Johann Michael Sailer (1751–1832) ist einer der großen Söhne der katholischen Kirche aus der Zeit der Aufklärung, der durch die Wiederentdeckung des mystischen Kerns christlichen Glaubens, der Erfahrung der Gegenwart „Christi in uns“, seiner Zeit vielen durch aufgeklärte Rationalität erschütterten Schülern einen festen Grund des Glaubens wies und ihnen gesegnetes Wirken in der Kirche ermöglichte. Direkt und indirekt wurde Sailer zu einem der Väter der Konfessionsgrenzen überschreitenden Erweckungsbewegung, indirekt durch seine großen Schüler Martin Boos (geb. 1762), Johannes Evangelista Goßner (geb. 1773), der schließlich als evangelischer Pastor in Berlin 1836 eine eigene Mission gründen sollte, Johann Michael Feneberg, (geb. 1751), Ignaz Heinrich von Wessenberg und Ignaz Lindl (geb. 1774 oder 1778), die ihrerseits evangelische Erweckungstheologen wie etwa den Neuendettelsauer Pfarrer Wilhelm Löhe (geb. 1808) prägten oder notgedrungen evangelische Pfarrer wurden.
Man kann Johann Michael Sailer mit Recht als einen der Väter der ökumenischen Bewegung ansehen. Sailer verdient es ökumenisch erinnert und gefeiert zu werden, zumal die Erweckungsbewegung eher im Schatten kirchengeschichtlichen Interesses gestanden hat.
Hauptursache der Erweckungsbewegungen in Europa ist sicher die Aufklärung und ihre Kritik an den Synthesen von Vernunft und Glaube in klassischen katholischen Systemen, in lutherischer oder reformierter Orthodoxie und auch in der gemäßigt deistischen Aufklärung. Neben Johann Michael Sailer kann man als weitere Initiatoren den Königsberger Philosophen Johann Georg Hamann (1730–1788), die 1780 gegründete Baseler Christentumsgesellschaft, den rheinischen Pietismus, die Herrnhuter Brüdergemeine von Nikolaus Ludwig Graf von Zinzendorf (1700–1760) und ihre Diasporaarbeit, evangelisch-reformierte Diasporagemeinden, inspiriert vom Bremer Pfarrer Gottfried Menken, Matthias Claudius (1740–1815) und seine Fenelonlektüre, den Elsässer Pfarrer Johann Friedrich Oberlin (1740–1826), den Zürcher Pfarrer Johann Caspar Lavater (1741–1802), den Schriftsteller und Augenarzt Johann Heinrich Jung, genannt: Jung Stilling (1740–1817), und überraschenderweise auch Freimaurerlogen deutschlandweit namhaft machen.
Die Erweckungsbewegung in Europa nach 1800
Früchte der Aufklärung erblickte man im historischen Ereignis der Französischen Revolution 1789 und danach, die im atheistischen Kult der Vernunft, verbunden mit politischem und blutigem Terror, die Gottfeindlichkeit der Aufklärung zu bestätigen schien. In der weiteren Folge führte die Abwehr des französischen Imperialismus Napoleons, kulminierend in den Befreiungskriegen und der Vielvölkerschlacht bei Leipzig 1813, zu vielen im Kriegserleben erweckten Biographien. Es hat sich eingebürgert, den ökumenisch und geistig weiten Beginn der Erweckungsbewegung von etwa 1800–1815 anzusetzen, der eine Blütezeit von 1815–1830 und dann eine sich in konfessionelle und kirchenparteiliche Strömungen aufgegliederte Phase folgt.
Neben Bibelgesellschaften begründete man Missionsgesellschaften, auf dem Kontinent 1815 die in Basel. In diesem literarisch verknüpften Netzwerk erwecklicher Beziehungen kreuz und quer über Länder- und Konfessionsgrenzen hinweg gab es nicht zuletzt die von Johann Michael Sailer ausgehende Linie der Christusmystik.
