Es war ein buntes Bild an diesem Samstagabend in der Säulenhalle der Bonner Universität. Junge und ältere Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler standen in angeregtem Gespräch bei Bier und Brezeln um Stehtische herum, auf denen kleine Schildchen platziert waren. Philosophie, Geschichte, Politikwissenschaft, Rechtswissenschaft war da zu lesen; an manchen Tischen bildeten sich regelrechte Trauben von jungen Leuten. Die altehrwürdige Görres-Gesellschaft zur Pflege der Wissenschaft hatte sich zum Auftakt ihrer 118. Generalversammlung Ende September in Bonn etwas Neues einfallen lassen. Ein „Offener Markt“ für Studierende und den wissenschaftlichen Nachwuchs bildete den informellen Rahmen, um mit erfahrenen und häufig prominenten Vertretern ihres Fachs ins Gespräch zu kommen. Das Experiment scheint gelungen.
Das Thema Nachwuchs war denn auch ein durchgängiger Strang in allen Veranstaltungen des Jahrestreffens mit seinen rund 500 Teilnehmern. Die Görres-Gesellschaft, von außen häufig als „älter und männlich“ angesehen, verfügt noch über knapp 3000 Mitglieder; im Vergleich zum Jahr 2000 ein Minus von 14 Prozent. Als eine der Existenzfragen der Görres-Gesellschaft nannte dementsprechend Georg Braungart, Tübinger Germanist und Leiter der Bischöflichen Studienförderung Cusanuswerk, die Nachwuchsförderung. Braungart hat sich als einer der neu gewählten Vizepräsidenten der Gesellschaft besonders dieser Aufgabe verschrieben. Es werden Reisestipendien zur Teilnahme an den Generalversammlungen vergeben; Promotionspreise ausgelobt und Tandems gebildet, bei denen erfahrene Wissenschaftler ihre jungen Kollegen „coachen“. In den Sektionssitzungen sollen verstärkt Nachwuchswissenschaftler als Referenten mitarbeiten und durch die Mitarbeit an den großen Standardwerken der Görres-Gesellschaft, wie etwa dem Staatslexikon, eine frühe Möglichkeit für eigene wissenschaftliche Publikationen erhalten.
Damit nimmt die Görres-Gesellschaft die Anregungen einer dreiköpfigen Evaluationskommission auf, die das Präsidium der Gesellschaft im September des vergangenen Jahres beauftragt hatte, Vorschläge für eine Erneuerung der Vereinigung zu machen. Die Kommission hatte unter anderem empfohlen, dem Image einer „katholisch-sklerotischen Vereinigung“ entgegenzuwirken. Dieses Image-Problem hatte der bisherige Vorstand bereits erkannt und mit der Aufarbeitung der Defizite begonnen.
Zur Frage nach der Motivation, der Görres-Gesellschaft beizutreten, steuerte Bernd Engler, Rektor der Universität Tübingen, und in Bonn neugewählter Präsident der Gesellschaft, seine eigene Erfahrung bei. Er nahm 1981 als 27-jähriger, der gerade seinen Magister in den Fächern Anglistik, Germanistik und Philosophie abgeschlossen hatte, erstmals an einem interdisziplinären Symposium der philologischen Sektionen teil. Nicht nur wurde er freundlich aufgenommen, er konnte sogar vortragen und war fortan Teil des Netzwerkes in seinem Fach. Eingeladen hatte ihn sein späterer Doktorvater – ein über Jahrzehnte bewährtes Modell. Die etablierten Wissenschaftler brachten als Mitglieder der Görres-Gesellschaft jüngere Kolleginnen und Kollegen mit auf die Jahrestagungen – manche von ihnen wurden Mitglieder, so setzte sich eine Tradition fort.
Heute bestehen jedoch für junge Wissenschaftler zahlreiche Möglichkeiten, etwa mithilfe der Mittel aus der Exzellenzinitiative auch internationale Tagungen und Workshops zu besuchen, wie einer der erfahrenen Sektionsleiter in der Philosophie skeptisch hervorhob. Der wissenschaftliche Nachwuchs sei wählerischer geworden und überlege sehr genau, wo er seine Zeit investiere. Da sei der Campus von Harvard oder Berkeley attraktiver als die gemütliche Runde in einer Bonner Bierstube. Dem steht das Proprium der Görres-Gesellschaft gegenüber, als Gegenpol zu den Fachgesellschaften Orientierungswissen zu schaffen und so den normativen Anspruch des christlichen Verantwortungs- und Wertehorizonts einzubringen. Dieses Proprium muss sich allerdings in der modernen Wissenschaftsgesellschaft behaupten, wenn die Görres-Gesellschaft durch Nachwuchsgewinnung eine Zukunft haben will.
