GastkommentarVom Idealismus zum Pragmatismus

Die Flüchtlingskrise zwingt Linke und Konservative, ihre asylpolitischen Positionen zu überdenken.

Boris Palmer, Oberbürgermeister von Tübingen
„Die schiere Zahl der Flüchtlinge hat die Grundfesten der deutschen Asylpolitik hinweggefegt.“© Manfred Grohe

Vor einigen Tagen habe ich einen Abend mit etwa 20 Leuten im Bürgertreff eines Wohnquartiers verbracht. Dort war früher ein sozialer Brennpunkt. Noch immer leben viele Menschen aus dem arabischen Sprachraum in günstigen Wohnblöcken. Wir haben durch Neubau und Sanierung von Wohnungen bewusst die Mittelschicht ins Quartier geholt. Die saßen mir nun gegenüber und beklagten sich über eine Vielzahl von sehr konkreten Problemen im Zusammenleben und knüpften allerlei Forderungen an die Stadt, Abhilfe zu schaffen. Die Grundaussage war: Das Zusammenleben funktioniert nicht. Und das in Tübingen – einer Stadt die im Hinblick auf Toleranz, Bildungsgrad, Infrastruktur und Integrationserfolg sicherlich an der Spitze in Deutschland liegt. Wenn in einem Viertel wie dort ein bestimmter Anteil an Migrationshintergrund und an niedrigen Einkommens-Schichten überschritten wird, gibt es Probleme, die man nur noch ganz schwer lösen kann. Das muss man mitbedenken bei der Frage, wie viele Flüchtlinge wir integrieren können.

Eine Stadtmauer haben wir nicht mehr. Aber jede Stadt hat eine Grenze. Innerhalb derer muss sie zurechtkommen. Prinzipiell sind daher ihre Ressourcen begrenzt. So wie das Asylrecht prinzipiell nicht begrenzt ist. Diese beiden Sätze muss ich in der Praxis zusammen bringen. Es muss der Politik gelingen, das Asylrecht in seinem Wesenskern zu erhalten und doch die Grenzen der Aufnahmefähigkeit in den Kommunen zu beachten.

Für eine Bilanz der Ereignisse ist es zu früh. Dennoch scheint mir sehr sicher, dass die schiere Zahl der Flüchtlinge auf dem Weg nach Deutschland die Grundfesten der deutschen Asylpolitik hinweggefegt hat. Das betrifft konservative wie linke Glaubenssätze in gleichem Maße. Die Union hat nach der Grundgesetzänderung im Jahr 1992 lange geglaubt, die Zahl der Flüchtlinge auf wenige zehntausend pro Jahr begrenzen zu können. Die zur Abschreckung gedachten Leistungskürzungen für Asylbewerber hat das Verfassungsgericht vor drei Jahren gekippt. Das Dublin-System, das Flüchtlinge zum Problem der EU-Grenzstaaten erklärte und Deutschland als Binnenland faktisch von jeder Verantwortung freistellte, ist im September 2015 kollabiert. Danach war es der CDU-Innenminister, der eine gemeinsame europäische Flüchtlingspolitik verlangte und eine Verteilung der Schutzsuchenden auf alle europäischen Staaten forderte – als Italien und Griechenland das Problem noch alleine hatten, undenkbar. Die Union akzeptiert damit nolens volens eine Einwanderung über das Asylrecht, die Millionen von Menschen nach Deutschland bringen wird.

Die Grünen am anderen Ende des asylpolitischen Spektrums haben seit 1992 den ungeminderten Satz „Politisch Verfolgte genießen Asyl“ hoch gehalten und jede Einschränkung dieses Grundrechts hart gegeißelt. Nicht nur Kriegsflüchtlinge aus Syrien sollen Asyl erhalten, sondern alle Menschen, die diskriminiert, benachteiligt oder ethnisch ausgegrenzt werden, auch diejenigen, die unwürdigen persönlichen Lebensbedingungen entfliehen wollen. Eine Unterscheidung zwischen „guten“ und „schlechten“ Flüchtlingen wurde im grünen Diskurs als Beleg für eine fremdenfeindliche Grundhaltung gewertet. Eine Obergrenze der Belastbarkeit des deutschen Asylsystems verneinten die Grünen aus prinzipiellen Gründen. Das Boot sei nie voll, weil es das nicht sein könne. Auch diese Glaubenssätze werden von einer Million Neuankömmlingen in nur einem Jahr schlicht überrannt.

Die konservative Seite des politischen Spek­trums muss alle Hoffnung fahren lassen, durch Abschreckung, Abschottung oder auch nur Wegducken vor dem Flüchtlingsproblem verschont zu werden. Wir können uns keine Abschreckungsmaßnahmen mehr leisten, die wenig bringen, aber die Integration der Menschen behindern, die zu Hunderttausenden dauerhaft bei uns bleiben werden. Deshalb müssen die Flüchtlinge Geldleistungen erhalten, sobald sie in den Kommunen sind. Sie brauchen eine Gesundheitskarte, damit sie anständig ärztlich versorgt werden können. Und das wichtigste: Sie müssen sich sofort um Ausbildung und Arbeit bemühen können, ohne langwierige Prüfungen und Abschiebedrohung. Nur so gelingt Integration.

Wir Grüne haben uns immer als Anwälte der Schwachen in der Gesellschaft und ganz besonders der Asylsuchenden begriffen. Das zeichnet uns aus. Und dennoch zwingt die massiv ansteigende Zahl von Flüchtlingen auch uns dazu, viele alte Forderungen aufzugeben. Wir müssen, um einen Begriff von Heinz Bude zu verwenden, den Übergang vom Idealismus zum Pragmatismus in der Flüchtlingspolitik schaffen.

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