Thomas Merton war ein Nonkonformist, der sich nicht in die gängigen Vorstellungen, wie ein Mönch zu leben hat, was ein katholischer geistlicher Schriftsteller schreiben darf, welche politischen Auffassungen er zu vertreten hat, einordnen ließ. Das macht ihn so interessant. Da trifft jemand mit 30 Jahren nach einem bewegten Leben, in dem er unter anderem in Cambridge eine Frau kennenlernte, mit der er einen Sohn zeugte, die radikale Entscheidung, in einen kontemplativen Orden einzutreten, und entfaltet dort eine Dynamik trotz – oder wegen – vieler innerer und äußerer Stoppschilder.
Stoppschilder gab es zur Genüge. Zum einen waren es seine Skrupel, Ängstlichkeit und Schuldgefühle, zum andern seine Vorgesetzten, vor allem sein Abt, die Vorschriften seines Ordens und die Lehre der Kirche. Seine Tagebücher berichten an vielen Stellen von seinen Auseinandersetzungen mit seinem Abt, der ihm verbot, Einladungen zu Veranstaltungen außerhalb des Klosters wahrzunehmen, darunter auch eine Einladung von Kardinal Franz König, der er nicht nachkommen durfte. Die Zensur seiner Bücher durch die Ordensleitung versucht er zu unterlaufen, indem er – so in seinem Buch „Seeds of Contemplation“, dessen erweiterte Fassung unter dem Titel „Christliche Kontemplation“ (2010) auf Deutsch erschienen ist – zu Beginn schreibt: „Sollte irgendetwas in diesen Zeilen nicht mit der Lehre der Kirche in Einklang zu bringen sein, so soll es von vornherein als ausgelöscht betrachtet werden.“
Gnade vollzieht sich in der Spannung. So spricht Merton sich dafür aus, dass sich jeder ein wenig die „Gründlichkeit und Schärfe eines Theologen“ (2010, 211) aneignen und versuchen soll, „den von der Kirche definierten und gelehrten Dogmen einen ganz präzisen, positiven und bestimmen Sinn“ (211) zuzuordnen, um dann über die Sprache und alle speziellen Begriffe der Theologie hinauszukommen. Wie das Thomas von Aquin mit seiner „Summa Theologica“ getan hat, die er kurz vor der Fertigstellung voller Überdruss beiseite legte. Denn, so Merton, der „Hüter des Geistes, der genau weiß, was er will, dringt durch die Oberfläche der Wörter; er geht weit hinaus über die menschlichen Formulierungen, mit denen man die Geheimnisse Gottes umschreibt, und sucht in demütigem Schweigen, intellektueller Einsamkeit und innerer Armut nach dem Geschenk des übernatürlichen Bestehens, das sich nicht angemessen in Worten ausdrücken lässt“ (212).
Von Gott besetzt
Zu Beginn seines Aufenthaltes im Kloster genießt es Thomas Merton einfach, an einem Ort zu sein, an den, so schreibt er in einem Brief an seine Freunde, alles, was gut war, als er ein Kind war, zurückgebracht wurde. „Es ist sehr gut und schön, nur von Gott besetzt zu sein, einfach in seiner Gegenwart zu sitzen, und den Mund zu halten und allein durch die schlichte Tatsache, dass Gott es liebt, in deiner Seele zu sein, geheilt zu werden“ (in: Edward Rice, The Man in the Syrcamore Tree. The good Times and the hard Life of Thomas Merton, New York 1985, 45). Diese kontemplative Haltung bestimmt sein ganzes weiteres Leben als Mönch und zieht sich durch alle seine Veröffentlichungen durch. Da fühlt sich jemand auf eine letztlich unbeschreibbare Weise zutiefst angesprochen von Gott, erfährt seine heilige und heilende Präsenz und ist bereit, ihm allein zu dienen.
