinaus ist diese Unauflöslichkeit der Ehe als Wesenseigenschaft qualifiziert, das heißt kommt jeder Ehe von Natur aus zu. Andererseits wird dann aber in c.1141 CIC normiert: „Die (sc. unter Getauften) gültige und (sc. geschlechtlich) vollzogene Ehe kann durch keine menschliche Gewalt und aus keinem Grunde, außer durch den Tod, aufgelöst werden.“
Im Umkehrschluss folgt aus dieser Bestimmung des c.1141 CIC, dass die geschlechtlich nicht vollzogene Ehe und die nichtsakramentale Ehe aufgelöst werden können, also doch nicht unauflöslich sind. Und in der Tat kennt die katholische Kirche Eheauflösungsverfahren für beide Fälle:
Eine nichtvollzogene Ehe kann vom Papst in einem Gnadenakt aufgelöst werden. Voraussetzung dafür ist, dass in einem besonderen Verfahren bewiesen worden ist, dass die Ehe nicht vollzogen ist, nicht aber, dass noch nie ein Geschlechtsverkehr erfolgt ist (cc. 1061; 1142 CIC).
Eine nichtsakramentale Ehe von zwei Ungetauften kann aufgelöst werden, wenn einer der beiden sich taufen lässt und der Ungetaufte sich von ihm trennt, indem er nicht mehr bereit ist, die Ehe mit dem Getauften weiterzuführen oder den Getauften keine freie Glaubensausübung gewährt (cc. 1143–1150 CIC). Hier wird die Ehe zugunsten des Glaubens aufgelöst (so genanntes paulinisches Privileg nach 1 Kor 7,12–15): Der Glaube hat Vorrang vor dem Eheband. Deshalb hat der/die Getaufte unter den genannten Voraussetzungen einen Rechtsanspruch auf die Ehescheidung. Sie erfolgt dadurch, dass der/die getaufte PartnerIn eine neue Ehe eingeht.
Neben diesen beiden Eheauflösungsverfahren, die im CIC geregelt sind, gibt es auch noch ein drittes Eheauflösungsverfahren, das außerhalb des CIC geregelt ist. Hiernach kann auch eine Ehe zwischen zwei Ungetauften ohne anschließender Taufe einer der beiden oder zwischen einem Getauften und einem Ungetauften dann aufgelöst werden, wenn es dem Seelen- beziehungsweise Glaubensheil einer dritten, nämlich katholisch getauften Person dient, die einen der Ehepartner heiraten möchte. Diese Ehescheidung erfolgt durch den Papst kraft eines päpstlichen Gnadenaktes (so genanntes petrinisches Privileg).
Die Auflösungsmöglichkeit von nichtvollzogenen Ehen und insbesondere das paulinische und petrinische Privileg provozieren geradezu die Frage, ob die katholische Kirche in der Praxis tut, was in der Logik nicht geht, nämlich die „Unauflöslichkeit“ zu steigern, und zwar nach folgender Gesetzmäßigkeit: prinzipiell ist jede Ehe unauflöslich; doch wenn die unauflösliche Ehe geschlechtlich vollzogen oder wenn sie sakramental ist, dann ist sie unauflöslicher als unauflöslich. Ist die unauflösliche Ehe geschlechtlich vollzogen und sakramental, dann ist sie schließlich am unauflöslichsten.
Ob man es so zugespitzt formuliert oder nicht, Tatsache ist, dass in der katholischen Kirche folgende Diskrepanz besteht: Obwohl jede (nicht nur die sakramentale!) Ehe als unauflöslich gilt (c.1056 CIC), werden dennoch bestimmte Ehen in der katholischen Kirche aufgelöst (c.1141 i. V.m. cc. 1142 – 1115 CIC).
Kirchliche Eheauflösungsverfahren sind Zulassungsverfahren zu einer Zweitehe
Wirklich unauflöslich im strengen Sinn des Wortes ist in der katholischen Kirche also nur die kirchlich gültige, sakramentale und geschlechtlich vollzogene Ehe. Sie ist die unauflöslichste unter allen unauflöslichen Ehen – und das ist sie nicht aus einem spezifisch naturrechtlichen oder theologischen Grund, sondern deshalb, weil es der oberste kirchliche Gesetzgeber so verfügt hat. Denn in c.1141 CIC wie auch in seinen Vorgängerbestimmungen wird in keiner Weise auf die Natur oder die Wesenseigenschaft der Ehe rekurriert, sondern nur die absolute Unauflöslichkeit der Ehe normiert, ohne sie zu begründen. Das heißt im Klartext nichts anderes, als dass die absolute Unauflöslichkeit der Ehe letztlich nur durch kirchliche Setzung verfügt ist.
