HK: Herr Bischof Dr. Ackermann, beim Thema Missbrauch von Kindern und Jugendlichen durch Priester und Ordensleute hat sich die Aufregung vergangener Jahre etwas gelegt. Wo steht die katholische Kirche in Deutschland heute bei der Aufarbeitung sexualisierter Gewalt in ihren Reihen?
Ackermann: Wir befinden uns im Übergang in eine neue Phase. Seit 2010 lag das Hauptaugenmerk darauf, die Meldungen von Betroffenen – etwa auch über die Hotline – anzunehmen, mit den Vorwürfen gewissenhaft umzugehen und ihnen gerecht zu werden. Gleichzeitig ging es um die Regelwerke: Die Leitlinien mussten überarbeitet werden, die Präventionsordnung war ganz neu zu erstellen. Weil die Kirche keinen für sich abgeschotteten Rechtsbereich beansprucht, erfolgte eine genauere Abstimmung mit der staatlichen Seite. Schon bei der Vollversammlung der Bischöfe in Freiburg vor vier Jahren haben wir gesagt, dass wir eine Kultur der Achtsamkeit wollen. Wir sind jetzt an dem Punkt, diese zu verstetigen, vor allem mit Blick auf die Prävention.
HK: Zur Aufarbeitung gehört auch das Forschungsprojekt, das jetzt in diesem Frühjahr auf den Weg gebracht wurde, nachdem der erste Anlauf gescheitert war. Was ist dabei der Mittelpunkt des Interesses?
Ackermann: Zunächst und vor allem geht es um Aufarbeitung der Vergangenheit. Mit Hilfe des Forschungsprojekts werden die Dinge noch einmal systematisch angeschaut. Nach der bereits erfolgten Auswertung der Hotline-Ergebnisse wie auch der forensischen Gutachten durch den Psychiater Norbert Leygraf steht die Frage im Vordergrund: Welche spezifisch kirchlichen Aspekte des Problems gibt es? Worin liegt die besondere Täter-Opfer-Institutionen-Dynamik? Wie verhält sie sich zum gesellschaftlichen Kontext? Dann geht es natürlich auch darum, aus dem Blick in die Vergangenheit für die künftige Präventionsarbeit zu lernen.
HK: Inwieweit kann man denn heute bereits eine Bilanz ziehen? Wie hat sich die Zahl neu erhobener Vorwürfe zuletzt entwickelt?
Ackermann: Die Zahl der Opfermeldungen ist drastisch zurückgegangen. Aber es gibt auch neue Vorwürfe. Wenn man eine Kultur der Achtsamkeit fordert und es den Menschen leicht machen will, sich zu melden, wird dieses Angebot auch angenommen. Manche Betroffene sagen heute, im vierten Jahr nach dem Beginn der Missbrauchsdebatte: Jetzt erst bin ich soweit und habe den Mut zu artikulieren, was mir passiert ist.
HK: Sind die Beauftragten inzwischen in jedem Fall unabhängig genug, damit man als Opfer nicht doch das Gefühl hat, die Ansprechpartner seien so kirchennah, dass Vorwürfe möglicherweise nicht ernst genug genommen werden?
Ackermann: Die Leitlinien sehen vor, dass es Ansprechpersonen beiderlei Geschlechts gibt, die nicht im aktiven Dienst eines Bistums stehen. Damit ist klar, dass diese Personen unabhängig sind. Zu diesem Thema höre ich als Beauftragter bisher keine Beschwerden.
„Die Opferorientierung, zu der wir uns verpflichtet haben, greift“
HK: Die neuen Leitlinien aus dem Jahr 2013 sind abermals für fünf Jahre ad experimentum eingesetzt. An welchen Punkten gibt es Unsicherheiten, ob die Regelungen tragfähig sind?