Das haben vor und nach ihm viele andere erfahren. Merton hatte aber die Gabe, darüber auf dem Hintergrund seiner eigenen Erfahrungen sowie seines theologischen Wissens und seines Allgemeinwissens zu schreiben. Seine schriftstellerischen Fähigkeiten – er schrieb auch viele Gedichte und einen posthum veröffentlichten Roman – halfen ihm dabei. Dazu kam, dass er nach der Veröffentlichung seines Buches „Der Berg der sieben Stufen“ (1948), in dem er seine Bekehrung, seinen Klostereintritt beschreibt, in der westlichen Welt berühmt wurde.
Merton spürte sehr schnell, dass im Rampenlicht zu stehen, auch zur Bürde werden kann. Da will er sich zum einen an einen Ort zurückziehen, der ihn schützt vor der Welt, will zurück in einen paradiesischen Zustand, in dem alles gut ist und – so hofft er vielleicht – gut wird. Zugleich richtet die Welt den Blick auf ihn beziehungsweise lässt er sie an seiner Welt teilhaben. Es reißt ihn aber auch aus seiner Idylle heraus, zwingt ihn, den Blick auf die Welt zuzulassen und auszuhalten und ihm nicht auszuweichen. Als der Vietnamkrieg ausbricht, will er auch das nicht mehr. Er warnt vor den Gefahren eines Atomkrieges und solidarisiert sich, so gut es ihm möglich war, mit der Friedensbewegung, der auch die Jesuiten Philipp und Dan Berrigan angehören.
Kontemplation und Aktion gehören für Merton zusammen. Bevor er sich entschloss, ins Kloster zu gehen, überlegte er, Sozialarbeit in Harlem, New York, zu leisten. Gegenüber der katholischen Theologin Rosemary Radford Ruether, die sein Leben in Zurückgezogenheit angesichts der großen sozialen gesellschaftlichen Probleme in den USA infrage stellt, ja ihn auffordert, das Kloster zu verlassen und sich den Problemen der Welt zu stellen, verteidigt er sein Leben als kontemplativer Mönch. Für ihn ist es keine Flucht, sondern seine Weise, durch Gebet und Kontemplation, seinen Beitrag zur Bewältigung der Probleme in der Welt zu leisten.
Freilich musste er in der Folgezeit seines Klosteraufenthaltes seine Radikalität ausbalancieren. Er musste feststellen, dass sein Kloster kein Paradies war, seine Mitbrüder keine Heiligen. Er selbst spürte zunehmend in sich wieder die künstlerische, die schriftstellerische Seite. Später, nach der Begegnung mit der Krankenschwester M., brach sich auch seine Sehnsucht nach einer Frau, nach erotischem Verlangen, wieder Bahn, meldete sich gebieterisch und brachte ihn in die allergrößten Nöte. Wenn man sieht, mit wie vielen Menschen er über die ganze Welt verbreitet Briefkontakt unterhält oder sich im Kloster trifft, kann man nur die Hände über den Kopf schlagen und sich wundernd fragen, wie er das mit einem kontemplativen Lebensstil, seinem Rückzug aus der Welt, seinem einfachen Dasein in der Gegenwart Gottes, in Einklang zu bringen vermochte.
Merton war sich selbst bewusst, dass das alles zuviel war, ganz zu schweigen von seiner Vielschreiberei. Es war ihm auch bewusst, dass hier eine zuweilen nicht mehr fruchtbare Spannung zwischen Ideal und Wirklichkeit bestand. Er stellte sich dieser Spannung, so gut er konnte. Seine Tagebücher, die 25 Jahre nach seinem Tod veröffentlicht wurden, zeigen uns einen Thomas Merton, der sich und durch seine Tagebücher auch der Welt außerhalb von ihm nichts vormacht.
Entflammt vom Liebessehnen
Wer die Schilderung seiner kurzen Liebesbeziehung – so würde er vermutlich selbst es bezeichnen, nicht als Affäre – mit der um viele Jahre jüngeren Krankenschwester M. liest, begegnet einem Mönch, der eine Frau liebt, total in sie verliebt ist und innerlich und äußerlich versucht, einen Weg zu finden, damit zurechtzukommen.
