LeitartikelRecht auf den eigenen Tod?

Der Bundestag hat am 6. November 2015 die gewerbsmäßige und wiederholte Beihilfe zum Suizid unter Strafe gestellt. Offen bleibt dabei die Frage, ob es ein Recht auf selbstbestimmtes Sterben gibt. Es ist darum verwunderlich, dass Kirchenvertreter das Gesetz uneingeschränkt begrüßen.

Eine Ohrfeige, ein Kinnhaken, eine Serie schneller Hiebe und ein Fußtritt mit Anlauf in die Magengrube. Das ist die Reaktion des Protagonisten Jed Martin in Michel Houellebecqs Roman „Karte und Gebiet“ von 2011, als er erfährt, dass sein Vater die Dienste einer Zürcher Sterbehilfeorganisation mit dem Namen „Dignitas“ in Anspruch genommen hat. Die Prozedur sei „ganz normal“ verlaufen, versichert ihm eine leitende Angestellte. Alles sei „in Ordnung“ gewesen und in „völliger Übereinstimmung mit dem Schweizer Recht“ geschehen. Die Asche habe man, wie vom Vater gewünscht, in der Natur verstreut. Jed Martin reagiert auf diese Auskunft, indem er die Vertreterin der organisierten Sterbehilfe krankenhausreif schlägt. Der als beziehungsgestört geschilderte Martin steht dem radikalen Beziehungsabbruch des Vaters, der dem Leben in einem Luxusaltersheim keinen Sinn mehr abgewinnen konnte, ohnmächtig gegenüber. Aus der Ohnmacht wird Wut und aus der Wut Gewalt.

Der Autor teilt offensichtlich die Abneigung seines Protagonisten gegen die Sterbehilfe: „Beihilfe zum Selbstmord ist eine Art von Mord“, sagte Michel Houellebecq damals in einem Interview mit der Frankfurter Rundschau.

Eindringlich schildert der französische Autor die Geschäftsmäßigkeit, mit der die Hilfe zum Selbstmord organisiert wird. Der Romanprotagonist beobachtet, wie aus dem Gebäude der Organisation ein billiger Sarg nach dem anderen in einen Lieferwagen verfrachtet wird. Er vergleicht die Betriebsamkeit mit dem in der Nachbarschaft des Suizidvereins gelegenen Bordell: „In der FKK-Relax-Oase Babylon ging es längst nicht so geschäftig zu wie hier. Der Marktwert von Leiden und Tod übertraf den von Vergnügen und Sex“. Die Sterbehilfe-Organisation brüstet sich im Roman gar damit, „in Stoßzeiten die Nachfrage von hundert Kunden pro Tag zu befriedigen“. Hier, wie in vielen anderen Details, karikiert Houellebecq die Realität und übertreibt wohl maßlos. Der Verein „Dignitas“ ging gerichtlich gegen die Romanpassagen vor, allerdings ohne Erfolg.

Das Bild vom assistierten Suizid, das der Autor im Roman zeichnet, ist trostlos. Routiniert laufen die „Prozeduren“ ab. Auch wenn die Schilderung polemisch überzeichnet ist, bleibt die Tatsache: Für das selbstbestimmte Sterben gibt es einen Markt – und die Schweizer Sterbehilfedienstleister bedienen ihn. Wie vieles andere in einer vom Kapitalismus geprägten Gesellschaft ist auch die Beihilfe zum Suizid geschäftsmäßig organisiert.

Die Parallele zur Prostitution ist nicht zufällig. Die sexuelle Revolution bringt massenhaft Verlierer hervor, die auf dem Markt nicht erfolgreich sind – so lautete bereits 1994 die These des Erzählers in Houellebecqs  Roman „Ausweitung der Kampfzone“. Nun hat die Marktlogik das Sterben erreicht. Auch hier wird es Interessierte geben, die sich das sanfte Ableben in der Schweiz nicht leisten können. Für Ausländer entstehen beim realen „Dignitas“-Verein angeblich Gesamtkosten von rund 9700 Euro. Ärmeren Vereinsmitgliedern werden allerdings Rabatte gewährt.