Als illustrierendes Beispiel dieser christusmystisch begründeten Überzeugungsvernetztheit mag ein Zitat des Württemberger Prälaten Sixtus Carl Kapff (1805–1879) dienen: „Man hat sich schon oft gewundert, daß die Pietisten einander so gut kennen; kommt einer von Rußland oder Amerika zu uns, der mit uns den gleichen Glauben an den Herrn hat, gleich kennen wir ihn. Nicht ist das die Liebe, wie zwischen einzelnen Brüderschaften und Gesellschaften, um der Gleichheit des Interesses willen, nein, es ist die Liebe zu den Brüdern, die mit uns in der gleichen Gnade stehen, die mit uns Einen Herrn und Erlöser haben, die gleicher Wohltaten wie wir teilhaftig geworden sind. Das ist die höhere geistige Verwandtschaft; wie in Blutsverwandten Ein Blut, so ist in uns Ein Geist und darum gibt sich auch die Liebe von selbst.“
Offenheit für die Wissenschaft seiner Zeit
Nach dem großen evangelischen Sailerforscher Friedrich Wilhelm Kantzenbach war Sailer nicht eigentlich Begründer der bayerischen katholischen Erweckungsbewegung, sondern ihr Bodenbereiter im bayerischen Schwaben. Schon in der Jugend litt Sailer unter Anfechtungen. Vier Jahre Anfechtungsqual endeten durch den Zuspruch eines Freundes. Er selbst drückte das so aus: „Ich wurde ein seliges Kind, liegend im Mutterschooße der Vorsehung und gehalten von dem Worte meines Schutzgeistes.“ Nach erneuten Glaubenszweifeln erhielt Sailer seelsorgerliche Hilfe bei dem Amerikamissionar Pater Pfab (Werke XXIV, 294). Aber Sailer war in seiner inneren Glaubensentwicklung noch nicht am Ziel.
Er hatte von 1784 –1793 seine fruchtbarste Zeit in Dillingen. „Hier fand Sailer seine liebsten Schüler und entfaltete im Geist einer von der Mystik beeinflußten innigen Frömmigkeit eine weitreichende Lehrtätigkeit. Allerdings forderten seine Lehre und besonders praktische Reformen im Schulbetrieb manchen Gegner heraus, die ihn nun jesuitischer oder sogar freimaurerischer Umtriebe bezichtigten“ (Kantzenbach). Die Universität Dillingen galt im Vollsinn als „alma mater“ der damaligen Jugend, geleitet von Weihbischof Johann Nepomuk von Ungelter, der tüchtigste Lehrkräfte und edelste Persönlichkeiten heranzog.
Sailers Thema war nicht die Logizität des Glaubens wie bei den meisten Zeitgenossen, sondern die Anfechtung durch die Sünde. Man muss sich vor Augen führen, dass in dieser Zeit die traditionelle Rolle der katholischen Kirche und ihrer Theologie in vielen katholischen Monarchien bedroht war. Das Toleranzedikt Kaiser Josephs II. (seit 1780), das Verbot des Jesuitenordens nicht nur in Österreich-Ungarn, sondern auch in Spanien, ja seine päpstlich angeordnete Auflösung, ließ in den Augen der Traditionalisten Schlimmstes befürchten. Traditionelle katholische Frömmigkeit in ihren vielen Facetten war Zielscheibe aufgeklärten Spotts, wie sich etwa bei der Lektüre von Friedrichs II. historischen Schriften leicht erkennen lässt. Ein Lehrer wie Sailer, der sich der aufgeklärten Kritik stellte, konnte leicht selbst in den Verdacht des kirchenfeindlichen aufgeklärten Deismus geraten. Bis 1788 ist Sailers Theologie, ursprünglich von der jesuitischen Dogmatik des 16. und 17. Jahrhunderts herkommend, von aufklärerischer Terminologie geprägt.
