Die Evangelische Kirche in Deutschland (EKD) hat am 7. April dieses Jahres in Hannover ein „Studienzentrum für Genderfragen in Kirche und Theologie“ eröffnet. Der EKD-Ratsvorsitzende Nikolaus Schneider begründete diese Errichtung mit der „Vision von einer kirchlichen Gemeinschaft aus Frauen und Männern, in der jede und jeder unabhängig vom Geschlecht individuelle Charismen gleichberechtigt einbringen und entfalten kann“. Das neue Zentrum soll auf der Basis überzeugender wissenschaftlicher Arbeit „die Integration von Genderperspektiven in kirchliches Handeln unterstützen und sie für die Entwicklung unserer Kirche fruchtbar machen“.
Von einer solchen Integration ist die katholische Kirche weit entfernt. Hier steht zurzeit ganz anderes im Zentrum: die Warnung vor der Gender‑„Ideologie“ (vgl. HK, Juni 2014, 271 ff.). Erst kürzlich, am 13. Mai dieses Jahres, hat das katholische Hilfswerk päpstlichen Rechts „Kirche in Not“ eine Broschüre mit dem Titel „Gender‑Ideologie“ veröffentlicht. In nur zwei Wochen waren bereits 100 000 Exemplare (unentgeltlich) bestellt. Das zeige, so die Geschäftsführerin des Hilfswerks, dass man damit „eine Informationslücke“ gefüllt habe. Im Einklang mit anderen Äußerungen katholischer Provenienz will die 16-seitige Broschüre diese Lücke durch Aufklärung über die Gefahren der Gender‑„Ideologie“ und der politischen Agenda des Gender‑Mainstreaming füllen.
Freie Wählbarkeit des Geschlechts?
Aufgeklärt wird darüber, dass „in den Augen der Genderisten“ die Unterschiede zwischen Mann und Frau „nicht angeboren, sondern lediglich kulturell bedingt und anerzogen“ seien. Die biologisch fundierte Zweigeschlechtlichkeit werde aufgehoben, da Geschlechtlichkeit nur „als ‚soziale Rolle‘, die jeder selbst ‚frei wählen’ solle“, verstanden wird. Folglich rede man „einer Vielfalt von Geschlechtern das Wort“, in der es allein auf die „persönliche sexuelle Orientierung“ ankommt, die hetero-, homo-, bi-, trans- oder intersexuell sein könne. Damit stelle man „Naturgesetze infrage, die seit Menschengedenken Gültigkeit haben“. Sogar Erkenntnisse der Biologie, wonach „Männer und Frauen in bestimmten Bereichen grundverschieden sind“, würden vielfach ignoriert. Das verdeutliche die nur „angebliche ‚Wissenschaftlichkeit‘“ der Genderforschung, weshalb „es sich beim Genderismus wirklich um eine Ideologie handelt“.
Mit naturwissenschaftlichen Erkenntnissen decke sich aber das christliche Menschenbild, denn als Ebenbild Gottes besitzen beide Geschlechter „die gleiche personale Würde (…); da Gott den Menschen aber ‚als Mann und Frau‘ (Gen 1,27) schuf, sind die Geschlechter nicht einfach gleichartig: Gerade ihre Verschiedenheit bietet ihnen die Möglichkeit, einander zu ergänzen“. Dagegen entspringe die Gender‑Ideologie „letztlich einer atheistischen Sichtweise des Menschen“.
Die Umsetzung dieser Ideologie habe unter „dem Schlagwort ‚Gender‑Mainstreaming‘ längst in der Politik Einzug gehalten“ und umfasse bereits viele Lebensbereiche: So würden neue Begriffe eingeführt (zum Beispiel Geschlechtervielfalt, Homophobie, …), auch neue Bezeichnungen in der Verwaltungssprache (beispielsweise ‚Elternteil 1‘ und ‚Elternteil 2‘ statt ‚Vater‘ und ‚Mutter‘), ebenso neue Vergabekriterien bei Stellenbesetzungen und neue Akzente in der Bildungspolitik, wonach bereits Kinder „möglichst früh zu ‚Akzeptanz sexueller Vielfalt’ erzogen werden“ sollen, um zu „lernen, dass die Verbindung von Mann und Frau nur eine von vielen gleichberechtigten Möglichkeiten sei, Sexualität zu leben“.