Damit steht die Frage im Raum, womit diese kirchliche Setzungsvollmacht rechtlich begründet ist und wie weit diese reicht. Reicht sie möglicherweise viel weiter als es der kirchlichen Autorität (derzeit) bewusst ist? „Kann vielleicht die Kirche alle Ehen auflösen, aber sie weiß es noch nicht“ (Rudolf Weigand, Die Kirche und die wiederverheirateten Geschiedenen, in: Anzeiger für die Seelsorge 107 [1998], 433–439, 438)? Oder: Ist die kirchliche Auflösung einiger Ehen in Wahrheit gar keine Auflösung, sondern eine Zulassung zur zweiten Ehe (vgl. Matthäus Kaiser, Können Ehen aufgelöst werden?, in der kirchenrechtlichen Zeitschrift „De Processibus Matrimonialibus“, DPM 2 [1995], 39–67, 67)?
Die beiden hier zitierten Autoren beantworten ihre Frage mit einem eindeutigen „Ja“. Denn mit einem „Nein“ zu antworten, würde die Ehekonzeption der katholischen Kirche als in sich widersprüchlich erweisen. Wenn nämlich die Unauflöslichkeit wirklich eine Wesenseigenschaft der Ehe ist, wie ist dann erklärbar, dass bestimmte – nämlich nichtsakramentale und nicht geschlechtlich vollzogene – Ehen aufgelöst werden? Wenn aber die Unauflöslichkeit keine Wesenseigenschaft der Ehe ist, warum ist dann die Auflösbarkeit der Ehe auf die beiden Kriterien der Nichtsakramentalität und des Nichtvollzugs einer Ehe beschränkt?
Auf diese Fragen gibt es letztendlich nur zwei Antwortmöglichkeiten (vgl. zum Folgenden Markus Güttler, Die Ehe ist unauflöslich! Eine Untersuchung zur Konsistenz der kirchlichen Eherechtsordnung, Essen 2002, besonders 216–222): Entweder ist die Unauflöslichkeit eine Wesenseigenschaft der Ehe – dann muss aber das, was als „Auflösung“ der Ehe bezeichnet wird, faktisch die Zulassung zu einer zweiten Ehe sein. Das ist rechtlich nur so denkbar, dass in den genannten Fällen die Rechtswirkungen der ersten Ehe (nicht: die erste Ehe selbst) aufgehoben werden, und zwar mittels des Rechtsinstituts der Dispens (Befreiung von einer Verpflichtungskraft eines Gesetzes für spezifische Einzelfälle).
Oder die Unauflöslichkeit ist keine Wesenseigenschaft der Ehe – dann sind von der Kirche Kriterien für die Auflösbarkeit von Ehen festzulegen und im Laufe der Zeit immer wieder neu an die Zeichen der Zeit anzupassen.
Das sind die einzigen beiden Antwortmöglichkeiten innerhalb der Logik der Ehekonzeption der katholischen Kirche. Egal, welche der beiden Antworten für zutreffend erklärt wird, durch jede wird deutlich vor Augen geführt, dass die Kirche, repräsentiert durch den Papst als den obersten Gesetzgeber, eine gehörige Rechtsvollmacht über die Ehe innehat und ausübt. Das wiederum hängt damit zusammen, dass nach katholischer Lehre die Sakramente nicht nur Handlungen Jesu Christi sind, sondern auch Handlungen der Kirche. In diesem Sinn wird pointiert in c.840 CIC formuliert, dass die Sakramente „von Christus, dem Herrn eingesetzt und der Kirche anvertraut“ sind, so dass sie zugleich „Handlungen Christi und der Kirche“ sind.
Deshalb kann und muss auch die Kirche, vertreten durch die höchste kirchliche Autorität, die für die Feier der Sakramente maßgeblichen Kriterien jedes einzelnen Sakramentes festlegen. In kirchenrechtlicher Sprache auf den Punkt gebracht lautet das wie folgt: „Da die Sakramente für die ganze Kirche dieselben sind und zu dem von Gott anvertrauten Gut gehören, hat allein die höchste kirchliche Autorität zu beurteilen oder festzulegen, was zu ihrer Gültigkeit erforderlich ist; dieselbe bzw. eine andere nach Maßgabe des can. 838, §§ 3 und 4 zuständige Autorität hat zu entscheiden, was für die Erlaubtheit zur Feier, zur Spendung und zum Empfang der Sakramente und was zu der bei ihrer Feier einzuhaltenden Ordnung gehört“ (c.841 CIC).