Da bleiben Fragen, inwieweit er verantwortungsvoll gehandelt hat, der jungen Frau gegenüber gerecht geworden ist. Aber es ist auch ein Bericht, der von einem echten Ringen zeugt, das Richtige zu tun und einen Einblick in die Seele eines Menschen gewährt, der sich ernsthaft dem stellt, was ihm widerfährt und dabei auch zu seiner Menschlichkeit steht. Merton zeigt auf, wie er versucht, mit der Spannung zwischen Ideal und Wirklichkeit umzugehen.
Man kann Vieles in diese Erfahrung hinein interpretieren und es wäre spannend, wie es M., die offensichtlich noch lebt, aber sich bisher öffentlich noch nicht dazu geäußert hat, erlebt hat. War es nur ein Strohfeuer? Einige Jahre später verbrennt er ihre Briefe und schreibt in seinem Tagebuch: „Heute verbrannte ich unter anderen Dingen die Briefe von M. Unglaubliche Dummheit in 1966! Ich warf nicht einmal einen Blick auf sie. Hohe heiße Flammen, Pinienzweige in der Sonne!“
Im Verlieben, so meine Interpretation, sehen wir im anderen unser eigenes inneres Gold, das es gilt, für uns zurückzuholen. Zugleich begegnen wir im Verlieben dem Göttlichen. Gott zu sehen und diese Erfahrung auf einen Menschen zu übertragen, ihn zum Gott, zur Göttin zu machen, ist ein schrecklicher Fehler, der zum Scheitern verurteilt und mit maßlosen Schmerzen verbunden ist. Er verdunkelt den Blick auf den wahren Menschen, die wahre Liebe, die dem konkreten Menschen gilt. Gelingt es uns dagegen, so der Tiefenpsychologe Robert A. Johnson, durch die Erfahrung des Verliebens für die „Goldene Welt des Numinosen“ sensibler zu werden, bereichert sie uns.
Vielleicht hat diese Erfahrung dazu beigetragen, dass Merton der Erfahrung der Goldenen Welt des Numinosen näher gekommen ist. Er hat sich intensiv mit den Mystikern befasst, darunter auch Johannes von Kreuz, der in seinem Gedicht über die dunkle Nacht des Geistes, der Sinne und der Seele unter anderem schreibt, und dabei von seiner Sehnsucht nach Gott spricht: „In einer dunklen Nacht, entflammt von Liebessehnen.“ Ob die Erfahrung mit M. Merton in diese Richtung weitergebracht hat?
Merton vergleicht einmal die Situation des Ordensmannes, der die Anwesenheit Gottes vermisst, mit Erfahrungen, die Johannes von Kreuz und andere Mystiker gemacht haben. Diese Erfahrung kann für sie zu einer wichtigen Erfahrung werden, spüren sie doch in dieser Situation, wie unendlich viel mehr Gott ihnen bedeutet als alles andere. Zugleich ist bei jemand, der alles auf Gott setzt, die Erfahrung seiner Abwesenheit das Schlimmste, was ihm passieren kann. Merton kennt diese Erfahrung. Er kennt aber auch die Erfahrung, dass man diese Leere wieder vollkommener und weiter als zuvor mit der Erfahrung der Gegenwart Gottes füllen kann, wenn man sie aushält. Hält man sie freilich nicht aus, besteht die Gefahr, dass man die Leere mit anderen Dingen, wie menschlichen Kontakten,
Schreiben, Anerkennung, manchmal auch Beten, ausfüllt.