Die Evaluationskommission hatte auch eine stärkere Internationalisierung der Görres-Gesellschaft angeregt. So wurde empfohlen, zu den Diskussionsveranstaltungen der Sektionen regelmäßig ausländische Vortragende einzuladen und Kontakte zu internationalen Vereinigungen aufzunehmen.
Katholisch heißt allumfassend
Das Thema Verjüngung zog sich wie ein roter Faden durch die Tagung. Der gesamte Vorstand wurde neu gewählt. Auf Wolfgang Bergsdorf, Politikwissenschaftler und früherer Präsident der Universität Erfurt, der nach achtjähriger Präsidentschaft nicht erneut antrat, folgt der 61-jährige Engler. Bergsdorf seinerseits hatte 2007 das Amt von dem Juristen und früheren Kultusminister in Nordrhein-Westfalen, Paul Mikat, übernommen, der die Görres-Gesellschaft ehrenamtlich vierzig Jahre lang leitete. Neu gewählt als Vizepräsidentin wurde neben Georg Braungart die Bamberger Ethnologin Heidrun Alzheimer, die sich verstärkt um die Sektionen und das bislang unterrepräsentierte weibliche Element in der Görres-Gesellschaft kümmern wird.
Die Mitgliederversammlung billigte ohne Gegenstimmen auch eine neue Satzung, die unter anderem eine hauptamtliche Generalsekretärin oder einen Generalsekretär vorsieht. Mit der neuen Satzung werden die strukturellen und organisatorischen Empfehlungen der Evaluation weitgehend umgesetzt. Dazu gehört die Straffung der Jahresversammlung, die Reduzierung der Zahl der Vorstandsmitglieder sowie eine grundlegende Neustrukturierung der Geschäftsstelle. Große Hoffnungen richten sich jetzt auf die neu zu bestellende Generalsekretärin oder den Generalsekretär.
Engler, der mit überwältigender Mehrheit zum Präsidenten gewählt wurde, hat mit der Billigung der Satzung die Rückendeckung der Mitglieder für seinen neuen Kurs. Er kündigte an, die Görres-Gesellschaft wolle sich kritisch mit ihrem jetzigen und insbesondere ihrem zukünftigen „Ort“ in der Gesellschaft und vor allem in der Wissenschaft auseinandersetzen. Er sehe die Görres-Gesellschaft in der Pflicht, so Engler, eine neue, eine vernehmbarere Stimme zu finden, die das christliche Fundament auch dort erkennbar mache, wo es zunächst keinen Platz zu haben scheine – in der Wissenschaft.
Wissenschaft sei eben nicht voraussetzungslos, insofern sei ein Zeichen wissenschaftlicher Glaubwürdigkeit, die Voraussetzungen des Denkens und Handelns als christlich fundiert offenzulegen. Eine christliche Stimme in der Wissenschaft in einer Gesellschaft zu finden, die sich in einem fortschreitenden Modernisierungsprozess befinde, bedeute gerade nicht, einen neuen Modernismusstreit vom Zaun zu brechen. Engler wörtlich: „Wenn es darum geht, den Wertehorizonten der Görres-Gesellschaft eine Stimme zu geben, so müssen wir in einem übertragenen Sinne katholischer werden, nämlich katholisch im Sinne des griechischen ,katholikos‘, das ,allumfassend‘ bedeutet.“ Er sieht die Notwendigkeit, unser Wissen als plurale Orientierungsangebote einer Gesellschaft zu eröffnen, die mehr und mehr nach Orientierungsangeboten verlangt.
Engler folgt damit der Evaluationskommission, die zu einer konfessionellen Öffnung der Görres-Gesellschaft geraten und ihr zugleich empfohlen hatte, ihre Arbeit verstärkt gegenüber Politik, Kirchen und Gesellschaft zu präsentieren.