Reifste Frucht praktischer Tätigkeit sind Sailers „Vorlesungen aus der Pastoraltheologie”, die in Dillingen entstanden. Am folgenreichsten war seine Offenheit für die Wissenschaft seiner Zeit. In dieser durch Bildung und Wissenschaft geprägten Zeit dürfe man kein Licht irgendeiner menschlichen Wissenschaft ungenutzt lassen. Kein Hirte dürfe gute Weide verkennen! „Es ist ein grober Irrthum, Rohheit und Mangel an Kenntnissen für Heiligkeit und sich deßhalb für heilig halten, weil man ein Dummkopf ist. Von allen Wissenschaften steht obenan eine wahrhaft praktische Schriftkenntniß. Der Seelsorger ist ganz und allerbauend und untadelhaft in Allem, denn er weiß, daß des Priesters Leben das faßlichste Lehrbuch des Volkes ist, er weiß, daß alle Augen auf ihn sich richten, daß sein Haus ein Leuchtthurm, sein Wandel ein Lehrmeister der öffentlichen Zucht ist.”
Sailer prägte weniger wissenschaftlich, als durch Persönlichkeit und erbauliches Schrifttum. Als Professor „[…] verkündete Sailer mit warmer, trauter Innigkeit das Evangelium, zu dem er sich von Herzen bekannte, trat er als entschiedener, begeisterter Anwalt des gering geachteten Glaubens vor seine Zeitgenossen mit einer Sprache, die ihnen wohl einging, weil sie in der Redeform des Mitlebenden dahinströmte, und hauchte so der Jugend, die ihn hörte, dem großen, in der dürren Zeit nach Wahrheit durstenden Kreise, der seine zahlreichen Schriften eifrig einsog, inniges Gottvertrauen und Liebe zu Christo ein“ (Hermann Dalton). Sailer verkündete nicht den majestätischen Christus, sondern Jesus als den liebenden und heiligen, herzlich sich zuwendenden Menschenfreund.
„Ein neuer katholischer Zinzendorf“
Georg Michael Wittmann (1760–1833), später Bischof von Regensburg, veröffentlichte 1809 sogar das von Johann Michael Feneberg übersetzte Neue Testament, das er korrigiert hatte, als „Regensburger Neues Testament“. Nach Gründung der „British and Foreign Bible Society“ in London 1804 hatte man in Basel und Nürnberg eine Bibelgesellschaft für Süddeutschland und die Schweiz gegründet, die überkonfessionell arbeiten wollte und sich dieser Regensburger Bibel annahm. Goßner, der selbst 1815 eine noch bis 1833 katholisch approbierte Übersetzung des Neuen Testaments herausbrachte, half, innerhalb weniger Wochen etliche tausend Exemplare des Regensburger Neuen Testaments zum äußerst günstigen Preis von 18 Kreuzern abzusetzen. Sailers Schüler befruchteten also unmittelbar die Bibelverbreitung unter katholischen Laien in deutscher Sprache.
Sailer bewahrte sich „zeitlebens allen guten Einflüssen gegenüber eine große Offenheit. Dazu war er ein Mann mit viel Charme und persönlicher Wärme, dem Freundschaft zu den wesentlichsten Elementen seines Daseins gehörte. (…) Sailers Freundschaft mit den Erweckten im evangelischen und katholischen Raum waren Seelenfreundschaften, deren Fundament die Frömmigkeit der Innigkeit war. Zu den bekanntesten seiner evangelischen Freunde gehörten Johann Kaspar Lavater – Zürich, der schon in der Dillinger Zeit wie Pfeffel aus Colmar zu Sailer gepilgert war, Christian Adam Dann – Stuttgart (geb. 1758), für den Sailer als Beichtvater agierte, Eleonore Auguste Gräfin Stolberg-Wernigerode, Anna Schlatter – St. Gallen. Die gemeinsame Christusfrömmigkeit mußte hier die konfessionellen Grenzen stark relativieren, wenn man sich auch gewisser lehrmäßiger Unterschiede durchaus bewusst sein konnte. (…) Wie ein neuer katholischer Zinzendorf entfaltete er eine ausgedehnte Wirksamkeit“ (Kantzenbach).