Irgendwann war es für Merton an der Zeit, das Paradies, in dem er sich in seinen Vorstellungen wähnte, zu verlassen und, wie sein Freund Edward Rice schreibt, statt den Mönch und den Heiligen zu spielen, einer zu sein. Das ist schwer und befreiend zugleich. Er darf und muss nicht mehr der sein, der er glaubt, sein zu müssen oder zu dem andere ihn machen, der zu sein, andere von ihm erwarten. Merton verabschiedet sich von dem Thomas Merton, der den „Berg der sieben Stufen“ geschrieben hat. Er schreibt: „Sie können Thomas Merton haben. Er ist tot.“ Der Thomas Merton, der er einmal war, der zu sein er selbst glaubte, zu sein, zu dem er von anderen gemacht wurde, ist tot. Es lebe der wahre, der echte Thomas Merton!
Das wahre Selbst
Wenn das nur so leicht wäre. Thomas Merton hat sich viel mit dem wahren Selbst auseinandergesetzt, im Bewusstsein, dass viele, vielleicht die meisten, er selbst eingeschlossen, weit davon entfernt sind, sie selbst zu sein, ihr wahres Selbst zur Entfaltung zu bringen. Er schreibt: „Für mich bedeutet, ein Heiliger zu sein, ich selbst zu sein. Darum besteht das Problem des Heiligwerdens und der Erlösung in Wirklichkeit darin, dass ich herausfinden muss, wer ich bin, und dass ich mein wahres Selbst entdecke“ (2010, 64). Der einzige Weg dahin bestehe für ihn darin, „mit Gott identisch zu werden“, in dessen Liebe und Barmherzigkeit das Geheimnis meiner Identität, der Grund und die Erfüllung meiner Existenz verborgen liegen“ (69 f.).
Wir heutigen Menschen scheinen uns immer schwerer damit zu tun, wirklich herauszufinden, wer wir sind und was wir wollen. Wann bin ich wirklich ich? So steht es groß geschrieben auf der ersten Seite der Wochenzeitung „Die Zeit“ vom 14. August 2014. Die Vorstellung von einem Kern-Selbst, gar von einem tief in unserem Unbewussten verankerten Design, das bestimmt, wer wir im Tiefsten sind und das es gilt, im Sinne der Selbst-Verwirklichung zu entfalten, wird infrage gestellt. Die Zeiten, in denen stabile soziale Gefüge unsere Identität bestimmen, so heißt es in dem erwähnten Beitrag weiter, sei vorbei. Alles ist im Fluss, vorläufig und auf Abruf.
Auf diesem Hintergrund wirken die Aussagen von Thomas Merton über das wahre Selbst oder die wahre Identität als überholt und unrealistisch. Sein eigenes Leben und Bemühen, seinem Leben die Gestalt zu geben, wie er meinte, dass Gott sie sich so gedacht hat, zeugen davon, wie er bei allem Wandel zu der Person geworden ist, die zu werden er berufen und bestimmt war. Das erinnert an Karl Rahner, der einmal sagte: „Niemand kann seine Zukunft voraussehen. Man kann seine Zukunft nicht einmal im eigentlichen Sinne planen, beispielsweise vorausberechnen wie es Ihnen zumute ist, wenn Sie zehn oder vierzig Jahre älter sind, das wissen Sie nicht und ich weiß es auch nicht. Aber ich kann als junger Mensch sagen: hier ist eine Richtung. Diese Richtung zielt auf Gott, den Herrn der Geschichte und aller Wirklichkeit. Das Übrige muss die Zukunft bringen. (…) Zwischen 1922, wo ich Jesuit geworden bin und 1972, wo ich es immer noch bin, ist alles Mögliche der inneren und äußeren Welt – und der deutschen und der eigenen Geschichte – passiert, was man nicht voraussehen konnte und doch blieb Einheit und Richtung meines Lebens dieselbe.“
Öffnung gegenüber dem Buddhismus
Da gab es vielleicht doch ein Kern-Selbst bei Merton, das sich gerade in der Vielfalt und Flexibilität Ausdruck verschaffte. Dieses Kern-Selbst hat sich durch den vorgegebenen Rahmen des Klosterlebens mit seinen Regeln, die von seinem Abt zum Teil sehr eng und rigoristisch eingefordert wurden, nicht daran hindern lassen, sich zu entfalten, mitunter noch mit größerer Macht, da es ihm nicht immer leicht gemacht wurde.