Das Unbehagen an der Ökonomisierung selbst der intimsten Aspekte des menschlichen Lebens scheint auch unter deutschen Abgeordneten verbreitet zu sein. So verabschiedete der Bundestag nach langer Debatte am 6. November 2015 mit breiter Mehrheit den Gesetzentwurf der Abgeordnetengruppe um Michael Brand (CDU) und Kerstin Griese (SPD), der eine gewerbsmäßige und wiederholte Beihilfe zum Selbstmord unter Strafe stellt (vgl. dieses Heft, 619–620).

Illusion Selbstbestimmung?

Mit Unbehagen, ja Entsetzen, reagierten auch viele treue Leser des Schweizer Theologen Hans Küng, als dieser 2013 verkündete, Mitglied der großen Schweizer Sterbehilfeorganisation „Exit“ zu sein und gegebenenfalls deren Dienste in Anspruch nehmen zu wollen. Hans Küng selbst berichtet im Bändchen „Glücklich sterben?“, mit dem er seine Position 2014 noch einmal bekräftigte, über zahlreiche kritische Zuschriften seiner Leser. „Sie gefährden Ihr ganzes großes Lebenswerk durch ihr dezidiertes Eintreten für Selbstverantwortung im Sterben“ – so oder so ähnlich lautete der Tenor vieler Reaktionen (vgl. HK, Oktober 2014, 491f.). Bereits im dritten Band seiner Autobiografie „Erlebte Menschlichkeit“ von 2013 hatte Küng mitgeteilt, er leide unter Parkinson und es drohe eine Erblindung. „Ein Gelehrter, der nicht mehr schreiben und lesen kann? Was dann?“, fragt sich der Theologe und zeigt sich überzeugt: „Der Mensch hat ein Recht zu sterben, wenn er keine Hoffnung mehr sieht auf ein nach seinem ureigenen Verständnis humanes Weiterleben.“ Wer keinen Sinn mehr in seiner Existenz sieht, darf sie beenden, glaubt Küng also.

In ihrer Dresdner Rede vom 2. März 2014 über Geburt und Tod hat die Schriftstellerin Sibylle Lewitscharoff auch über das eigene Sterben gesprochen. Die Rede gilt wegen Lewitscharoffs Aussagen zur künstlichen Befruchtung heute als berüchtigt. Doch mit dem, was die Autorin darin über das eigene Sterben sagt, bringt sie ganz schlicht eine Grundüberzeugung der christlichen Kultur zum Ausdruck: „Mein Schicksal liegt in Gottes Hand und nicht in meinen Händen.“ Den Willen zur Selbstbestimmung hält Lewitscharoff für eine Illusion: „Mir ist, sowohl was das Leben anlangt als auch den eigenen Tod, die um sich greifende Blähvorstellung der Egomanen, sie seien Schmiede ihres Schicksals, sie hätten das Schicksal in der Hand, seien gar die Herren über es, zutiefst zuwider. Das ist ein lächerlicher moderner Köhlerglaube, der einfach nicht wahrhaben will, dass wir alle eine fragile Mixtur aus unterschiedlichen Einflüssen sind, in der Familie, Biologie, Gesellschaft und Generationenerfahrung eine gewaltige Rolle spielen, und es sehr schwer sein dürfte, das, was unserem ureigenen Inneren entspringt, trennscharf davon zu unterscheiden.“ Wie sehr diese Einflüsse in Extremsituationen wie bei einer Krebsdiagnose oder beim Einzug in ein Pflegeheim zur Geltung kommen, sollte sich eigentlich von selbst verstehen.

Der Gerontologe Thomas Klie hat Positionen, wie sie Hans Küng und andere vertreten, in einem Interview heftig kritisiert. Klie fühlt sich gar an alte Vorstellungen vom „unwerten Leben“ erinnert. Die Verfechter des selbstbestimmten Sterbens sprächen sich selbst als potenzielle Pflegefälle und Demenzkranke in problematischer Weise die Würde ab, so der Wissenschaftler (vgl. HK, Mai 2014, 231ff.). Als Ausdruck von Würde gilt es stattdessen, das Heft selbst in die Hand zu nehmen und sein Ableben mithilfe eines kompetenten Dienstleisters eigenständig zu organisieren.

Warum kein grundsätzliches Verbot?