Die Broschüre von „Kirche in Not“ schließt mit drei Hinweisen. Erstens damit, dass „unabhängig voneinander“ bereits Ende 2013 drei Bischofskonferenzen (die portugiesische, sodann die slowakische und polnische) Hirtenworte verfassten, in denen sie genauso „vor der Gleichmacherei der Gender‑Ideologie warnen“. Am 2. Februar dieses Jahres haben ferner die norditalienischen Bischöfe in einem pastoralen Wort die Gefahren der „ideologia del gender“ aufgezeigt.
Dieser Hinweis hätte noch erweitert werden können. Auch der Bischof von Chur, Vitus Huonder, hat sein Wort zum Tag der Menschenrechte am 10. Dezember 2013 der „tiefen Unwahrheit“ der Gender‑Theorie gewidmet, da diese Ideologie, wonach „jeder Mensch sein Geschlecht und seine sexuelle Orientierung frei wählen könne“, die schöpfungsgemäße Vorgabe der Natur von Mann und Frau leugnet. In diesem Sinn verwies schon ein Jahr zuvor Papst Benedikt XVI. in einer Ansprache am 12. Dezember 2012 auf die der Gender‑Theorie zugrunde liegende „anthropologische Revolution“. Wenn es aber die im Schöpfungsbericht als Vorgegebenheit ausgesagte „Dualität von Mann und Frau nicht gibt, dann gibt es auch Familie als von der Schöpfung vorgegebene Wirklichkeit nicht mehr“.
Bereits im Jahr 2000 ist der Päpstliche Rat für die Familie in einem Dokument, betitelt „Ehe, Familie und faktische Lebensgemeinschaften“, auf „die Auswirkung einer gewissen Gender‑Ideologie“ (Nr. 8) eingegangen und vier Jahre danach ebenso das Schreiben der Glaubenskongregation zur „Zusammenarbeit von Mann und Frau in der Kirche und in der Welt“ (vgl. Nr. 2, vgl. dazu auch HK, September 2004, 443 ff.).
Der zweite Hinweis am Ende der Broschüre von „Kirche in Not“ bezieht sich auf den Ad-limina-Besuch der österreichischen Bischöfe Ende Januar dieses Jahres in Rom, bei dem Papst Franziskus auf die Frage des Salzburger Weihbischofs Andreas Laun hin gesagt hat: „Die Gender‑Ideologie ist dämonisch!“ „Aufklärung vor dieser teuflischen Ideologie ist daher das Gebot der Stunde“ – so lautet der letzte Satz der Broschüre, der zugleich auf das Motiv ihrer Veröffentlichung schließen lässt. Laun selbst sieht das Dämonische der Gender‑Ideologen, die ihm drastisch ausgedrückt „geistige ‚Talibans‘“ sind, in der freien Wählbarkeit des Geschlechts. Diese These eines „kranken Vernunft‑Produktes“ habe aber „unter vernünftigen Menschen nichts verloren“, wiewohl auch „viele ‚Gebildete‘ fallen darauf herein“. Doch „nie hat man gehört, dass jemand (…) verkündete: ‚Heute früh habe ich versucht, eine Frau sein zu wollen – und seht, ich habe es zusammengebracht, jetzt bin ich eine!‘“ (www.kath.net/news/45221).
Der dritte Hinweis in der Broschüre von „Kirche in Not“ gilt dem Buch „Die globale sexuelle Revolution“ von Gabriele Kuby. Dieser Literaturhinweis ist wohl keineswegs zufällig, da Kuby in maßgeblicher Weise die geistige Mentorin nicht nur dieser Broschüre, sondern auch der jüngsten bischöflichen Äußerungen zur Gender‑Ideologie sein dürfte. Wer ihr im Herbst 2012 erschienenes Buch liest, findet darin punktgenau die Argumentationslogik der vorne zitierten Aussagen wieder. Darüber hinaus enthält aber das 453-seitige Buch mehr als 400 Endnoten und vermittelt daher den Anspruch, ein gründlich recherchiertes Werk zu sein. Immerhin bezeugt der Umschlagtext: „Es ist ein Meisterwerk! Inhaltlich, sprachlich, wissenschaftlich.“ Laun bezeichnet es sogar als „Jahrhundertbuch“.
