Was die Seelenbilder in Todesnähe bedeutenEin Blick ins Jenseits

Dem unabwendbaren Tod haben sich Menschen seit jeher zu widersetzen versucht, indem sie über ihn hinaus dachten und zum Teil konkrete Jenseitshoffnungen entwickelten. Wer möchte nicht einmal gerne zumindest einen kurzen Blick über die letzte Grenze werfen? Was ist vor diesem Hintergrund von den so genannten Nahtoderfahrungen zu halten?

Die meisten Menschen weichen der Tatsache ihrer eigenen Endlichkeit aus. Weil das Lebensende unausweichlich herannaht und unerwartet plötzlich eintreten kann, fühlen sich manche hoch technisierten Europäer davon geradezu bedroht. Dank der Fortschritte in der Intensivmedizin und enormen Verbesserungen in den Reanimationstechniken kann heute das Leben deutlich verlängert werden – es endet aber stets mit dem Tod.

Es ist wohl auch den medizintechnischen Errungenschaften zu verdanken, dass der Anteil von Menschen mit Nahtoderfahrungen gegenwärtig bei etwa vier Prozent der Gesamtbevölkerung liegt. Zu Zeiten von Raymond A. Moody oder Elisabeth Kübler-Ross wären viele der Befragten bereits verstorben gewesen und hätten das Erlebte nicht mehr berichten können.

Dem unabwendbaren Tod haben sich Menschen seit jeher zu widersetzen versucht, indem sie über ihn hinaus dachten und zum Teil konkrete Jenseitshoffnungen entwickelten. Die verschiedenen Religionen und Weltanschauungen halten ein breites Spektrum an Bildern und Vorstellungen von Jenseits bereit. Wer möchte nicht einmal gerne zumindest einen kurzen Blick über die letzte Grenze werfen? Der amerikanische Neurologe Eben Alexander hat 2013 seine Erlebnisse in Todesnähe als einen „Nachweis des Himmels“ (proof of heaven) überschrieben, was seinem Buch mehrere Monate einen Platz auf den Bestsellerlisten sicherte.

Nach einer schweren Hirnhautentzündung befand sich der Arzt eine Woche lang im Koma. Nach seiner Erinnerung sei er auf dem Flügel eines Schmetterlings mit Millionen anderen Schmetterlingen aufgestiegen über einer Welt voller Wiesen in unbeschreiblichen Farben. Unzählige hell strahlende Engel hätten ihn auf dieser Reise begleitet. Eine junge Frau habe ihn durch neue Dimensionen geleitet. Als er im Krankenhaus aufgewacht war, sei er wütend gewesen und habe zurück in die andere, jenseitige Welt gewollt. Kann die Nahtod-Forschung wissenschaftliche Belege für die Existenz eines „Himmels“ liefern?

Bis heute können Nahtoderfahrungen nicht eindeutig erklärt werden

Schon Ende des vorletzten Jahrhunderts beschäftigten sich Parapsychologen mit Sterbeerlebnissen. Sie sammelten Erfahrungen und Visionen von Überlebenden auf dem Sterbebett und versuchten sie zu klassifizieren. Obwohl sie bemüht waren, die berichteten Phänomene wissenschaftlich distanziert zu erforschen, wurde die zumeist vorausgesetzte Hypothese eines Weiterlebens nach dem Tode nicht transparent gemacht oder kritisch reflektiert. Bekanntester zeitgenössischer Vertreter ist der niederländische Herzspezialist Pim van Lommel, der an ein „erweitertes Bewusstsein“ unabhängig von einer materiellen Verankerung im Gehirn glaubt.

Zwischen 1930 und 1960 flaute das wissenschaftliche Interesse am Thema ab. Starken Aufwind erhielt die Forschung in den siebziger Jahren durch die schweizerisch-amerikanische Psychiaterin Elisabeth Kübler-Ross (1926–2004) und den amerikanischen Psychiater Raymond A. Moody (geb. 1944), die auf der Grundlage von Interviews unterschiedliche Sterbensphasen beschreiben konnten. Beide verfassten populärwissenschaftliche Bücher, die große Verbreitung fanden. Die Arbeit mit Sterbenden hat beide zu der Überzeugung geführt, dass es ein Leben nach dem Tode und eine Wiedergeburt im Jenseits gibt, um die Aufgaben zu erfüllen, die im Leben nicht erfüllt werden konnten.