Ackermann: Ich sehe im Moment keine direkten Schwachstellen. 2010 haben wir die Leitlinien von 2002 aufgrund der neuen Erfahrungen überarbeitet. Im vergangenen Jahr wurde noch einmal eine ganze Reihe von Präzisierungen eingearbeitet. Es wird nicht mehr nur auf Kleriker geschaut, sondern auf kirchliche Mitarbeiter insgesamt. Die Bereiche Erziehung und Bildung, Gesundheit und Soziales sind inzwischen berücksichtigt, auch mit Blick auf arbeitsrechtliche Fragen. Auch die Praktikabilität der Leitlinien wurde noch einmal verbessert. Im Moment gibt es deshalb keinen Änderungsbedarf. Aber wir werden nach fünf Jahren wieder schauen, ob es nicht doch Lücken gibt, die geschlossen werden müssen.
HK: Sie haben Mitte Juli angesichts von 19 Verfahren im Bistum Trier, die noch nicht abgeschlossen sind, darauf hingewiesen, dass jede Untersuchung von Vorwürfen diskret erfolgen muss, weil fälschlicherweise Beschuldigte einen lebenslangen Makel davontragen. Nährt das bei den Opfern nicht zwangsläufig die Sorge, hier könnte etwas vertuscht werden?
Ackermann: Das ist ein komplexes Problem. Allerdings gibt es in vielen Fällen aufgrund unabweisbarer Anschuldigungen und von Geständnissen beziehungsweise Teilgeständnissen der Beschuldigten keine Unsicherheit. Die Opferorientierung, zu der wir uns verpflichtet haben, greift auch insofern, als man heute in den Bistümern bereit ist, jedem Hinweis nachzugehen. Natürlich muss man eine erste Plausibilitätsprüfung machen. Aber selbst anonymen Beschuldigungen, die man früher in der Regel einfach ignoriert hat, wird heute nachgegangen, wenn es tatsächliche Anhaltspunkte gibt. Zudem ermutigen wir die Betroffenen, möglichst Anzeige zu erstatten. Wenn die Vorwürfe staatlicherseits verjährt sind, versuchen wir sie dennoch innerkirchlich aufzuklären.
„Die Opfer sind in einem besonderen Maße Experten“
HK: In wie vielen Fällen kommt es denn überhaupt zu unberechtigten Vorwürfen, mit denen einem Priester oder einem anderen Beschuldigten bewusst geschadet werden soll?
Ackermann: Das sind nach meiner Kenntnis wirklich Einzelfälle. Es ist keinesfalls so, dass man Angst haben müsste vor Denunziation. Das größere Problem sind Beschuldigungen, die sich trotz einer gewissen Plausibilität nicht erhärten lassen. In diesen Fällen, die man nicht klären kann, obwohl man den Anklagenden einen Vertrauensvorschuss eingeräumt hat, und bei denen am Ende Aussage gegen Aussage steht, muss die Unschuldsvermutung aufrecht erhalten werden. Wenn jemand ungerechtfertigt beschuldigt wird, ist das dennoch für ihn der soziale Tod – gerade aufgrund der Sensibilität bei diesem Thema. Man muss stets entschieden und diskret zugleich vorgehen.
HK: Als das Erzbistum Freiburg jüngst seine Zahlen für die vergangenen Jahrzehnte vorgestellt hat, war bei der Präsentation davon die Rede, dass es eine hohe Dunkelziffer gebe. In welcher Größenordnung dürfte sich diese bewegen?
Ackermann: Es wird immer ein Dunkelfeld bleiben, dessen Ausmaß sich nur sehr schwer abschätzen lässt. Das sehen wir auch in der Gesellschaft. Auch bei der allgemeinen Kriminalitätsstatistik tun sich die Experten an diesem Punkt schwer. Deshalb spricht man ja vom Dunkelfeld. Vermutungen für den kirchlichen Bereich anzustellen, wäre unredlich. Manche Menschen haben Übergriffe erlebt, die sie verarbeitet haben, sodass diese Vorfälle für sie abgeschlossen sind und sie sich nicht mehr melden.
HK: Ein Vertreter der Initiative „Eckiger Tisch“ hat auf dem jüngsten Katholikentag in Regensburg geklagt, dass die deutschen Bischöfe die Gruppe der Opfer bisher zu wenig an der Aufarbeitung beteiligt hätten. Warum wird die Opferperspektive nicht stärker berücksichtigt?