Die Ausgestaltung der Sakramente ist also von Seiten der Kirche festzulegen, wobei gesetzlich genau geregelt ist, wer die Kriterien für die Gültigkeit und wer die Kriterien für die Erlaubtheit der Feier der Sakramente festlegt. Demnach hat die höchste kirchliche Autorität stets neu zu beurteilen und festzulegen, was zur Gültigkeit der einzelnen Sakramente erforderlich ist, natürlich ohne dabei die Substanz des Sakramentes zu verändern. Die Gültigkeitskriterien dürfen also „nicht beliebig gestaltet“ werden (Joseph Ratzinger, Grenzen kirchlicher Vollmacht. Das neue Dokument von Papst Johannes Paul II. zur Frage der Frauenordination, in: Internationale katholische Zeitschrift Communio 23 [1994], 337–345, 338), sondern müssen stets dem Wesen des Sakraments Rechnung tragen.
Deswegen müssen sie aber nicht „nur in ehrfürchtiger Treue weiter(ge)geben“ werden. Andernfalls wäre c.841 hinfällig und der teils große geschichtliche Wandel, der bei den Gültigkeitskriterien etlicher Sakramente wie zum Beispiel der Buße, der Krankensalbung und der Ehe festzustellen ist, theologisch nicht erklärbar.
Diese Rechtsvollmacht über die Sakramente hat die katholische Kirche gerade im Hinblick auf die Ehe reichhaltig angewendet. Deutliche Niederschläge dafür sind die zahlreichen Rechtsbestimmungen über die Ehehindernisse (cc.1073–1094 CIC), die Konsensmängel (cc.1095–1107 CIC) und die einzuhaltenden Formalitäten, damit der eheliche Konsensaustausch gültig zu Stande kommt (cc.1108–1117 CIC). Auch die Regelungen für die Gültigmachung einer ungültigen Ehe durch die so genannte „Heilung in der Wurzel“ (cc.1161–1165 CIC) sind Ausdruck dieser Rechtsvollmacht. Denn der Heilungsvorgang der ungültigen Ehe besteht darin, dass die kirchliche Autorität der „Ehe“ die Rechtswirkungen zuspricht beziehungsweise gewährt, die sie aufgrund ihrer Ungültigkeit gar nicht hat – und diese Rechtswirkungen werden sogar rückwirkend verliehen.
Befreiung von den Rechtswirkungen der ersten Ehe als Zukunftsoption
Wenn erstens der Kirche nicht nur die Sakramente an sich, sondern insbesondere auch deren rechtliche Ausgestaltung anvertraut sind, wenn zweitens die Kirche von dieser rechtlichen Ausgestaltungskompetenz im Bereich des Ehesakraments bisher schon in vielfältiger Weise Gebrauch gemacht hat und wenn drittens das Heil der Seelen in der Kirche immer das oberste Gesetz sein muss, wie es pointiert in der letzten Bestimmung des kirchlichen Gesetzbuches heißt (c.1752 CIC), dann liegt im Blick auf die rechtliche Situation der zivil geschiedenen und wiederverheirateten Gläubigen ein Reformvorschlag nahe, der sowohl die Unauflöslichkeit der Ehe als Wesenseigenschaft als auch die Rechtsvollmacht der Kirche über die Ehe ernst nimmt und konsequent zu Ende denkt.
Beide, der Grundsatz von der Unauflöslichkeit der Ehe und die Überzeugung von der Rechtsvollmacht der Kirche über die Ehe, sollten so miteinander verbunden werden, dass künftig bei jeder Ehe – also auch bei der sakramentalen und geschlechtlich vollzogenen Ehe – unter bestimmten Voraussetzungen die Rechtswirkungen der Eheschließung aufgehoben und eine zweite Eheschließung gewährt werden können. Zu diesen Voraussetzungen müsste zum einen das aufrichtige Bekenntnis beider Ehepartner gehören, dass aus ihrer beider Sicht ihre Ehe unwiederbringlich gescheitert ist und sich keiner vom anderen als böswillig verlassen erachtet.