Seit Beginn der achtziger Jahre gibt es die „International Association for Near-Death Studies“ (IANDS), die diesbezügliche Forschungen unterstützt. 2004 wurde der deutsche Ableger „Netzwerk Nahtoderfahrung“ gegründet. Zumeist sind es Akademiker mit eigenen Nahtoderfahrungen, die in solchen Netzwerken Impulse für den interdisziplinären Dialog geben und sich als Informationsquelle auf wissenschaftlicher Basis für die Öffentlichkeit vorstellen. Dieser Verein berücksichtigt, das die berichteten Erfahrungen interpretationsoffen für unterschiedliche kulturelle, philosophische und religiöse Deutungen sind. Denn bis heute können Nahtoderfahrungen nicht eindeutig und schlüssig erklärt werden. Die Ergebnisse richten sich danach, ob die Phänomene von einem naturalistischen oder einem spiritistischen Standpunkt aus gedeutet werden.

Mit großer Aufmerksamkeit wurden erste Ergebnisse der dreijährigen AWARE-Studie zur Kenntnis genommen, in der die biologischen Vorgänge hinter außerkörperlichen Erfahrungen im Mittelpunkt standen. 25 große medizinische Zentren in den USA, Britannien und Österreich waren daran beteiligt und haben 1500 Überlebende eines Herzstillstands untersucht. In Notfallräumen und Intensivstationen wurden neben den Betten hohe Regale aufgestellt, auf denen Bilder gelegt wurden, die man nur von oben – also mit Hilfe einer Leiter – betrachten konnte. Im häufig geschilderten Fall einer außerkörperlichen Erfahrung (out-of-body-experience) erwartete man, dass der Betroffene das Bild wahrnehmen und beschreiben könne. Allerdings konnte eine mögliche Fortexistenz des Bewusstseins auch nach einem Stillstand des Großhirns (Hirntod) nicht nachgewiesen werden. Nur sieben Prozent berichteten Phänomene einer klassischen Nahtoderfahrung, und nur zwei Untersuchte erinnerten genau visuelle und auditive Wahrnehmungen während ihrer Reanimation.

Dennoch geht die Forschung weiter: Im August 2012 hat die „John Templeton Foundation“ fünf Millionen US-Dollar für das auf drei Jahre angelegte Projekt „Unsterblichkeit der Seele“ zur Verfügung gestellt. Durch diese Studie sollen Nahtoderfahrungen unter Einbeziehung medizinischer, neurobiologischer, philosophischer, theologischer, religionswissenschaftlicher und kultureller Aspekte besser verstehbar werden. Allerdings bezweifeln Kritiker die weltanschauliche Neutralität der Stiftung und fragen, ob der Projekttitel nicht gleichzeitig das Ergebnis vorwegnehme.

Vielfalt der Erfahrungen in Todesnähe

Sterbende in ihrem Erleben und ihrer Symbolsprache verstehen zu können, ist ein großes Anliegen der seelsorglichen und spirituellen Begleitung. Simon Peng-Keller weist mit Recht darauf hin, dass die verwendete Terminologie die Wahrnehmung formt (vgl. Imaginatives Erleben in Todesnähe, in: Pierre Bühler und Peng-Keller [Hg.], Bildhaftes Erleben in Todesnähe, Zürich 2014, 19-43). Ob etwa eine betroffene Person von einer phantastisch anmutenden „Traumvision“ oder einer echten „Nahtoderfahrung“ redet, macht einen Unterschied und weist auf die Schwierigkeiten der Verschränkung zwischen Erlebnis und Deutung hin.

Zwei in der Hospizarbeit tätige Pflegefachfrauen schlagen deshalb die Bezeichnung „Nahtodes-Bewusstsein“ vor, das sie durch folgende Merkmale charakterisieren: Es bildet sich langsam heraus und stellt sich nicht schlagartig ein; es ist nicht mit dem Verlust der sinnlichen Wahrnehmung und einem Außerkörperlichkeitserleben verbunden; es ist mit einem Wechsel vom normalen Tagesbewusstsein zu visionären Bewusstseinsabschnitten verbunden.

In der Regel werden die Erlebnisse in Todesnähe überraschend positiv geschildert. Aus psychoanalytischer Sicht wurde deshalb sogar gemutmaßt, dass die vom Gehirn produzierten Erlebnisse eine Abwehrmaßnahme darstellen, um der demütigenden Tatsache des endgültigen Verschwindens auszuweichen. Zu den am häufigsten berichteten Erlebnissen in Todesnähe gehören: angenehme Gefühle wie Ruhe, Gelassenheit, Friede (rund 60 Prozent), Außerkörper-Erfahrung mit Beobachtung des eigenen Körpers (50 Prozent), Fliegen durch einen Tunnel (30 Prozent), Lichterscheinungen (30 Prozent), Begegnung mit bereits verstorbenen Verwandten oder Freunden (30 Prozent), Lebensrückblick wie ein Lebensfilm (20 Prozent).