Die künstlerische Seite, der Schriftsteller, der zutiefst von Gott angesprochene und berührte Thomas Merton wurde immer mehr sichtbar. Waren es am Anfang die Wüstenväter und Ordensheiligen, mit denen er sich schriftstellerisch befasste, so kamen später Themen dazu, die Krieg, Frieden, Technologie und schließlich die Auseinandersetzung mit anderen Religionen betrafen. Er interessierte sich für die muslimischen Sufis, den Hinduismus und insbesondere den Buddhismus. Dabei beließ er es nicht, sich darüber Gedanken zu machen, sondern mischte sich ein, unterstützte die Friedensbewegung. Die junge Joan Baez besuchte ihn für einige Stunden in seiner Einsiedelei und zusammen hörten sie sich auf seinem alten Plattenspieler Lieder von Bob Dylan an.
Konzentration auf das Wesentliche
Auf seiner Asienreise, von der er nicht mehr lebend zurückkehrte, traf Merton auch den Dalai Lama. Als dieser vor einiger Zeit das Europäische Parlament besuchte, ging er in seiner Rede auch auf Thomas Merton ein, womit er unterstrich, wie viel er ihm bedeutet. Merton gilt als einer die Pioniere, die sich ganz bewusst als Christ, ohne den christlichen Boden zu verlassen, dem Buddhismus gegenüber geöffnet haben. Er führte einen intensiven Dialog mit führenden Buddhisten. Willigis Jäger (den ich sehr schätze) meinte einmal, Merton sei hier nicht weit genug gegangen. Nach seinem Empfinden spräche er noch viel zu viel von Gott. Hätte Merton das gehört, hätte er sicher gelächelt und darauf geantwortet: „Danke, lieber Willigis, aber ich glaube, ich spreche noch viel zu wenig von Gott.“ Was bei Thomas Merton fasziniert, ist, dass er für einen Moment innehalten konnte, um darauf aufmerksam zu machen, dass Gott sich hier in diesem Raum befindet. Das macht die Größe von Thomas Merton aus: Auf der einen Seite sich wirklich auf Zen, den Buddhismus einzulassen, auch sich davon bereichern und inspirieren zu lassen, zugleich aber auch sich treu zu bleiben, wo es um sein Verständnis von Gott, seiner Erfahrung mit Gott geht.
Viele seiner ursprünglichen – vor allem katholischen – Anhänger in den USA konnten seine Hinwendung zum Buddhismus, seine offenen Proteste gegen Krieg, sein Einsatz für die Menschenrechte, nicht mittragen und wandten sich von ihm ab. Die offizielle Kirche in den USA schnitt ihn. Vom Zweiten Vatikanischen Konzil erhoffte er sich viel und war froh, als ihm Papst Johannes XXIII. eine Stola überbringen ließ. Er war loyal gegenüber seiner Kirche, was ihn aber nicht daran hinderte, ganz offen zu sagen, dass er die Kirche seiner Zeit auch als „ungerecht, unmenschlich, willkürlich und sogar absurd“ erlebe (Rice, 82).
Würde Merton heute als Trappist in seiner Einsiedelei leben, wie er es in den letzten Lebensjahren tat, käme seine Ausstrahlung daher, dass er tatsächlich dort lebt und nicht – eigentlich nicht mehr dort lebend – ständig unterwegs ist zu Vorträgen, Konferenzen, Fernsehauftritten und anderem mehr. Denn, was er zu sagen hat, drückt sich vor allem in seiner Lebensform aus, mit der er bei aller Unvollkommenheit eine Richtung einschlug, die ihm die Konzentration auf das Wesentliche ermöglichte.
