Bei der Frage nach der religiösen Situation unserer Gesellschaft liegen zwei Antworten auf der Hand. Die beiden großen christlichen Kirchen erodieren weiter, und das Feld hat sich vor allem durch die Präsenz des Islam pluralisiert. Weit schwerer sind die Erscheinungsformen gelebter Religion außerhalb der traditionellen kirchlichen Vollzüge (Gottesdienste, Sakramente, Kasualien) zu fassen. Hier schlägt Hubertus Lutterbach mit seinem Buch einige hilfreiche Schneisen, indem er den Blick auf diverse religiös konnotierte Phänomene in unserer Lebenswelt richtet, und das in einem breiten Spektrum: Es reicht vom Pilgern (den Ansatzpunkt liefert hier der Bestseller „Ich bin dann mal weg“, in dem Hape Kerkeling über seine Auszeit auf dem Weg nach Santiago de Compostela berichtet) über die Hospizbewegung bis zu den Trauerritualen im Zusammenhang mit dem Unglück bei der Duisburger „Loveparade“ im Sommer 2010 und mit dem Selbstmord des Fußballprofis Robert Enke.
Lutterbach schaut jeweils genau hin und zeigt dann auch, wie christliche Traditionen in den einzelnen Fällen aufgenommen beziehungsweise umgeformt werden, etwa die mittelalterlich-mystischen Wurzeln der heute weit verbreiteten Praxis der an Brückengeländern befestigten „Liebesschlösser“. Ein Kabinettstück gelingt ihm mit seiner Analyse des Phänomens Anselm Grün: Dieser klösterliche Bestseller-Autor werde nicht als Vertreter einer Institution wertgeschätzt, sondern als geistlicher Vater, „der für seine spirituelle Botschaft auf die (Christentums-)Geschichte zurückgreift und sie – wie auch sich selbst – gezielt in den Dienst heutiger biografischer Suchprozesse stellt“ (125). Von den Kapiteln fällt das über den Amtsverzicht von Landesbischöfin Margot Käßmann einerseits und Bischof Walter Mixa andererseits etwas aus dem Rahmen.
Den roten Faden durch das Buch liefern die Stichworte „Individualität“, „Ganzheitlichkeit“ und „Institutionenferne“. Sie sind für Lutterbach Grundcharakteristika des heutigen Umgangs mit Religion und lassen sich auch in allen untersuchten Beispielen wiederfinden. Diese Diagnose ist nicht überraschend, sondern findet sich auch sonst in religionssoziologischen Beschreibungen der gegenwärtigen Situation. Originell und anregend ist eher, wie Lutterbach das sehr heterogene Material anschaulich und gleichzeitig mit klarer Begrifflichkeit zusammenstellt. Das Fazit aus seinen Fallstudien: Vor-aufgeklärtes Gedankengut könne für Menschen von heute in bestimmten Lebenssituationen von tragender Bedeutung sein. Gleichzeitig seien viele Formen aus dem ehedem kirchlich-sakralen Exklusivbezirk ausgewandert. Damit sind auch schon die großen Herausforderungen für kirchliche Verkündigung und kirchliches Handeln benannt.