Nur selten wurde von negativen Gefühlen wie albtraumartigen Visionen oder dem Auftreten von bedrohlichen Wesen (Dämonen) berichtet. Häufig führten die Erlebnisse zu positiven Folgen im Leben der Betroffenen: Neubewertung des Lebens und seiner materiellen Güter, Änderungen von Einstellungen und Glaubensinhalten, Neugestaltung von Beziehungen, Neubeleben oder Erwachen von Religiosität oder Spiritualität. In der Regel nahm die Angst vor dem Sterben und dem Tod nach solchen Erfahrungen ab. Dennoch fand sich bei diesen Personen keine erhöhte, sondern eine verminderte Suizidneigung. Dieter Vaitl weist jedoch auf das Konfliktpotenzial hin, das sich trotz dieser positiven Folgen durch die Änderungen des Werte- und Glaubenssystems im Verhältnis zum sozialen Umfeld der Betroffenen ergeben kann (vgl. Nahtod-Erfahrungen, in: Veränderte Bewusstseinszustände, Stuttgart 2012, 145-154).

Drei Hypothesen

Nahtodphänomene kommen in allen Teilen der Erde vor. Kulturhistorische und religionswissenschaftliche Studien dokumentieren dabei die große Bandbreite an Jenseitsvorstellungen und Erfahrungen in Todesnähe. Während Begegnungen mit anderen Wesen und Lebensräumen ein kulturübergreifendes Merkmal zu sein scheint, tauchen die Tunnelerfahrung und der Lebensrückblick primär in christlichen und buddhistischen Kulturen auf.

Auch innerhalb eines Kulturraumes variieren die Erfahrungen stark. Vaitl bemerkte, dass die Erlebnisschilderungen der in den USA lebenden Mormonen deutlich von dem Muster abwichen, das Moody als typisch beschrieben hat. In Deutschland zeigen sich beachtliche Unterschiede, wenn man Todesnähe-Erfahrungen von West- und Ostdeutschen miteinander vergleicht. Negative Erfahrungen wurden im Osten viel häufiger (60 Prozent) als im Westen (29 Prozent) berichtet. Ostdeutsche erwähnten seltener Außerkörperlichkeits- und Lichterfahrungen oder das Gefühl, sich in einer anderen Welt zu befinden. Häufiger dagegen machten sie Tunnel-Erfahrungen. Auch in den Deutungsmustern ergaben sich Unterschiede zwischen Ost und West. Überwogen bei den Ostdeutschen agnostische und atheistische Deutungen, waren bei den Westdeutschen eher volksreligiöse und neureligiös-esoterische Interpretationen verbreitet.

Den meisten Menschen mit Nahtodeserfahrungen fällt es schwer, die eindrücklichen Bilder des Erlebten mit ihrem bisherigen Weltbild in Einklang zu bringen. Ein solches Erleben ist bei dem meisten Betroffenen mit einem viel stärkeren Wirklichkeitsempfinden verbunden, als dies bei ihren Träumen der Fall ist. Deshalb wollen sie die Echtheit ihrer Erfahrungen überprüfen: Sind sie einer realen transzendenten Wirklichkeit begegnet, oder sind auf illusionäre Produkte ihres Gehirns hereingefallen? Sind solche Bilder vielleicht sogar Anzeichen einer pathologischen Bewusstseinsstörung? Diese Frage individuell zu beantworten ist bedeutsam, weil eine Nahtodeserfahrung meistens zu einer Neuorientierung im Leben der Betroffenen führt.

In hohem Maß von den kulturellen Prägungen des Menschen bestimmt

Bei den Erklärungsansätzen lassen sich eine ontologische und eine skeptische Fraktion unterscheiden. Vertreter der ontologischen Position gehen davon aus, dass es eine jenseitige Wirklichkeit gibt, die Menschen mit einer Nahtoderfahrung überprüfen können. Je nach religiös-weltanschaulichem Standpunkt können damit der Glaube an die Unsterblichkeit der Seele oder Reinkarnationsvorstellungen verbunden sein. Demgegenüber vermuten Skeptiker die Ursache derartiger Erfahrungen allein in neurologischen Prozessen. Drei Hypothesen werden derzeit besonders intensiv diskutiert: ein Sauerstoffmangel, eine gesteigerte Temporallappen-Aktivität und Veränderungen von Gehirn-Botenstoffen.