Ackermann: Ich habe diese Anregung in Regensburg aufmerksam gehört. Wir müssen sie aufnehmen. Bisher habe ich keinen wirklichen Überblick darüber, inwieweit in der konkreten Arbeit der Diözesen oder Orden bereits Betroffene einbezogen sind, etwa in die Präventionsarbeit. Die Opfer sind in einem besonderen Maße Experten, die es ernst zu nehmen gilt. Natürlich haben wir ihre Perspektive bisher nicht ignoriert und haben bei der Arbeit an den Leitlinien und der Präventionsrahmenordnung Betroffene und Opferverbände einbezogen. Im Übrigen haben sich fast alle deutschen Bischöfe in den vergangenen Jahren persönlich mit Opfern getroffen. Aber es wäre sicher gut, wenn die Opfer strukturell noch stärker beteiligt würden – wie etwa jetzt bei dem Forschungsprojekt. Man muss aber auch bedenken, dass die Beziehung zwischen Vertretern der Kirche und den Betroffenen gerade zu Anfang emotional sehr belastet war, sodass es für beide Seiten nicht einfach war, in eine gute Kooperation hineinzukommen. Ich sehe dafür aber inzwischen Chancen.
HK: Die Täter auf der anderen Seite haben ihren Opfern teils massive Schäden zugefügt, an denen viele immer noch leiden, obwohl die Vorfälle oft Jahrzehnte zurückliegen. Wie einsichtig sind solche Priester und Ordensleute eigentlich?
Ackermann: Juristen, die öfter mit der Aufklärung von Straftaten zu tun haben, waren erstaunt, wie viele Kleriker ihre Taten offen zugegeben haben, ohne erst einen Anwalt einzuschalten oder eine Aussage zu verweigern. In manchen Gesprächen stellt sich bei den Tätern auch eine Erleichterung darüber ein, dass das Fehlverhalten nun herausgekommen ist. In den wenigsten Fällen, von denen ich weiß, wurden Beschuldigungen einfach abgestritten. Aber selbst wenn Priester leichter bereit sind zu gestehen, heißt das noch nicht, dass sie sich im vollen Umfang ihrer Verantwortung stellen. Es gibt auch da die Tendenz zu verharmlosen.
HK: Warum lehnen die deutschen Bischöfe vor diesem Hintergrund eine Null-Toleranz-Politik im Umgang mit erwiesenen Tätern ab, wie sie etwa in den Vereinigten Staaten gilt?
Ackermann: Nach den heute geltenden Ordnungen wird jemand, der sich strafbar gemacht hat, auf keinen Fall mehr in der Arbeit mit Kindern und Jugendlichen eingesetzt und kommt deshalb nicht mehr für die normale pfarrliche Arbeit in Frage. Auch im Fall des Einsatzes etwa in einem Altenheim müssen die Einrichtung und der Träger informiert werden; es kommt nicht mehr vor, dass jemand eingesetzt wird und niemand Bescheid weiß. Es gibt ja keine kinderfreien Zonen im Raum der Kirche. Deshalb muss sich jeder Täter auch einer forensisch-psychiatrischen Begutachtung unterziehen, damit eine Prognose hinsichtlich seiner Einsetzbarkeit erstellt werden kann. Selbst wenn diese positiv ausfällt, ist ein Einsatz nur dann möglich, wenn bei den Gläubigen daraus kein Ärgernis entsteht. Unter den aktuellen Verhältnissen bedeutet dies, dass wir faktisch eine Null-Toleranz haben.
„Es braucht ein gutes Monitoring“
HK: Warum dann aber nicht gleich ausdrücklich die US-amerikanische Lösung?