So scheint es sinnvoll, die genannten Argumente gegen die Gender‑Ideologie entlang dieses Buches zu prüfen. Denn sollten sie in dieser Form zutreffen, dann sollte niemand auf diese Ideologie hereinfallen. Ist das gar der evangelischen Kirche in Deutschland passiert? Der kursierende Witz, wonach ein Elternpaar auf die Frage, ob ihr neugeborenes Kind ein Junge oder ein Mädchen sei, antwortet, dass sie das nicht sagen können, weil ihr Kind das einmal selbst entscheiden müsse, ist nicht lustig, sondern unerträglich, sollte er umgesetzter Gender‑Realität entsprechen. Das werden aber „viele ‚Gebildete‘“ bezweifeln, da sie wissen, dass es „die“ Gender-Theorie nicht gibt, sondern eine Vielfalt von Gender- und Queer Studies, die ihren Forschungsgegenstand kaum je als eigene Disziplin, sondern in inter- und transdisziplinärer Weise untersuchen und damit in vielfältige wissenschaftstheoretische Formate eingebunden sind.
Wissenschaftliche wie journalistische Standards missachtet
Primär wird im Folgenden das methodische Vorgehen Kubys analysiert, weshalb keine nähere Diskussion der Gender/Queer Studies als solche intendiert ist. Daher wird auch auf diverse Strategien des Gender‑Mainstreaming, die zum Teil durchaus kritisch zu diskutieren wären, nicht eingegangen. Denkbar ist ferner, dass Kuby ihr Buch nicht als wissenschaftliches Werk im engeren Sinne versteht. Doch auch als populärwissenschaftliches Sachbuch würde es journalistischen Standards einer fundierten und ausgewogenen Recherche der zur Verfügung stehenden Quellen unterliegen. Wie sich zeigen wird, entsprechen Kubys Ausführungen weder wissenschaftlichen noch journalistischen Standards.
Das beginnt damit, dass stets von der Gender‑„Ideologie“ die Rede ist, ohne den Begriff Ideologie zu präzisieren. Über die Art und Weise, wie die Kritik vorgetragen wird, lässt sich nur erschließen, dass der Ideologiebegriff als relativ unspezifische, aber umfassende Abgrenzung gegenüber einer Position dient, die in Relation zu Kerngehalten der eigenen, für unideologisch gehaltenen, Position als Widerspruch begriffen wird. Derart wird der Begriff Gender, ohne auch diesen angemessen differenziert zu klären, als inkompatibel mit der katholischen Lehre abgewiesen. Eine Ideologiekritik im Sinne der Aufklärung, die auf eine inhaltliche Auseinandersetzung mit Argumenten zielt, ist nicht im Blick.
Die Dimension der Körperlichkeit wird keineswegs negiert
Das zeigt sich daran, dass Kuby wiederholt dem unterliegt, was einst der Moraltheologe Bruno Schüller „genetischen Fehlschluss“ genannt hat. Dieser besagt, von der Genese eines Arguments (oder einer Theorie) unvermittelt auf dessen (oder deren) Geltungs- oder Wahrheitsgehalt zu schließen, so als wäre diese Genese das eigentliche Geltungs- oder Wahrheitskriterium und nicht die mit einem Argument (oder einer Theorie) vorgebrachten Begründungen.
So erwähnt Kuby auffällig oft, dass dieser Autor schwul und jene Autorin lesbisch oder Feministin sei – und scheint daraus zu folgern, dass deren Denkansätze von vornherein suspekt oder gar unwissenschaftlich seien. Darum scheint auch die Mühe einer ernsthaften argumentativen Auseinandersetzung unnötig. Wenn daher Kuby und andere von der Gender‑Ideologie sprechen, werden die Argumente dieser „Ideologie“ oft gar nicht unvoreingenommen zugelassen, um sie kritisch auf ihren Wahrheitsgehalt oder Irrtum prüfen zu können.
Stattdessen genügen einige „passende“ Zitate, die einen Widerspruch zur eigenen Position markieren, um damit den Ideologievorwurf zur Stärkung der eigenen und Ablehnung der anderen Position etablieren zu können. Gemäß Schüller ist der genetische Fehlschluss aber häufig in dem anzutreffen, „was sich landläufig als Ideologiekritik gibt“.