Weitere Freunde waren der später in der Gründung der Dresdener Mission 1836 streng lutherisch optierende Andreas Rudelbach, der Sailer 1823 in Regensburg besuchte, der reformierte Laientheologe und Arzt Johann Karl Passavant aus Frankfurt. Gotthilf Heinrich Schubert (geb. 1780), später Professor für Naturgeschichte in Erlangen und Herausgeber der Konfessionen Augustins, gehörte in seiner Zeit als fürstlicher Hauslehrer in Mecklenburg zu einem erwecklichen Kreis um den katholischen Pfarrer Schulz und stand zeitlebens in Verbindung mit Sailer. Matthias Claudius korrespondierte mit Sailer. Aus einer Tischgesellschaft der Berliner Romantiker vor den Freiheitskriegen korrespondierte man mit Sailer, beziehungsweise besuchte ihn. Ewald Rudolf Stier versammelte ab 1821 einen Kreis von Kandidaten am Predigerseminar in Wittenberg zur Lektüre der Schriften Sailers. Karl Friedrich Gottlob Stöckhardt (1807–34), Pastor in Röhrsdorf bei Meißen, las Predigten von Boos und Sailer in einem Kreis sächsischer Erweckter.
Die Schüler Sailers, Alois Henhöfer (geb. 1789) und Fink, waren von ihm auf Bibel und mystische Literatur hingewiesen worden. Henhöfer stand schließlich am Anfang der evangelischen badischen Erweckung. Christian Gottlob Barth (geb. 1799), Mittelpunkt und Missionsmann der Baseler Mission in Möttlingen und Calw, hatte neben vielen anderen auch Kontakt zu Sailer, Martin Boos und Lindl; er begegnete bei Pfarrer Passavant in Frankfurt Sailer persönlich. Auch katholische Gefolgsleute Sailers brachten Sailers ökumenischen Gedanken in Gefahr, indem sie ihn vertraten. Johannes Evangelista Georg Lutz, Pfarrer der Konvertitengemeinde von Karlshuld, ging schließlich aus ökumenischen Gründen zum Irvingianismus über. Freunde von Lutz betonten in ihren Aussagen vor der Inquisition ihre Bindung an die Sailerschule.
Eine befreiende Christusbegegnung
Nach Kantzenbach prägte sich ab 1788 in Sailers Theologie eine neue Begrifflichkeit aus, eine von Franz von Sales her geprägte biblische Mystik, eine „Frömmigkeit der Innigkeit“. Die erste Aufgabe der Theologie sei die, auf der Geschichte Jesu Christi sich zu gründen, innig und reinigend zu sein. In Briefen schrieb Sailer: „So göttlich-milde das Wesen der Mystik oder der Ruhe ist, so viel Zweideutiges in der Lehre über Mystik. Dies Zweideutige kommt aber nicht von den rechten Mystikern, wie Jesus, Paulus, Johannes Taulerus, sondern von Anfängern der Mystik, die über Dinge geschrieben, die sie noch nicht verstanden, z. B. von mir, teils von den Lesern und Gönnern, die den Geist der Mystik nicht hatten und darum den Buchstaben verhunzten, teils von Gelehrten, die die Landkarte eines nie gesehenen Landes in Druck gaben.“
Sailer kam gegen Ende der Dillinger Zeit zu einer präziseren Auffassung des Heils in Christus: „Christus hat für Sailer die zentralste dogmatische Bedeutung. Die Botschaft des Evangeliums läßt sich zusammenfassen in dem Satz: ‚Christus unser Heil‘. Der Christusglaube im Sinne des ‚Jesus solus‘ ist der auch von Sailer zuweilen geäußerten Meinung, daß wir durch die Kirche zu Christus kommen, durchaus übergeordnet“ (Kantzenbach). Sailer „sah seine Bekehrung zum ‚solus Christus‘ durchaus nicht als eine Erfahrung an, durch die er in Konflikt mit der katholischen Kirche kommen könnte. In seinem 47. Jahr [1797] war er in einer großen Anfechtung dadurch zur Ruhe gekommen, daß eine Stimme zu ihm gesprochen hatte: ‚Nur Christus, oder wie sich Paulus ausdrückte, nur Gott in Christus, die Welt mit sich versöhnend, kann dich retten; ergib‘ dich ihm und lauf‘ ihm nicht aus der Schule; lerne der Sünde vollends absterben und Christo allein leben.“ (Kantzenbach).