Hermeneutik des Vertrauens
Um die Görres Gesellschaft zu einem „Ort lebendiger Debattenkultur“ zu machen, soll es in Zukunft verstärkt Görres-Foren, also öffentliche Gesprächsveranstaltungen zu aktuellen Themen wie zum Beispiel der Sterbehilfe oder der Flüchtlingsproblematik geben. Diese Foren sollen vornehmlich in Berlin, aber auch regional stattfinden. Da an den Jahresversammlungen nur zwischen 10 und 15 Prozent der Mitglieder teilnehmen, so die Überlegung, seien Veranstaltungen und Foren während des Jahres auch für die Mitgliederbindung wichtig.
Das Verhältnis von Wissenschaft und Glaube hatte zuvor auch der Aachener Bischof Heinrich Mussinghoff in seiner Predigt beim Pontifikalamt im Bonner Münster aufgegriffen. Er erinnerte an das 50-jährige Jubiläum des Zweiten Vatikanischen Konzils und die Pastoralkonstitution „Gaudium et Spes“. Darin, so der Bischof, hätten die Konzilsväter ein kraftvolles Plädoyer für die Autonomie der Wissenschaften gehalten. An die Stelle einer Hermeneutik des Verdachts sei eine Hermeneutik des Vertrauens getreten. Mussinghoff wörtlich: „Einerseits hat die Kirche die Autonomie der Wissenschaften zu respektieren und diese Autonomie auch zu verteidigen, wenn sie in Gefahr gerät. Andererseits hat sie das christliche Zeugnis von Gott und den biblischen Universalismus in den Dialog mit den Wissenschaften einzubringen.“
Zur Rolle der Theologie im Kontext der Wissenschaften unterstrich Mussinghoff: „Die Theologie ist eine zum Dialog verpflichtete Wissenschaft. Sie kann ihre Aufgabe, den christlichen Glauben intellektuell zu durchdringen und rational zu verantworten, nur im Austausch mit anderen Wissenschaften erfüllen. Das macht sie für die Kirche unverzichtbar.“ Für seine langjährigen Verdienste als Vorsitzender der Kommission VIII der Deutschen Bischofskonferenz (Fragen der Wissenschaft und Kultur) wurde Mussinghoff mit dem Ehrenring der Görres-Gesellschaft ausgezeichnet.
Der Bonner Philosoph und Ethiker Ludger Honnefelder, bislang stellvertretender Generalsekretär der Görres-Gesellschaft, ging in seiner Laudatio für Bischof Mussinghoff auch auf das aktuelle Verhältnis von Wissenschaft und Religion ein. „Einer hoch entwickelten Wissenschaft steht in weiten Teilen der Welt ein religiöser Rigor gegenüber, der außer der eigenen Überzeugung keine Gründe gelten lässt und deshalb den ,Raum der Gründe‘, der menschliche Kultur auszeichnet, der Zerstörung aussetzt. Steht doch einem immer stärker um sich greifenden Szientismus, der glaubt, auch die Weltdeutung durch Religion übernehmen zu können, ein religiöses Bewusstsein gegenüber, das sich zutraut, diese Herausforderung allein durch Rückzug auf sich selbst zu bestehen.“
Das Thema „Wissenschaft und Glaube“ bestimmte auch die Rede des neuen Protektors der Görres-Gesellschaft, des Kölner Erzbischofs Kardinal Rainer Maria Woelki, beim traditionellen Empfang für alle Teilnehmer. Er verteidigte die Wissenschaftlichkeit der Theologie. Die Theologie als Glaubenswissenschaft müsse im Dialog mit allen anderen Wissenschaften stehen. Zwar unterschieden sich die Erkenntnisweisen von Glaube und Vernunft; beide seien aber aufeinander angewiesen. Beispielsweise seien alle Forschungen zu fördern, die im Dienst am Leben stehen und auf die Bekämpfung von Krankheiten abzielen, so der Kardinal.
Wichtig seien auch Forschungen, um die Geheimnisse des Universums und des Planeten Erde zu entdecken – nicht um die Schöpfung sinnlos auszubeuten, sondern um sie zu bewahren. „So gerät der wirklich gelebte Glaube nicht in Konflikt mit der Wissenschaft, sondern wirkt vielmehr mit ihr zusammen“, so Woelki. Ohne die Glaubensinhalte setze sich die Vernunft in einer Weise absolut, wie sie dem Menschen zum Schaden gereiche. Umgekehrt bewahre die Vernunft den Menschen vor Aberglauben und Ideologie.