Ackermann: Weil auch sie letztlich keine wirkliche Lösung ist. Auch wenn man oft schnelle und einfache Ergebnisse sehen will, muss man aufpassen, dass man sich nicht vorschnell seiner Verantwortung entledigt. Selbst dann, wenn jemand strafweise aus dem Klerikerstand entlassen wird, muss eine forensische Begutachtung erfolgen. Hier sehe ich die Kirche beziehungsweise ganz konkret uns Bischöfe in der Verantwortung gegenüber der Gesellschaft. Die einfache Lösung muss nicht die verantwortlichste sein. Darüber hinaus stellt sich die Frage, inwiefern nicht doch begrenzte priesterliche Dienste denkbar sind, wenn alle Fakten auf dem Tisch liegen. Es gibt ja nicht nur pädokriminelle Täter im krankhaften Sinn, sondern auch andere Formen sexualisierter Gewalt. Ob beispielsweise jemand, der einmal übergriffig war und seine staatliche sowie kirchliche Strafe verbüßt, sich seiner Verantwortung gestellt hat und für den es die positive Prognose gibt, dass von ihm keine weitere Gefahr ausgeht, seelsorglich noch einmal eingesetzt werden kann, wage ich derzeit nicht zu beantworten. Das ist eine Frage für die Zukunft. Voraussetzung für einen solchen Entscheidungsprozess wäre natürlich Transparenz gegenüber der Öffentlichkeit.
HK: Wo besteht auf der anderen Seite ein Verbesserungsbedarf bei der Prävention, für die ja nicht zuletzt das Forschungsprojekt Ergebnisse erbringen soll?
Ackermann: Was man jetzt schon sagen kann: Die Vernetzung und der Austausch der Präventionsbeauftragten in den Bistümern werden bereits gepflegt und sollten noch intensiviert werden. Wir haben heute klare Regelwerke, die die Bischöfe in ihrer Verantwortung in Kraft setzen und umsetzen müssen. Die Kirche ist darüber hinaus ein komplexer Organismus aus Einrichtungen und Diensten in unterschiedlicher Trägerschaft. Hier die Ordnungen für jeden Bereich durchzubuchstabieren und entsprechende Schutzkonzepte zu entwickeln, ist ein anspruchsvolles Unternehmen. Da braucht es ein gutes Monitoring, um zu überprüfen, ob die Maßnahmen umgesetzt werden und greifen. Hier sehe ich auch für mich eine wichtige Aufgabe als Missbrauchsbeauftragter auf der Ebene der Bischofskonferenz. Denn klar ist: Wenn irgendwo die Hausaufgaben nicht gemacht werden, sind wir immer alle mitbetroffen, weil die Kirche in der Öffentlichkeit als eine einheitliche Größe wahrgenommen wird. Es geht nie nur um eine einzelne kirchliche Einrichtung oder ein Bistum, sondern um „die“ katholische Kirche in Deutschland. Deshalb müssen alle solide arbeiten.
HK: Wo und auf welchen Ebenen sind die Widerstände denn am größten, wenn es um die Umsetzung von Präventionsmaßnahmen in der Breite geht?
Ackermann: Die Präventionsbeauftragten berichten mir nicht von offenen Widerständen. Dafür ist zu sehr deutlich, dass es nach dem, was wir in den letzten vier Jahren gelernt haben, keine Alternative zu intensiver Präventionsarbeit gibt. Aber es gibt immer wieder auch kritische Rückfragen. Es wird gefragt, ob solche Vergehen überhaupt so oft vorkommen, dass man sich jetzt so intensiv damit auseinandersetzen muss, oder ob das nicht doch in erster Linie ein Problem der Priester sei.
HK: Tatsächlich irritiert manche Ehrenamtliche, dass sie Selbstverpflichtungen unterschreiben sollen, wo die Täter doch in erster Linie Kleriker waren…
Ackermann: Die Gesamtstatistik sagt uns aber, dass sich die Mehrzahl der Fälle im Nahbereich der Familien abspielt und nicht im Verantwortungsbereich von Institutionen. Selbst wenn sich die gesellschaftliche Debatte der letzten Jahre wesentlich am kirchlichen Missbrauchsskandal entzündet hat: Es handelt sich eben nicht einfach um ein Problem der Kleriker, sondern ein gesellschaftliches Problem, das in den unterschiedlichen sozialen Bezügen vorkommt. Dass in der Kirche vor allem Kleriker Täter waren, liegt unter anderem wohl auch daran, dass in jener Zeit die Pastoral im Wesentlichen von Priestern bestimmt war und Bildungseinrichtungen mehr als heute von Ordensgemeinschaften getragen wurden. Die kritischen Rückfragen, denen Mitarbeiter in der Prävention begegnen, kommt im Übrigen auch daher, dass bei den Schulungen andere Themen mit aufgewühlt werden, etwa die Frage: Wie nehme ich meine Verantwortung als Vorgesetzter wahr? oder: Was ist richtig verstandene Kollegialität und was ist falsche Solidarität? Präventionsschulungen sind häufig deshalb unbequem, weil sie das kirchliche Rollengefüge auf den Prüfstand stellen. Zu einer Kultur der Achtsamkeit gehören klare Verantwortlichkeiten. Das bedeutet, ein Stück Kulturwandel in der Kirche voranzutreiben. Das ist nicht leicht.