Sailers Schüler Boos hatte ihn auf Einladung schon am 18. Dezember 1796 zusammen mit Therese Erdt, einem einfachen Bauernmädchen, besucht, die als die hervorragendste der Allgäuer Erweckten und als mit dem Geist der Weissagung ausgerüstet galt. Erdt sagte Sailer ins Gesicht, dass er die Johannistaufe als Pharisäer habe, aber die Geisttaufe aus dem Meer der Gnade ihm fehle, folglich auch die kindliche Demut. Sie war allerdings gewiss, dass Gott das Wunder an Sailer tun würde. Wenige Stunden später schrieb Sailer: „Liebste! Gott hat mir eine unaussprechliche Ruhe der Seele gegeben, ich zweifele nicht, dass Gott in einem Säuseln gekommen ist und noch da ist. Ich glaube, dass Johannes mit Wasser, Christus aber mit dem Geist taufen kann. Betet, Brüder, dass wir nicht in Anfechtung geraten. Alles Übrige überlassen wir Gott. Lasst es euch gut gehen!“. Inhalt der Erfahrung war also die Erfahrung der Gegenwart Gottes im Säuseln einer unaussprechlichen Ruhe, die als von Christus gewirkte Geisttaufe gedeutet wurde, bevor eine eigentliche Rechtfertigungserfahrung gemacht wurde.
Man kann also annehmen, dass Sailer in einem zehn Jahre dauernden Prozess mystischer Lektüre zu einer abschließenden und befreienden Christusbegegnung gelangte – noch nach seinen Schülern. An die Stelle des Begriffs der Vorsehung war der der Gnade getreten.
Ein mystischer Kirchenbegriff
Es verwundert angesichts des Geschilderten nicht, dass es ehemalige Jesuiten waren, die in Dillingen geheime und schließlich öffentliche Untersuchungen gegen Sailer anstellten und 1794 seine Entlassung erreichten. Finanzielle Not im Bistum Augsburg unter Fürstbischof Clemens Wenzeslaus hatte 1793 zu einer Kommission zur Überprüfung der Universität Dillingen geführt; Sailer musste sein „berühmtes und in den weitesten Kreisen segensreich wirkendes Kolleg über Moral, zu dem die Studenten aller Fakultäten zusammenströmten, auf die Theologen des dritten Kurses beschränken“ (Dalton), Religionsvorträge wurden ihm untersagt. Der jahrhundertealte jesuitische Studienplan allein sollte gelten. Nur bischöflich approbierte Bücher, also keine protestantischen, sollten von den Studierenden gelesen werden dürfen. Dem Vorwurf der Zügellosigkeit, wie er vor allem vor Sailers Amtsantritt zurecht gemacht und nun erneuert wurde, widersprach sein Freund Feneberg; er habe in 30 Jahren keinen tugendhafteren Studenten erlebt. 1804 wurde die aufblühende Lehranstalt in Dillingen schließlich ganz geschlossen.
Von 1794 –1799 reiste Sailer von Schüler zu Schüler, weilte oft in München oder in Seeg im Allgäu in der Pfarrei Fenebergs und vertiefte die Gemeinschaft im lebendigen Christusglauben mit den anderen Erweckten unter seinen Schülern Martin Boos und Johann Evangelista Goßner, die seine Anschauungen auch in radikalisierter Form verbreiteten. Von 1795–1799 lebte er in stiller Kontemplation von Fenelon, Tersteegen und Thomas a Kempis auch auf Schloss Ebersberg bei seinem Freund Karl Beck, der als Pfleger beim Herrschaftsgericht des Malteser Groß-Priorats tätig war. Goßner hatte erst 1795 Kontakt zu dem „Hohenpriester der Universität“ Sailer gefunden, der fand, dass Goßner in der strengen Atmosphäre Ingolstadts an moralischer und geistiger Entwicklung gehindert werde (Werke XXIX, 120–33).
