GastkommentarEs gibt kein Zurück

Die aktuelle Flüchtlingskrise markiert eine Wendezeit, die ein grundlegendes Umdenken von Politik und Gesellschaft erfordert. Eine Rückkehr zum vorherigen Status quo ist nicht möglich.

Klaus Mertes
„Wende-Ereignisse lassen uns in der Rückschau erkennen, dass wir vorher etwas übersehen haben – weil wir es nicht gesehen haben oder weil wir es nicht sehen wollten.“© Kolleg St. Blasien

Wir leben in einer Wendezeit. Das wurde schon oft gesagt und mag lapidar klingen, ist aber doch existenziell. Nach der Wende ist alles anders als vor der Wende. Zwar ist alles noch da, was vor der Wende da war, aber es ist nichts mehr so wie früher – und es ist etwas Neues da. Alles erscheint dadurch in einem neuen Licht. Im Blick auf die Zeit vor der Zeitenwende erschließen sich nachträglich Einsichten, die man vorher nicht hatte, sondern höchstens ahnen konnte: Es kommt schlimmer als befürchtet, besser als erhofft, besser als befürchtet, schlimmstenfalls schlimmer als erhofft.

Wendezeiten machen sich an Ereignissen fest. Die aktuelle Wendezeit hat wieder, aber doch auch ganz anders als 1989, mit der Öffnung von Grenzen zu tun. Tausende von Flüchtlingen haben in den letzten Wochen die Grenzen Europas und die Grenzen innerhalb Europas überwunden und tun es weiter. Wir werden uns von der Illusion verabschieden müssen, dass sich die Flüchtlingsbewegungen durch Meere und Zäune aufhalten lassen. Nur wenn wir das anerkennen, können wir gestalten.

Zugleich werden wir an den Grenzen Europas geregelte Zugänge schaffen müssen. Wir werden auch harte Entscheidungen treffen und einigen Nein sagen müssen. All dies und noch vieles mehr ist der Preis dafür, dass wir uns nicht militärisch in die Konflikte hineinbegeben werden, die eine der Hauptursachen für die gegenwärtigen Völkerwanderungen sind. Dass militärische Interventionen im Nahen und Mittleren Osten die Probleme nicht lösen, sondern verschärfen, haben wir begriffen.

Wir werden im Sinne der päpstlichen Enzyklika „Laudato Si“ das Problem des Klimawandels als ein Problem der Bekämpfung der Armut begreifen und darauf eingehen; andernfalls sind die gegenwärtigen Flüchtlingsbewegungen nur Vorboten von Bewegungen ganz anderer Dimension. Wir werden aufhören, die Meere leer zu fischen, damit sich verarmte Fischer nicht Schlepper-Mafias anschließen müssen. Wir werden uns in Deutschland von einem zu eng gefassten Asyl-Begriff lösen. Die Begegnung mit Menschen aus fremden Kulturen wird uns nicht nur bereichern, sondern uns auch in schmerzliche Konflikte führen, die wir annehmen müssen. Wir werden uns auch mit den Konflikten befassen, die neu Hinzugekommene untereinander haben.

Wir werden den Rechtsstaat und sein Gewaltmonopol stärken und durchsetzen müssen, da er von innen und von außen neu infrage gestellt werden wird. Die Demokratie wird auch deswegen ganz neu herausgefordert werden, da sich dauerhaft populistische Parteien rechts von der CDU etablieren werden. Lager- und wahlpolitische Taktiererei in diesen Zeiten ist jedenfalls unverantwortlich. Die Religion und die Frage nach Gott wird eine neue gesellschaftspolitische Brisanz erhalten.

Die Gender-Thematik wird durch die Konfrontation mit harten patriarchalischen und clanmäßigen Denkstrukturen sogar von aktuellen „Genderismus“-Gegnern aufgegriffen werden. Es wird ungemütlicher werden in Deutschland und in Europa. Politik wird mehr riskieren müssen. Die Auseinandersetzungen um den richtigen Weg werden schärfer werden.

Wendezeiten ermöglichen im Rückblick selbstkritische Korrekturen. Wende-Ereignisse lassen uns in der Rückschau erkennen, dass wir vorher etwas übersehen haben – weil wir es nicht gesehen haben oder weil wir es nicht sehen wollten. Es war nicht alles falsch, was ich früher gedacht habe, aber eben auch nicht alles richtig. Ich muss mich neu sammeln und mein Denken neu ordnen. Biblisch nennt man das: Metanoia – Umdenken.

Wendezeiten künden sich vorher an. Die Ereignis-Ströme, die im Wendeereignis ineinanderfließen, fließen zwar auch schon vorher. Dummerweise kann man sich aber erst im Nachhinein sicher sein, dass sie „Zeichen der Zeit“ waren. Aber wenn es soweit ist, gibt es auch schon kein Zurück mehr hinter das Wendeereignis. Rückkehr zum Status quo ante ist also nicht möglich. Selbst wer etwa die Aussetzung von „Dublin III“ für einen Fehler hält: Die Paste geht nicht in die Tube zurück.

Vom Evangelium her gesehen sind Wendezeiten Herausforderungen an den Glauben, und zwar ganz konkret: Glauben als Gegenkraft zu Fatalismus, Resignation und Ohnmachtsgefühlen. Deswegen sind Wendezeiten besondere Gelegenheiten für Politik im Geiste des Evangeliums. In diesem Sinne: Wir werden das schaffen.

Anzeige: Ich bin, wie Gott mich schuf von Sabine Estner und Claudia Heuermann

Die Herder Korrespondenz im Abo

Die Herder Korrespondenz berichtet über aktuelle Themen aus Kirche, Theologie und Religion sowie ihrem jeweiligen gesellschaftlichen und kulturellen Umfeld. 

Zum Kennenlernen: 2 Ausgaben gratis

Jetzt testen