HK: Welche Möglichkeiten hat ein Bischof angesichts des Priestermangels überhaupt, beispielsweise ein Führungszeugnis wirklich konsequent einzufordern? Auch mancher Priester hat dies als Generalverdacht kritisiert.
Ackermann: Wir Bischöfe haben seit 2010 dazugelernt, welche Sanktionsmöglichkeiten es gibt, wenn sich jemand gegen klare Vorgaben sträubt. Bei anderen Gelegenheiten findet man es selbstverständlich, dass bestimmte Bescheinigungen, Führungs- oder Gesundheitszeugnisse vorgelegt werden müssen – einmal abgesehen davon, dass inzwischen ja in bestimmten Bereichen die staatliche Förderung an die Einhaltung vorgegebener Standards zur Prävention geknüpft ist. Und zum Vorwurf des Generalverdachts kann ich nur sagen: Es ist doch nicht so, dass wir Bischöfe mit einem Mal unseren Priestern gegenüber misstrauisch wären und sie nicht mehr stützen würden. Der Generalverdacht ist oder war doch in der Öffentlichkeit da – und wir haben ihm entgegenzutreten.
„Nach wie vor nehme ich ein Negativ-Image der Kirche wahr“
HK: Auf dem Katholikentag war die Veranstaltung zum Thema gut besucht, der Saal aber nicht überfüllt. Ist das öffentliche Interesse inzwischen erlahmt? Und sind Sie als Missbrauchsbeauftragter der Deutschen Bischofskonferenz froh, dass der Mediendruck an diesem Punkt nachgelassen hat, oder erschwert das eher die Arbeit?
Ackermann: Die Aufmerksamkeit in der Tagesaktualität hat nachgelassen. Es gibt auch einen gewissen Sättigungsgrad, sodass das Empörungspotenzial nicht mehr so stark ist. Allerdings spürt man auch, dass die Sensibilität weiterhin hoch ist, etwa dann, wenn ein neuer Fall bekannt wird. Das ist auch richtig so. Es würde die Präventionsbemühungen erschweren, wenn die Achtsamkeit nachlässt. Das wäre verhängnisvoll, dazu darf es nicht kommen.
HK: Hat sich auch die angekratzte gesellschaftliche Reputation wieder erholt? Steht die katholische Kirche in Deutschland wieder da, wo sie vorher stand?
Ackermann: Bei der Diskussion in der Öffentlichkeit nehme ich nach wie vor ein Negativ-Image der Kirche wahr. Nicht nur die Vergehen der Täter, die Verbrechen, sind verheerend, sondern auch die Art und Weise, wie die Kirche das Thema in der Vergangenheit angepackt hat. Bis heute haben viele Menschen Zweifel, ob wir dazugelernt haben. In der Politik, etwa am Runden Tisch der Bundesregierung, oder in der Wissenschaft und bei den Experten, die im Bereich Kinderschutz arbeiten, hat die katholische Kirche inzwischen ein gutes Standing, weil man sieht, was wir alles auf den Weg gebracht haben. Unsere Missbrauchs- und Präventionsbeauftragten werden zum Beispiel auch von Verantwortlichen aus dem nichtkirchlichen Bereich als Gesprächs- und Kooperationspartner angefragt. Insofern gibt es hier durchaus eine Diskrepanz zur öffentlichen Wahrnehmung, die nach wie vor kritisch ist.
