GastkommentarFlüchtlinge aufnehmen, Perspektiven bieten, Zuwanderung gestalten

Die Flüchtlingswellen der vergangenen Wochen haben gezeigt: Es braucht in Deutschland ein eigenes Einwanderungsgesetz.

Wir befinden uns in einer Phase, die sicherlich eine der größten Herausforderungen für Deutschland und Europa nach 1945 ist. Über 60 Millionen Menschen sind weltweit auf der Flucht. Sie suchen Sicherheit, Freiheit, Frieden und eine Perspektive für sich und ihre Familien. Die Flüchtlinge bauen auf unsere Grundwerte. Wir müssen zeigen, dass die europäische Politik diesen Prinzipien gerecht wird und den hohen Anspruch verwirklicht, die Menschenwürde zu schützen und die Aufnahme der Verfolgten zu leisten.

Wenn der Ruf nach Abschottung und Abschreckung immer lauter wird, müssen wir dem die europäischen Grundwerte und ja, auch die christlichen Grundüberzeugungen entgegen halten. Die EU muss ihre Verantwortung gemeinsam wahrnehmen, und es darf nicht sein, dass sich einzelne Länder der Solidarität komplett verweigern. Wir brauchen dringend einen Sondergipfel der EU-Staats- und Regierungschefs, um schnelle Entscheidungen für eine solidarische Verteilung der Flüchtlinge zu treffen.

Die großartige und berührende Hilfsbereitschaft für ankommende Flüchtlinge zeigt, welches Potenzial in den Menschen in unserem Land steckt. Das ist für mich gelebte Nächstenliebe. Das Engagement der vielen Haupt- und Ehrenamtlichen, der Wohlfahrtsorganisationen und der Hilfsorganisationen muss von konsequentem staatlichem Handeln begleitet werden. Die vereinbarten Gelder müssen schnell an die Kommunen fließen und die Länder müssen bei der Verteilung und Versorgung der Flüchtlinge unterstützt werden.

Die Fehler während des Zuzugs der Gastarbeiter dürfen nicht wiederholt werden. Damals glaubte man, lediglich Arbeitskräfte für einen begrenzten Zeitraum zu holen – und es kamen Familien mit ihrer Kultur und auch ihrer Religion. Sprache und Arbeit sind die beiden wichtigsten Felder für eine gelingende Integration. Die tägliche Erfahrung zeigt, dass Flüchtlinge zur Schule gehen, ihre Kinder in den Kindergarten schicken, eine Ausbildung machen und arbeiten wollen. Daher sind Investitionen in die Sprach- und Arbeitsvermittlung dringend. Wir brauchen mehr Mittel für Deutschkurse, mehr Mitarbeitende in den Arbeitsagenturen und Jobcentern sowie den Abbau von formellen Hürden.

Auch die Flucht aus als unerträglich empfundenen Zuständen, aus Perspektivlosigkeit und bitterer Armut ist ein Grund zur Auswanderung, den wir uns aus dem reichen Deutschland heraus nicht anmaßen sollten, als weniger wichtige Migrationsursache zu diffamieren. Deswegen brauchen wir eine legale Möglichkeit der Einwanderung in Arbeit. Deutschland sollte den Bürgern der westlichen Balkanstaaten, die einen Vollzeit-Arbeitsvertrag haben, der nach Tarif und branchenüblich bezahlt ist, ein zeitlich begrenztes Arbeitsvisum zusagen.

Wir brauchen dringend ein echtes transparentes Einwanderungsgesetz. Das Asylrecht ist das falsche Verfahren, um die notwendige Einwanderung qualifizierter Arbeitskräfte in unser Land zu steuern. Es ist gut, dass die beiden großen Kirchen ein solches Einwanderungsgesetz unterstützen. Kardinal Reinhard Marx, der Vorsitzende der Deutschen Bischofskonferenz, hat dies in seiner Ansprache beim Michaelsempfang betont. Und der EKD-Ratsvorsitzende Heinrich Bedford-Strohm forderte schon im Juli ein Einwanderungsgesetz noch in dieser Legislaturperiode. Ein solches Gesetz brauchen wir auch deshalb, weil ein legaler Weg nach Deutschland die beste Maßnahme wäre, das brutale Schlepper-Unwesen einzudämmen.

In Zukunft werden die Kirchen genauso wie die ganze Gesellschaft noch weitaus mehr gefordert sein. Die aktuellen Fluchtbewegungen werden den Islam in Europa und in Deutschland und auch unsere christlichen Gemeinden sowie unser religiöses und kulturelles Zusammenleben verändern. Wir brauchen ein Aufeinander-Zugehen und Impulse für ein friedliches und tolerantes Miteinander. Auch wenn wir derzeit eine ungeheure Welle der Hilfsbereitschaft erleben, für die wir sehr dankbar sind, können uns soziale und kulturelle Spannungen bevorstehen. Die Kirchen haben eine wichtige Funktion als Wertevermittler und aktive Akteurinnen unseres Sozialstaates. Konflikte müssen offen angesprochen werden, und die Regeln unseres Staates müssen vermittelt werden. Zu unserer Geschichte und Kultur gehören die Gleichberechtigung von Frau und Mann, die positive und negative Religionsfreiheit, das Lernen aus der Geschichte und unsere besondere Verantwortung gegenüber dem Staat Israel. Die Kirchen können mit ihren vielen sozial engagierten Mitgliedern eine besondere Mittlerrolle spielen, wenn sie klar, offen und demokratisch ihre Haltung zeigen.

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