Damit eng verbunden ist ein selektives Heranziehen von Quellen. Von Kuby werden Autoren und Autorinnen sowie Studien, die die eigene Position bestärken, ausführlich zitiert, andere dagegen, die diese infrage stellen würden, entweder ignoriert oder einseitig in oft verzerrter und sinnentstellter Weise dargestellt und kritisiert. Demgemäß fügt sich alles zu einem recht einheitlichen, undifferenzierten Bild der Gender‑Bedrohung, das unwiderstehlich alarmbereit werden lässt. Doch die selektive Methode, mittels derer Kuby dieses Bild inszeniert, impliziert unumgänglich Fehlurteile.
In ihrem Buch „Die globale sexuelle Revolution“ (SR) bezeichnet Kuby etwa Judith Butler als „Chefideologin der Gender‑Theorie“ (SR 81) – wohl deshalb, weil diese in ihrem 1991 auf Deutsch erschienenen Buch „Das Unbehagen der Geschlechter“ (UG) die seit den siebziger Jahren übliche Unterscheidung zwischen „Sex“ als biologischem Geschlecht und „Gender“ als sozialem Geschlecht und als Geschlechtsidentität insofern für hinfällig erklärt, als sie „Sex“ als ein Resultat von „Gender“ begreift. Damit scheint das Geschlecht nur mehr eine soziale Konstruktion zu sein, bloß ein Produkt des gesellschaftlichen Diskurses also, das beliebig veränderbar und vervielfältigbar ist, da es keine natürlich feststehende Dualität von Mann und Frau mehr gibt.
Diese den Ideologievorwurf auslösende scheinbare Position Butlers teilt auch Kuby. Nachdem sie zunächst darüber aufklärt, dass Butler lesbisch ist, stellt sie deren „in hoch philosophische, schwer verständliche Terminologie“ (SR 82) gehüllte Theorie in eigenen „einfachen Worten“ wie folgt dar: „Männer und Frauen gibt es gar nicht. (…) Gender ist nicht an das biologische Geschlecht gebunden, dieses spielt überhaupt keine Rolle, es entsteht nur, weil es durch Sprache erzeugt wird (…) Identität ist im Blick Judith Butlers freischwebend und flexibel, es gibt kein männliches oder weibliches Wesen“ (SR 82).
Diesem Blick auf ihre Theorie hat Butler – in ebenso einfachen Worten aus einem Interview mit dem „Philosophie Magazin“ (1/2013) – entgegenhalten: „Wissen Sie, ich bin ja nicht verrückt. Ich bestreite keineswegs, dass es biologische Unterschiede zwischen den Geschlechtern gibt. Doch wenn wir sagen, es gibt sie, müssen wir auch präzisieren, was sie sind, und dabei sind wir in kulturelle Deutungsmuster verstrickt.“ Butler zufolge ist es unmöglich, Mann oder Frau zu sagen, ohne zugleich kulturelle Deutungsmuster auszusagen. Somit gibt es „keinen Rückgriff auf den Körper, der nicht bereits durch kulturelle Bedeutungen interpretiert ist. Daher kann das Geschlecht keine vordiskursive, anatomische Gegebenheit sein“, weshalb „das Geschlecht (sex) definitionsgemäß immer schon Geschlechtsidentität (gender) gewesen“ (UG 26) ist.
Somit negiert Butler, wie sie in ihrem Buch „Körper von Gewicht“ (KG) betont, die Dimension der Körperlichkeit keineswegs. Denn die „Kategorie des ‚sex‘ ist von Anfang an normativ“ und „Teil einer regulierenden Praxis, die die Körper herstellt“ (KG 21). Doch jede „Version des ‚biologischen Geschlechts‘“ ist bereits formiert vom Diskurs, was aber „nicht gleichbedeutend ist mit der Behauptung, er erschaffe, verursache oder mache erschöpfend aus, was er einräumt; wohl aber wird damit behauptet, dass es keine Bezugnahme auf einen reinen Körper gibt, die nicht zugleich eine weitere Formierung dieses Körpers wäre.“ (KG 33) Nur in diesem Sinne können Körper im interpretativen Bezug auf diese „entstehen“ oder „erzeugt“ werden, was Kuby jedoch ganz anders (miss)versteht.