HK: Inwiefern sind die bisherigen Anstrengungen beim Aufarbeiten des Umgangs der kirchlichen Verantwortlichen ausreichend? Ist nicht davon auszugehen, dass die vom Bericht des Erzbistums München und Freising im Jahr 2011 bereits aufgezeigten Mängel auch andernorts zu beobachten sein werden? Was aber kann das Forschungsprojekt überhaupt leisten, wenn Akten unvollständig sind oder ganz fehlen?
Ackermann: Da bin ich nicht so pessimistisch. Wahrscheinlich gibt es über die Fälle in früheren Jahrzehnten nur wenige Akten, weil man früher nicht so gearbeitet hat, wie wir es inzwischen gewohnt sind. Eventuell gibt es nur Hinweise oder einige Notizen. Ich vermute, dass wir hier und da auch erschrocken sein werden über die Art der Aktenführung, weniger wegen gezielter Vertuschungsabsichten als vielmehr wegen sträflicher Unprofessionalität. Durch Äußerungen von Herrn Pfeiffer, dem ersten Partner für das Forschungsprojekt, ist der Eindruck entstanden, dass man noch im Zugehen auf das Projekt Akten vernichtet hätte. Für diesen Vorwurf gibt es aber bis heute keine Beweise. Der allergrößte Teil der Fälle, die von Betroffenen gemeldet wurden, findet sich vor allem deshalb nicht in den Akten, weil man nichts oder nur sehr unvollständig davon gewusst hat. Das seit 2010 gesammelte Material – von Betroffenen und von Tätern – übersteigt das bis dahin Aktenkundige um ein Vielfaches und steht für das Forschungsprojekt zur Verfügung.
HK: Warum müssen eigentlich alle Ortskirchen jeweils neu die Erfahrung eines Missbrauchsskandals machen, um das Problem ernst zu nehmen? Man konnte doch schon 2002 davon ausgehen, dass US-amerikanische Kleriker nicht per se weniger moralisch integer sind als deutsche?
Ackermann: Die Ortskirchen sind in ihre jeweilige gesellschaftliche Situation eingebunden. Das macht es weltkirchlich so schwierig. Die deutschen Bischöfe haben immerhin schon 2002 wegen der Erfahrungen in den USA das erste Mal Leitlinien verabschiedet. Das ganze Thema ist aber so schrecklich, hat etwas so Bedrohliches für alle Beteiligten – Betroffene, Täter, Verantwortliche und ihre Institution -, dass es unglaublich schwer ist, sich dem ohne äußeren Druck zu stellen, die Welle sozusagen vorwegzunehmen, bevor sie kommt. Aber was in der Öffentlichkeit nicht so bekannt ist: Wir haben inzwischen angefangen, voneinander zu lernen und uns international kirchlich zu vernetzen. Das weltweite E-Learning-Projekt des Kinderschutzzentrums der Gregoriana in Rom oder die vom Papst eingerichtete Päpstliche Kinderschutzkommission sind hierfür Beispiele.
HK: Ist die katholische Kirche in Deutschland nach dem Missbrauchsskandal heute eine andere als vor den Ereignissen vor vier Jahren?
Ackermann: Sicher ist das Jahr 2010 in der jüngeren Kirchengeschichte ein einschneidendes Datum. Der massive Vertrauens- und Glaubwürdigkeitsverlust besteht ja nicht nur für die kirchenferne Öffentlichkeit, sondern auch innerhalb der Kirche. Das Bedürfnis nach einer Kontrolle des Umgangs mit Macht ist heute wesentlich höher. Das zeigen nicht zuletzt die Vorgänge in Limburg. Im einen Fall geht es um sexualisierte Macht, im anderen Fall um finanzielle Macht. Auch diese Debatte wäre ohne den Missbrauchsskandal anders verlaufen.
„Die Missbrauchsdiskussion wirkt katalysierend auf den gesamten Umbruchprozess“
HK: Hat sich durch die bitteren Erfahrungen Ihr Priesterbild verändert?