Auf Sailers Empfehlung beschaffte sich Goßner auch verbotene Literatur vor allem von Lavater, mit dem er als Erwecker kirchlichen Lebens sich zutiefst geistesverwandt fühlte. Über einen Mitschüler hatte er Lavaters „Briefe an reisende Jünglinge“ kennengelernt. Lavaters „Geheimes Tagebuch. Von einem Beobachter seiner selbst“, das Muster eines solchen „Geschichtsbuchs des Herzens“ brachte, ermutigt durch Sailer, auch Goßner dazu, ein Tagebuch zu führen. Das von Sailer gelernte Schematisieren, also das Untergliedern eines Gedankens in Haupt und Untergedanken, fehlt in Goßners Tagebuch nicht.
Die Schüler Sailers konnten etwa für den Augsburger Domdekan und Generalvikar Joseph Ignaz Lumpert durchaus als die Besten gelten, wenn sie denn nur noch katholisch wären! Derselbe diagnostizierte bei den Sailerschülern immer drei Epochen, die Sailers eigenem Weg entsprachen: 1. Vernunftpredigten, 2. Vernunft und Schriftpredigten, 3. nur Schriftpredigten.
Kurfürst Maximilian IV. Joseph und sein Minister Graf Maximilian Montgelas machten Sailer 1799 zum Professor in Ingolstadt; von Pfingsten 1800 bis November 1821 war er als Professor in Landshut tätig, wo er zunächst kein freundschaftliches Klima vorfand. Im Kirchenverständnis folgte Sailer einerseits zeitlebens seinem Lehrer Benedikt Stattler, der konziliaristisch, unionistisch und irenisch dachte, aber kirchenrechtlich Robert Bellarmins Kirchenbegriff festhielt. Andererseits überhöhte und verdrängte Sailer diesen Kirchenbegriff mystisch. Die erweiterte Gemeinde aus Protestanten wie Katholiken war für Sailer Kirche.
Die Kirche als Leib Christi erscheine in der sichtbaren Kirche, von der die katholische Rechtsanstalt einen Teil darstelle, ihre Hierarchie eine mögliche Ordnung. Vieles mag an Zinzendorfs Begriff von der Kirche in vielen Arten und Weisen (griech. Tropoi) erinnern. Dem Bischof von Rom komme die Aufgabe als Zentrum der geistlichen Einheit der sichtbaren Kirche zu, ohne die unsichtbare aufzuheben: „Die Protestanten sind als Christen unsere Brüder, als Protestanten unsere Wetzsteine, als Menschen Kinder eines Gottes“, äußert Sailer (Werke, Band 40, 557). Dieser Kirchenbegriff ließe sich auch umgekehrt aus protestantischer Sicht auf Katholiken, überhaupt in der ökumenischen Bewegung auch heute gut anwenden.
Sailers Schüler Boos und Goßner bewahrten den ökumenischen Gedanken, Goßner hatte eine interkonfessionelle Tendenz. Als er sich 1812 gegen einen Übertritt zur protestantischen Kirche und für den bei der Priesterweihe gelobten Zölibat entschlossen hatte, beglückwünschte ihn Sailer bezeichnenderweise: „Ich halte es für Gottes Willen, daß wir in Formen wirken sollen, die noch sind. Gottlob, Gottlob, daß wir dich wieder haben. Nach Basel geht unser Johannes nie wieder zurück“.