Butler setzt ein komplexes Ineinander von Sex und Gender voraus, wobei die Kategorie Sex nur in sozialer Vermittlung vorliegt. Kubys Kritik, dass das biologische Geschlecht gar keine Rolle spielt und darum die Kategorien Mann und Frau ausgedient hätten, muss Butler daher als verrückt verstehen. Somit ist auch die Annahme absurd, dass sie die „jederzeit veränderbare Selbsterfindung“ (SR 83) des Geschlechts behaupte – derart, dass man „beim Aufwachen die Augen aufschlägt und überlegt, welches ‚Geschlecht‘ er/sie heute annehmen will“ (KG 35). Wer Butler das vorwirft, hat nichts von ihrer Theorie verstanden.
Auch die Relevanz der Naturwissenschaften wird nicht ignoriert, wiewohl dieser Kritik oft ein Objektivitätsmythos zugrunde liegt, der naturwissenschaftliche Eindeutigkeit suggeriert, die es vielfach nicht gibt. Wer etwa meint, dass es „das“ Männer- oder „das“ Frauengehirn gibt, um daraus generalisierende Geschlechterstereotype ableiten zu können, der möge bei der Biologin Sigrid Schmitz nachlesen, wie facettenreich sich das Netzwerk von Geschlecht und Gehirn im fortwährenden Prozess von biologischen, psychosozialen und soziokulturellen Wechselwirkungen konstituiert.
Gender‑Equality, nicht Gender‑Sameness
Kuby unterstellt dem Begriff Gender eine „Gleichheit von Mann und Frau“ (SR 150), die losgelöst vom Biologischen als Gender‑Sameness begriffen wird, als materiale Unterschiedslosigkeit. Dagegen geht es den Gender Studies unter Berufung auf die Menschenwürde um Gender‑Equality, um formale Gleichheit zwischen den Geschlechtern. Somit auch darum, die alltagsweltlich wie wissenschaftlich als selbstverständlich vorausgesetzten Geschlechterunterschiede von Mann und Frau, die dieser Gleichheit auch heute noch oft entgegenstehen, auf ihre unreflektierten biologischen Fixierungen hin zu überprüfen und diese im Ergebnis überwiegend als sozial konstruiert auszuweisen.
Freilich geht es vor allem den Queer Studies auch darum, aufzuzeigen – und hierin dürfte der Kern der Ideologiekritik liegen –, dass die soziale Deutung des Geschlechts traditionell nur eine heterosexuelle Matrix zuließ und damit einen Bereich von „verworfenen Wesen, die geschlechtlich nicht richtig identifiziert zu sein scheinen“, und „denen die Möglichkeit kultureller Artikulation regelrecht verwehrt wird“ (KG 30), hervorbrachte. Da die Verworfenen ein „Leben im Zeichen des ‚Nicht‑Lebbaren‘“ (KG 23) führen, will Butler mit ihrem dekonstruktivistischen Ansatz ein „erweiterungsfähiges und mitfühlendes Vokabular der Anerkennung“ (KG 10) etablieren, um den Bereich des lebbaren Lebens ausweiten zu können.
Mit dieser Ausweitung, die der Begriff Gender ermöglicht, geht es ihr nicht um die Zerstörung von Familie. Wohl aber darum, dass davon abweichenden Lebensweisen nicht Verwerfung, sondern gleichermaßen soziale Anerkennung zuteil wird, da Menschen, die der heterosexuellen Matrix nicht entsprechen, deshalb nicht weniger Körper von Gewicht sind.
Obzwar dieses Vokabular mit jenem der katholischen Lehre nicht einfach vereinbar ist, rechtfertigt das nicht Kubys undifferenzierte, meist sinnverdrehende Wahrnehmung des Begriffs Gender, die sich auch in den zu Beginn genannten Veröffentlichungen zeigt. Weithin zielt daher der Kampf gegen die Gender-Ideologie auf Adressaten, die – unbeschadet mancher Extrempositionen, die jedoch überall anzutreffen sind – nicht existieren.
Eine problematische naturrechtliche Argumentation
Notwendig wäre stattdessen, sich der oft vergessenen Zukunft des Zweiten Vatikanischen Konzils zu erinnern – insbesondere an die in der Pastoralkonstitution „Gaudium et spes“ neuformulierte dialogische Sicht des Verhältnisses zwischen Kirche und Welt. Sie impliziert, „keine Ausschließungen als Basis der Glaubensdarstellung“ (Hans-Joachim Sander) vorzunehmen, da für die Kirche „selbst die Feindschaft ihrer Gegner und Verfolger (…) sehr nützlich“ ist, und somit eine Herausforderung anzeigt, die konstruktiv wie kritisch anzunehmen ist, „damit die geoffenbarte Wahrheit immer tiefer erfasst, besser verstanden und passender verkündet werden kann“ (GS 44).