Bunt und lebendig
Die Bonner Tagung war bunt und lebendig, sehr gut besucht, ein großes Banner am Haupteingang der Universität wies auf die Tagung hin, überall lagen blau-grüne Prospekte aus, die öffentlichen Vorträge der Professoren Ulrich Konrad über den „Bonner Beethoven“ und Heinrich Oberreuter zum Thema „Zeitenwende? Bonner und Berliner Republik“ zogen viele Zuhörer aus der Stadt an. Die Universität und die Stadt Bonn waren eingebunden und nicht nur beim Festakt zahlreich vertreten.
Die eigentliche wissenschaftliche Arbeit fand wie in jedem Jahr in den Sektionen statt, die sich teilweise über zwei Tage erstreckte. 95 Vorträge wurden gehalten. Die Themen reichten dabei von der „Metaphysik und Erkenntnistheorie bei Thomas von Aquin“ bei den Philosophen, über die Frage nach der Inklusion bei den Pädagogen bis zur sexuellen Vielfalt als Gegenstand staatlicher Erziehung in der Sektion für Rechts- und Staatswissenschaft; ein weiteres Thema war die Frage nach dem Verhältnis von Forschung und klinischer Praxis im Blick auf eine individualisierte Medizin bei der gemeinsamen Sitzung der Sektionen Medizin, Psychologie, Psychiatrie und Psychotherapie sowie Natur- und Technikwissenschaft. Bemerkenswert und in der heutigen Wissenschaftslandschaft keineswegs selbstverständlich ist auch die Rolle der sogenannten kleinen Fächer, wie sie in der Sektion für die Kunde des Christlichen Orients oder bei der Sektion für Volkskunde zum Tragen kommt.
Fast durchgängig waren die Sektionssitzungen gut besucht, junge und ältere Wissenschaftler trugen vor, die Sektionsleitungen sind zum Teil bereits als Tandem von etablierten und jüngeren Wissenschaftlern aufgestellt. Wissenschaftlich auf hohem Niveau, dabei die ethischen Implikationen des Themas immer mitdenkend – in diesen lohnenden Veranstaltungen zeigt sich das Herz der Görres-Gesellschaft und wird ihre Rolle und Bedeutung im Wissenschaftssystem deutlich.
Um dieses Profil noch deutlicher erkennbar werden zu lassen, hatte die Evaluationskommission ein übergreifendes Kommunikationskonzept nach innen und außen empfohlen. Dazu gehörten unter anderem regelmäßige Newsletter sowie vor allem eine Modernisierung und Aktualisierung der Homepage der Gesellschaft. Den Mitgliedern und Externen müsse ein Eindruck über die Aktivitäten der Görres Gesellschaft an verschiedenen Orten vermittelt werden. Die Institute in Rom und Jerusalem praktizierten dies bereits vorbildlich und könnten als Vorbild herangezogen werden.
Die Stimme der Görres-Gesellschaft, die Stimme einer wertorientierten, christlich fundierten und interdisziplinär agierenden Vereinigung wird in unserer Wissensgesellschaft dringender denn je gebraucht. Die Görres-Gesellschaft erarbeitet in ihren Sektionen den Beitrag der Wissenschaften, der für den Orientierungsbedarf der modernen Wissenschaftsgesellschaft in wertungsabhängigen Bereichen (zum Beispiel Staat und Recht, Bildung und Erziehung, Medizin und Biotechnologie) notwendig ist. Die großen Orientierungswerke wie das Staatslexikon, das Lexikon der Bioethik und das Handbuch der Wirtschaftsethik sind beispielhaft. Eine Orientierung auf dieser Grundlage wird zunehmend wichtiger als eine reine Wissensvermittlung. Hier liegt die große Chance der Görres-Gesellschaft. „Katholisch basiert, ökumenisch engagiert, wissenschaftlich solide und gesellschaftlich relevant – so hat die Görres-Gesellschaft eine Zukunft“. So lautete bereits das Fazit der Evaluierungskommission.