Merton hat gerade durch sein Leben im Kloster, durch diese Art, ganz anders zu leben als der Rest der Welt, eine einzigartige Ausstrahlung auf die Menschen ausgeübt. Seine Überzeugungskraft ging von seiner radikalen Entscheidung aus, auf etwas ganz Anderes zu setzen, etwas ganz Anderes für wertvoll zu erachten als die Übrigen, alles aufzugeben, um ganz für Gott da zu sein. Das sagt mehr über Gott, überzeugt mehr als es noch so viele Worte über Gott vermögen. Da spürt man etwas von der Macht des Glaubens, die vor nichts Halt macht, die alles auf den Kopf stellen kann.
Was uns heute fehlt, sind Menschen, denen wir zutrauen, ab und zu für uns zur Inkarnation Gottes zu werden. Uns fehlen Orte, Personen, die glaubwürdig vermitteln, dass es ihnen zu allererst um Gott geht. Es gibt im spirituellen und kirchlichen Umfeld immer noch viele, die den Anspruch erheben, die das von sich behaupten; allein wenn wir genauer hinsehen, geht es nicht selten um wirtschaftliche Interessen, bleibt es nicht mehr als ein narzisstisches Gehabe mit dem Ergebnis, dass wir uns voller Abscheu und Entsetzen von ihnen abwenden, weil wir Heuchelei, Missbrauch von geistlicher Macht und Anspruchsdenken begegnen und wir erschrocken und betroffen zugleich mit den Psalmisten einstimmen: „Sie lügen. Alle.“
Natürlich gibt es die Aufrechten, jene, denen wir vertrauen, die ohne großes Aufhebens die Inkarnation Gottes einfach sind. Die aus der Erfahrung und Nähe Gottes heraus leben. Es sind Menschen, die etwas vom Magma des Glaubens, dem Kern, dem Ursprung, der Glut, der befreienden und Leben erweckenden Kraft des Evangeliums ausstrahlen. Papst Franziskus hat etwas von diesem Feuer, doch es scheint nicht wirklich die Herzen vieler seiner bischöflichen Mitbrüder, aber auch die der normalen Gläubigen so sehr zu entzünden, sodass es wirklich zu einer radikalen Bekehrung und Umkehr wie bei Merton führen würde.
Wenige Tage vor seinem Tod durfte Thomas Merton eine Erfahrung machen, nach der er sich ein Leben lang sehnte. „Beim Anblick der riesigen Buddhas in Polonnaruwa auf Ceylon wurde ich“ so schreibt er, „plötzlich fast gewaltsam aus meiner gewohnten, befangenen Schau der Dinge völlig herausgerissen; eine innere Helligkeit und Klarheit leuchtete so deutlich, so eindeutig auf, als träte sie mit der Wucht einer Explosion aus diesen Steinbildern hervor… Ich weiß nicht, wann ich je im Leben schon einmal ein solches Empfinden von Schönheit und letzter geistlicher Überzeugungskraft in einer einzigen ästhetischen Erleuchtung erfahren habe… Ich meine, ich weiß und habe geschaut, wonach ich unbewusst gesucht habe. Ich weiß nicht, was jetzt noch aussteht, aber ich aber gesehen und habe die Oberfläche durchstoßen und habe hinter den Schatten und die Verkleidung geschaut“ (in: Monika Furlong, Alles, was ein Mensch sucht. Thomas Merton, ein exemplarisches Leben, Freiburg 1992, 406 f.).
Thomas Merton macht diese Erfahrung während seines Asien-Aufenthaltes. Wenige Tage danach hält er auf einer Konferenz für Ordensleute einen Vortrag, in dem er öfters die Formulierung „I disappear“ und am Schluss „I am finished“, also ich bin ans Ende gekommen, gebraucht. Wenige Stunden später starb er an einem Stromschlag. Jetzt erfüllte sich sein Primizspruch endgültig: “Er wandelte mit Gott, dann war er nicht mehr; denn Gott hatte ihn hinweg genommen“ (Genesis, 5,24).