Hans Küng ist überzeugt, dass jeder Einzelne das Recht hat, gemäß seinem „ureigenen Verständnis“ zu entscheiden, ob sein Leben noch lebenswert ist. Der Bundestag hat mit seiner Entscheidung dieses vermeintliche Recht nicht infrage gestellt. Denn das neue Gesetz hält die Beihilfe zum Selbstmord grundsätzlich straffrei. Nur wenn sie auf Gewinn oder Wiederholung angelegt ist, gilt sie als verboten und wird bestraft. Ziel des Gesetzes ist es, zu verhindern, dass sich alte oder schwerkranke Menschen von der Gesellschaft zum Suizid gedrängt fühlen. Kirchenvertreter waren voll des Lobes. Als „starkes Zeichen für den Lebensschutz“ begrüßten die Deutsche Bischofskonferenz (DBK), das Zentralkomitee der deutschen Katholiken (ZdK) und die Evangelische Kirche in Deutschland (EKD) die Entscheidung.

Doch eine wesentliche Frage bleibt nach dem Bundestagsbeschluss offen. Natürlich ist die gewerbliche Durchführung des Selbstmords eine trostlose und abstoßende Angelegenheit. Selbstverständlich erzeugt ein solches „Angebot“ einen Druck, es auch in Anspruch zu nehmen und sich sozialverträglich selbst zu entsorgen. Aber warum soll die grundsätzliche Verwerflichkeit der Suizidbeihilfe eigentlich daran hängen, dass sie kommerziell organisiert ist? Immerhin leben wir im Kapitalismus, in dem immer mehr Lebensbereiche der Logik des Marktes unterworfen sind, wie Michel Houellebecq richtig analysiert hat. Warum wurde also die Beihilfe zum Selbstmord nicht grundsätzlich verboten, so wie es in Österreich, Italien oder Frankreich der Fall ist – und wie es der Gesetzentwurf der CDU-Abgeordneten Patrick Sensburg und Thomas Dörflinger vorgesehen hätte?

Gibt es also ein Recht auf Suizid oder nicht? Der Philosoph Thomas Sören Hoffmann hat am 4. November 2015 in der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ auf die Aporien hingewiesen, die sich aus einem solchen Recht ergeben würden. Die Wirksamkeit eines Rechtes, so Hoffmann, ist ablesbar aus den sich daraus ergebenden Rechtspflichten. Diese wären im Falle des Suizids etwa: „Keinem Suizidenten in den Arm zu fallen, keine lebensrettenden Maßnahmen nach partiell gescheitertem Vollzug einzuleiten, auch Suizidprävention zu unterlassen oder im Extremfall demjenigen, der sich aus welchen Gründen auch immer seines Rechtes auf den eigenen Tod nicht eigenhändig bedienen kann, den nötigen Beistand zu organisieren.“ All dies liefe auf ein Recht hinaus, „die Gemeinschaft der Rechtsgenossen zum Zwecke der Aufhebung des Rechtsverhältnisses in Anspruch zu nehmen“, was Hoffmann für unmöglich hält.

Der Philosoph bezweifelt, dass das Leben etwas ist, was wir „wie sonst ein Ding zu eigen haben und das deshalb einem unbeschränkten Sachgebrauchsrecht unterfällt, also auch zerstört werden kann“. Für das Zusammenleben sei es vielmehr entscheidend, dass Menschen – sich selbst und gegenseitig – als Subjekte und nicht als Dinge behandeln. Erst jetzt wird klar, warum das Sterben und die Marktlogik nicht zusammenpassen: Mit dem Leben lassen sich keine Geschäfte machen, weil es kein „Ding“ ist, das man besitzt. Gerade das macht seine Würde aus. Jedes menschliche Leben ist unendlich wertvoll und nicht verfügbar – selbst dann, wenn man es selbst nicht mehr für wertvoll hält.

Für Christen müsste diese Einsicht eigentlich selbstverständlich sein. Es ist deshalb erstaunlich, dass das jetzt verabschiedete Gesetz auf so große Zustimmung bei den offiziellen Kirchenvertretern gestoßen ist. Das Gesetz mag ein Fortschritt gegenüber der bisherigen Rechtslage sein. Es wird verhindern, dass Organisationen wie „Dignitas“ in Deutschland aktiv werden (und es sichert der Schweiz weiter das Monopol in diesem Geschäft). Eine grundsätzliche Klärung der Frage, ob zur viel beschworenen Selbstbestimmung der Kranken und Sterbenden auch das Recht auf den eigenen Tod gehört, bringt es aber nicht.

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