Ackermann: Mit Blick auf das Priesterbild lehrt mich der Skandal eine größere Ehrlichkeit und Nüchternheit, gerade gegenüber falschen Überhöhungen. Auch das Forschungsprojekt wird noch einmal Enttäuschungen für die verschiedenen Seiten mit sich bringen. Es wird sich meiner Überzeugung nach zeigen, dass Priester zum einen nicht so verquer und kriminell sind, wie manche Kirchenkritiker das unterstellen. Auf der anderen Seite werden die Kirche und ihre Priester erkennen müssen, dass wir durchschnittlicher sind, als wir gedacht haben. Das ist eine Art Kränkung für beide Seiten.
HK: Welche Zusammenhänge gibt es grundsätzlich zwischen dem Missbrauchsskandal und den im dadurch angestoßenen Dialogprozess diskutierten Fragen?
Ackermann: Die Missbrauchsdiskussion wirkt katalysierend und damit beschleunigend auf den gesamten Umbruchprozess, in dem wir stehen. Es ist nicht so, dass es vorher keine Unruhe innerhalb der Kirche gegeben und erst der Missbrauchsskandal alles durcheinandergewirbelt hätte. Wir waren unvorbereitet auf die Massivität dieser Thematik, aber die innere Distanzierung von Gläubigen gegenüber der Kirche war auch in den Jahren vorher schon zu beobachten.
HK: Zu den Themen, die in diesem Dialogprozess intensiver diskutiert worden sind, gehören auch eine Reihe sexualethischer Fragen, die jetzt auch bei der Außerordentlichen Bischofssynode diskutiert werden sollen. Sind die viel beklagte Tabuisierung und mangelnde Sprachfähigkeit bei diesen Themen überwunden?
Ackermann: Was das Phänomen sexueller Gewalt angeht, haben wir deutlich an Sprachfähigkeit gewonnen. Ich bin vor 2010 ein einziges Mal damit konfrontiert gewesen. Ob dadurch das Sprechen über Sexualität sich insgesamt verändert hat, muss man beobachten. Die Schulungen bieten jedenfalls die Gelegenheit, sexualethische Fragen zu anzusprechen. Und wie ich höre, wird diese Gelegenheit genutzt. Unter spirituellen Gesichtspunkten handelt es sich da auch um einen Reinigungsprozess von Kirche.
HK: Lassen sich die Vorgänge überhaupt spirituell adäquat verarbeiten – oder bleibt auf dieser Ebene nicht einfach ein großes Erschrecken?
Ackermann: Insgesamt wäre ich bei dieser Frage momentan vorsichtig. Als Kirche haben die Vorfälle für uns aber auch eine geistliche Dimension, sonst wären wir nicht Kirche. Es gab, etwa von Pater Klaus Mertes, schon verschiedene Versuche, die Missbrauchsproblematik vor einem spirituellen Hintergrund zu interpretieren. Wie im Grunde jede Erfahrung kann man auch diese Vorgänge erst aus einem bestimmten Abstand heraus geistlich deuten. Im Wirbel der Situation ist das nicht möglich. Darüber hinaus besteht die Gefahr, auf vorschnelle und damit falsche Weise Dinge zu spiritualisieren. Das wäre ebenfalls verheerend. Das haben uns nicht zuletzt die Gespräche mit den Betroffenen gelehrt. Man sollte nicht zu schnell von Umkehr und Versöhnung sprechen – ohne die Opfer ernst zu nehmen. Darin besteht für mich auch die Problematik von Bußritualen zu diesem Thema. Nicht zu Unrecht kam schon der Vorwurf, dass man nicht an den Opfern vorbei in einer Liturgie Gott um Versöhnung bitten kann – in der Meinung, man sei dann wieder mit allen im Reinen. „Wir sind noch nicht versöhnt, und wir wollen selbst bestimmen, wie lange Zeit wir dafür brauchen“, ist der berechtigte Einwand der Opfer. Da heißt es, sehr sensibel zu sein. Deshalb bin ich aus Respekt vor den Betroffenen sehr zurückhaltend in diesen Fragen. Bestimmte Verstrickungen lassen sich rein menschlich ohnehin nicht auflösen und können vom Glauben her nur der Barmherzigkeit Gottes anempfohlen werden.