Zum anderen müsste der erneut heiratswillige Partner glaubhaft bezeugen, dass er in einem Prozess der Buße das Scheitern seiner ersten Ehe aufgearbeitet und seine eigenen Anteile daran, insbesondere die der eigenen Schuld, erkannt hat und demzufolge die zweite Ehe im Bewusstsein der Reue eingehen wird. Denn „wenn die eigene Verantwortung und eine mögliche Schuld angenommen werden, wächst die Chance, eine neue Perspektive zu finden und ggf. in einer neuen Partnerschaft nicht wieder aus den alten Gründen zu scheitern. Viele Paare bzw. Frauen und Männer haben eine hohe Bereitschaft, sich diesen Fragen zu stellen, weil sie sich nichts mehr wünschen, als dass ihr weiteres Leben und eine mögliche zweite Partnerschaft gelingen“ – wie es die 2013 veröffentlichte Handreichung der Erzdiözese Freiburg zur Begleitung von Menschen in Trennung, Scheidung und nach ziviler Wiederverheiratung (zugänglich unter: http://www.familienseelsorge-freiburg.de/html/media/dl.html?v=106289) knapp und präzise auf den Punkt gebracht hat.
Dieser Reformvorschlag, unter bestimmten Voraussetzungen die Rechtswirkungen der ersten Ehe aufzuheben, um zivil geschiedenen Katholikinnen und Katholiken einen Neuanfang in einer zweiten Ehe zu ermöglichen, resultiert aus zwei Schlussfolgerungen, die sich aus der bisher praktizierten Rechtsvollmacht der Kirche über die Ehe ergeben:
Wenn es der Kirche zukommt, die Kriterien für das Zustandekommen der Rechtswirkungen einer Ehe festzulegen, dann kommt es ihr auch zu, die Kriterien für deren Beendigung zu bestimmen.
Wenn die Kirche einer ungültigen Ehe die Rechtswirkungen einer gültigen Ehe gewähren kann, wie das bei der Heilung der Ehe in der Wurzel der Fall ist, dann muss sie auch umgekehrt die Rechtswirkungen einer Ehe aufheben können.
Bei der sich daraus ergebenden Rechtsvollmacht, in bestimmten Fällen von den Rechtswirkungen der ersten Ehe mit Hilfe des Rechtsinstituts der Dispens zu befreien, sind vor allem zwei Aspekte besonders hervorzuheben:
Nicht die erste Ehe wird aufgehoben, sondern „nur“ die Rechtswirkungen der ersten Ehe werden beendet. Die entscheidende theologisch-rechtliche Grundlage dafür ist die Unterscheidung zwischen der Unauflöslichkeit der (konkreten) Ehe einerseits und der Aufhebbarkeit der rechtlichen Wirkungen der unauflöslichen Ehe andererseits. Die Unauflöslichkeit ist die innere Folge des einander ausgetauschten Ehekonsenses und daher sowohl für die Gatten wie auch für die Kirche unverfügbar, während die Rechtswirkungen der unauflöslichen Ehe für das Ehepaar durch die Kirche aufgehoben werden können. Deshalb bleibt bei der Aufhebung der Rechtswirkungen der Ehe die Beziehungsgeschichte beziehungsweise die bei der Eheschließung eingegangene Bindung der beiden Partner bestehen.
Die Befreiung von den rechtlichen Wirkungen des gültigen Ehebandes stellt nicht den Regelfall, sondern den Ausnahmefall für gescheiterte Ehen dar. Andernfalls würde die Unauflöslichkeitslehre nicht mehr ernstgenommen werden. Dementsprechend gibt es keinen Rechtsanspruch der Partner auf diese Befreiung, sondern nur die rechtliche Möglichkeit, diese als Ausnahmegenehmigung zu beantragen. Das Rechtsmittel dazu ist die Dispens; Grundlage für eine solche Dispens ist das Vorliegen eines gerechten Grundes (zum Beispiel menschlicher und geistlicher Schaden), aufgrund dessen das Ehepaar oder eine(r) der beiden Partner einen Antrag stellt und die zuständige kirchliche Autorität beurteilt, ob die Befreiung von den rechtlichen Verpflichtungen des Ehebandes angesichts der unheilbaren Zerrüttung dieser Ehe und der Aufarbeitung ihres Scheiterns zum geistlichen Wohl der Partner beiträgt oder nicht.
Mit dieser neuen Regelung und Praxis der Befreiung von den Rechtswirkungen der ersten Ehe durch Dispens würde erstens die Widersprüchlichkeit zwischen Unauflöslichkeit und Auflösung der Ehe überwunden und zweitens die Seelennot vieler zivil geschiedener und wiederverheirateter Gläubigen sowie deren Familien, Seelsorger und Seelsorgerinnen andererseits gelindert werden.