Zusammenfassend stellt Vaitl fest, dass bis heute noch kein neurobiologisches Modell existiere, das die Vielfalt und Verschiedenartigkeit der Nahtoderfahrungen zufriedenstellend erklären könne. Unbeantwortet bleibt bisher die Frage, was die Betroffenen wirklich erlebt haben. Die meisten Erkenntnisse der Nahtodforschung beruhen auf Nachinterpretationen körperlicher Ausnahmezustände. Dabei werden Gedächtnisinhalte mit Emotionen, mit früher Erlebtem, mit aktuellen Ereignissen, mit Wünschen und unbewussten Vorgängen abgeglichen.

Könnte das, worüber berichtet wird, durch Erinnerungsprozesse nachträglich zu einer erzählbaren und konsistenten Geschichte gemacht worden sein (false memory)? Auskunft könnten hier nur hypothesengeleitete, prospektive Studien geben. Bisher endet die Sterbeforschung häufig bei der klassischen Grundsatzdebatte zwischen Glauben und Wissen. Dabei ist der Seelsorge- und Beratungs-Bedarf von Betroffenen hoch, die irritierenden Bilder zu verstehen. Jenseits von reduktionistischen Deutungen ist es für die Betroffenen hilfreich und notwendig, sich bei der seelsorglichen oder spirituellen Begleitung individuell auf die symbolische Bildersprache einzulassen und eine subjektiv passende Deutung vorzunehmen.

Nahtodphänomene befinden sich an der hochgradig emotionalen Schnittstelle zwischen Wissenschaft und Religion, weil sie die Versuchung eines Gottesbeweises enthalten. Wie schön wäre es doch, endlich einen exakten und sicheren Beweis für die Unsterblichkeit der Seele zu haben! Gerade in der westlichen Welt ist dieses Thema längst Objekt vielfältiger esoterischer Interpretationen geworden. Dabei steht die Nahtodforschung in ähnlicher Weise wie die Neurotheologie in Gefahr, weltanschaulich vereinnahmt zu werden. Manche versuchen, mit den Daten ihre esoterische Reinkarnationsvorstellung oder ihre christliche Überzeugung von der Unsterblichkeit der Seele wissenschaftlich plausibel zu machen. Die skeptische Fraktion will hingegen das Außergewöhnliche der beeindruckenden Erfahrungen mit neurobiologischen Erklärungen entzaubern.

Jenseits naturalistischer Vereinfachungen unterscheidet Peng-Keller drei nicht-reduktionistische Deutungsansätze: in der anthropologischen Deutung wird dem Erlebten ein subjektiver, innerweltlicher Sinn zugeschrieben, der in der Regel agnostisch ausfällt. In einer parapsychologischen Deutung wird davon ausgegangen, dass das menschliche Bewusstsein nicht von der Gehirntätigkeit abhängig ist.

Van Lommel kommt aufgrund seiner Studien zu dem Schluss, dass menschliches Bewusstsein nicht lokalisierbar und endlos sei. Das menschliche Gehirn diene als ein auf die Lebenszeit begrenzter „Spiegel“ dieses unendlichen Bewusstseins. Zwar könne der Körper sterben, nicht aber der Geist. In theologischen Deutungen wurden Nahtoderfahrungen aus katholischer Sicht als besondere Formen von Privatoffenbarungen interpretiert. Aus evangelischer Sicht liegen keine überzeugenden Deutungen zum Verhältnis vom Vorletzten zum Letzten, zum Verhältnis der Träume vom Jenseits zum Jenseits dieser Träume vor.

Die unterschiedlichen Erklärungen machen deutlich, dass die Interpretation der außergewöhnlichen Sinnesreize in Todesnähe in hohem Maß von den kulturellen und weltanschaulichen Prägungen des Menschen bestimmt wird. Die Vermutung liegt nahe, dass sich das Gehirn die Zutaten für die Nahtoderlebnisse – wie auch beim Traum – aus der Erfahrungswelt des Einzelnen zusammensucht. Erst wenn die Symbolsprache der Bilder entschlüsselt und übersetzt werden kann, können die Betroffenen das Erlebte besser verstehen und verarbeiten. Sicher ist eins: Auch die moderne Hirnforschung kann keine objektivierbaren Einblicke in ein angeblich kulturübergreifendes, paradiesähnliches Jenseits liefern. Dieser Wirklichkeit kann man sich nur bildhaft-symbolisch annähern.

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