Gender Studies als Herausforderung zu begreifen, hieße zunächst, sich pauschaler Ideologievorwürfe zu enthalten und sodann, diese auch positiv als Wachstumspotenzial für die eigene Lehre wahrnehmen zu können. Das setzt voraus, zentrale Anliegen der Gender Studies in ihren Stärken aufschließen und nicht vorweg bezüglich ihrer Schwächen verschließen und gänzlich ausschließen zu wollen. Dieser Aufschließungsprozess legt mitunter auch eigene Schwächen offen, die zugunsten der eigenen Position oft unter Verschluss gehalten werden.
Meist verbergen sich die Schwächen in vorgeblichen Stärken. Denn zuletzt gründet der katholisch markierte Widerspruch im untrennbar miteinander verwobenen Verhältnis von Sex und Gender, Natur und Kultur. Da Butlers Theorie von den Kategorien Gender und Kultur ausgeht, und damit die beiden anderen in den Reflexionshintergrund stellt, erweckt sie den Anschein, als würden diese „abgeschafft“. Geradezu umgekehrt verhält es sich im katholischen Bereich. Hier erhellt die natürlich fundierte Geschlechtsidentität die ganze Wahrheit des Wesens von Mann und insbesondere Frau. Die soziale Formierung des Geschlechts gelangt darum nur als Akzidentielles in den Blick und geschlechtlich anders Identifizierte erscheinen wider die natürliche Ordnung.
Diese Form der naturrechtlichen Argumentation ist seit Längerem auch seitens der Moraltheologie infrage gestellt. Vor allem die Kritik der zirkulären Begründung (petitio principii), wonach aus der Natur abgeleitet wird, was zuvor in sie hineinprojiziert wurde, und somit die Natur nicht von sich aus normativ ist, sondern nur entlang eines an sie herangetragenen „anthropologischen Projekts“ (Klaus Demmer) – Butler würde sagen: entlang einer kulturellen Interpretation –, wiegt schwer. Dass eine derart projektionsenthobene Natur in der katholischen Tradition dennoch vorausgesetzt wurde und weiterhin wird, verweist auch, wie der damals junge Theologe Joseph Ratzinger in einem Artikel 1964 schrieb, auf „‚ideologische‘ Elemente“, da man über die Naturrechtslehre oft eine „Vernachlässigung des Geschichtlichen zugunsten des Spekulativen“ sowie „eine starke Option in Richtung auf das Konservative“ bewirken will.
Wäre über Mann und Frau als Ebenbild Gottes nicht verstärkt in der Kategorie Beziehung nachzudenken? Die Geschlechterdifferenz wäre dann primär nicht substanziell, sondern relational zu bedenken – theologisch im Horizont der Relation Gottes zu den Menschen, die sich „in und als Relation unbedingter Zuwendung“ (Hans-Joachim Höhn) erweist, welche Ausschließungen ausschließt und darum ein vertieftes Bedenken des nur analog aussagbaren Geheimnischarakters unseres Daseins einschließt. Als Geheimnis ist Gott wie auch der Mensch als Mann und Frau definitiv undefinierbar. Denn es erschließt sich in der Beziehung zu ihm je neu – in dennoch vertrauter Weise.
Das am 24. Juni dieses Jahres vom Vatikan veröffentlichte „Instrumentum Laboris“ für die im Herbst stattfindende außerordentliche Generalversammlung der Bischofssynode zum Thema „Die pastoralen Herausforderungen im Hinblick auf die Familie im Kontext der Evangelisierung“ spricht die Gender‑Ideologie explizit in vier Abschnitten an (23; 114; 117; 127; vgl. HK, August 2014, 385 ff.). Ein Abschnitt verweist auf die Notwendigkeit, „über die allgemeine Verurteilung hinauszugehen, um auf diese Position (…) in begründeter Weise antworten zu können“ (127). Es bleibt zu hoffen, dass das gelingt, um – wie damals auf dem Konzil mit Blick auf den Atheismus – „einen aufrichtigen und klugen Dialog“ (GS 21) führen zu können.