War Sailers Schülern das Bleiben schließlich oft verwehrt, so brach er selbst doch mit den ihm in der katholischen Kirche überlieferten Formen nicht, auch wenn er sie selbst zu großen Teilen neu füllte. Der zum Kreis der Münchner Erweckten gehörige medizinische Geheimrat von Ringseis schrieb am 28. Mai 1816 einen im Netzwerk weit verbreiteten Brief: Bei einem offenen Bekenntnis Sailers würden sich, wenn er „mit der Herzenssprache“ „hinter’m Berge“ hervorträte, die Anhänger vervielfachen. „In ganz Oesterreich nennt man ihn schon das Haupt der ‚Mystischen-Antipabstischen Partei‘, weil man bei Boos Briefe von ihm fand. Selbst Schlegel wittert, als wäre Sailer gleichsam nicht recht ordentlich römisch-katholisch und macht ein bedenkliches Gesicht etc.“
Im selben Jahr nahm Sailer von der von ihm selbst einst initiierten evangelischen Bewegung allerdings öffentlich Abstand, auch wenn er nicht alle Brücken abbrach und noch 1819 Boos eine Stelle auf einem Gut bei Merseburg vermitteln sollte.
Ökumenisch seiner Zeit weit voraus
Auch bei einer Reise nach München verkehrte er mit den Gegnern Goßners, aber nicht mit diesem, was dieser als großen Schaden, als „heißes Glutleiden“ wertete. Sailer begründete seine Entscheidung mit seiner schon dargestellten Sicht der Kirche und betonte, dass der Geist wahren Christentums auch in der römischen Kirche gegebene Formen brauche: „Wer seinen Nachbar in die lebendige Gemeinschaft mit Gott gebracht hat, der hat den Geist des Christenthums in ihm erweckt. Da nun aber der Geist überall eines Gefäßes bedarf, so ist für den Zögling des himmlischen Lebens unerläßlich, daß er sich auch die Gemeinschaft mit der Kirche heilig sein lasse.“ Nur Demut könne vor polemischem Separatismus und Kirchenneubildung bewahren, die wiederum die Bischöfe nötigen werde, die so genannte neue Lehre zu verdammen.
Sailer wollte also durch seinen Schritt die evangelische Erneuerung in der katholischen Kirche halten. Er warnte nun sogar vor der Austeilung protestantischer Bücher und Bibeln in der Gemeinde! Lebendige Erfahrung müsse mit Buße einhergehen, man dürfe sich nicht geistlicher Bruder, Schwester oder Vater nennen, auch Nebendinge nicht hart verurteilen, die Verehrung Gottes in den Heiligen und der Mutter unseres göttlichen Erlösers zulassen. Boos fehlte jedes Verständnis für den ihm als feige erscheinenden Sailer, der nun nur noch unter dem Namen „Erasmus“ in seinen Briefen auftauchte. Goßner bekannte, dass ihm noch 14 Tage nach Sailers Brief das Herz gleichsam abgedrückt gewesen sei. Sailers evangelische Bewegung wurde dennoch von Rom bekämpft.
Josef Anton Sambuga, Erzieher des Kronprinzen Ludwig, wandte sich vor allem gegen Sailers Schüler Goßner und gegen Minister Montgelas. Auch von Ringseis wechselte mit Sailer die Fronten. Die beschworene „Heilige Allianz“ von 1815 wirkte sich also von Anfang an politisch und kirchenpolitisch nicht in größerer Einheit aus, sondern in restaurativer Trennung. Die Zeit ökumenischer überkonfessioneller Weite war vorbei, auch wenn sich im protestantischen Bereich reformierte und lutherische Christen erst nach 1834 ihrer eigenen Konfession wieder bewusster wurden.
Gegner verhinderten Sailers Ernennung zum Bischof von Augsburg. Doch konnte Sailer sich durch seine freundliche Persönlichkeit Ansehen gewinnen. 79-jährig wurde er am 23. August 1829 Bischof von Regensburg, wo er von 1821 an bereits als Domkapitular, Weihbischof und Koadjutor tätig gewesen war.
Von Johann Michael Sailer und seinen Schülern gingen vielfältige Kontakte und Inspirationen auf die katholische Kirche aus, aber auch auf protestantische Kreise in Berlin und Pommern und in den süddeutschen Raum. Sailer war in seiner ökumenischen Vision von Kirche seiner Zeit weit voraus, er verdient es, breit erinnert zu werden und über Grenzen hinaus, zum „Wetzstein“ zu werden.