In der Kartografie der kirchlichen Landschaft gibt es scheinbar so etwas wie imaginäre Landmarken, die mit Schlüsselbegriffen funktionieren und die anzeigen, in welchem ideologischen Terrain man sich mutmaßlich aufhält. Der Begriff der „Wahrheit“ ist etwa der Leuchtturm der einen Seite, „Barmherzigkeit“ das vermeintliche Kennwort, welches die Grenze zur anderen Seite markiert. Dazwischen tut sich ein Graben auf, der die Kirche immer stärker polarisiert, aber im Kern vor allem paralysiert. Lagerkämpfe hat es in der Kirche immer gegeben, Richtungsstreit gehört seit Anbeginn zum Wesen der sich konstituierenden und wachsenden Glaubensgemeinschaft dazu. Nicht zuletzt das Zweite Vatikanische Konzil hat immense Spannungen und auch Fliehkräfte offenbart und aushalten müssen. Doch es gibt eine neue Tendenz: Die Verbissenheit wird stärker und zugleich in gewisser Weise inhaltsleerer. Eine respektvolle, öffentliche theologische Debatte in der Mitte der Kirche und damit ein kraftvolles Wirken in die Gesellschaft hinein fehlt weitgehend, stattdessen füllt ein Ressentiment geladenes Schubladendenken den inneren Diskurs in der Kirche – oder besser gesagt: Das Ressentiment kleidet nur den Hohlraum aus, in dem Debatte eigentlich stattfinden müsste.
Die Internetplattform „kath.net“ hat nun in einer Art kleinem Sprung über die imaginäre wie allgegenwärtige Rechts-Links-Achse innerhalb der Kirche eine Entgegnung des emeritierten Kurienkardinals Walter Kasper veröffentlicht, indem dieser eine offenbar fehlerhafte Zusammenfassung seines Buches „Barmherzigkeit“ eben dort richtigstellt. Titel des Textes: „Daran ist so gut wie alles falsch.“ Darin reißt Kasper sogleich die doch so liebgewonnen Grenzpfähle ein. Barmherzigkeit gegen Wahrheit? „Fehlanzeige“. Im Buch stehe das exakte Gegenteil, so Kasper. „Barmherzigkeit ist ja selbst eine Offenbarungswahrheit, die selbstverständlich mit allen anderen Offenbarungswahrheiten im Zusammenhang steht. Lesen Sie doch bitte nach, dann finden Sie: Barmherzigkeit ohne Wahrheit wäre reine Pseudobarmherzigkeit.“
Dabei wird klar, wie sehr die deutsche Debattenlage zunächst Ausfluss der besonderen römischen Situation ist. Papst Franziskus hat mit seiner offensiven Art eine gewisse alte Sortierung durchbrochen. Während die so genannten Reformer lange in Rom ihren Widerpart fanden, erhoffen sie sich nun vielmehr Rückenwind vom neuen Pontifex. Die Bewahrer hingegen, die sich gern auch als papsttreu titulierten, sind nun mitunter verunsichert ob der vermeintlich neuen Linie. Wie wackelig schon diese Zuordnung von Franziskus ist, mag manchen bei seinen Predigten schwanen. Welche Reformen er will und durchsetzen kann, ist offen. Da sehen schon jene, die in ihm eine Gefahr für die Kirche alten Stils sehen, einen Hoffnungsstreif am Horizont und spekulieren über einen vorzeitigen päpstlichen Rücktritt. Franziskus selbst nährt solche Spekulationen, um zugleich seine Entschlossenheit für Veränderungen kundzutun. Auffallend daran ist aber vor allem, wie fixiert die katholische Kirche in Deutschland derzeit auf das römische Geschehen schaut.
Es scheint so, dass die Kirche nach den schmerzvollen Krisen um Pius-Brüder, Missbrauch und Limburg von einer gewissen Müdigkeit befallen ist, müde auch der Auseinandersetzung um Fragen, die seit Jahrzehnten diskutiert wurden, müde ob der schrumpfenden Kirche bei gleichzeitig steigenden Kirchensteuereinnahmen, müde angesichts Säkularisierung, gegen die kein Kraut gewachsen scheint. Da reicht es dann nur noch zu Verbalattacken, deren Relevanz relativ dürftig ist. Der Kurienkardinal Paul Josef Cordes kritisiert den Vorsitzenden der Deutschen Bischofskonferenz, Kardinal Reinhard Marx, dafür, dass dieser gesagt habe, die deutsche Kirche sei „keine Filiale“ von Rom. Das sei Stammtischniveau, urteilt Cordes, und bedient damit den alten Verdacht der Konservativen, die Liberalen wollten eine deutsche Nationalkirche. Im Übrigen stellt der deutsche Kurienkardinal in einem Zeitungsinterview klar, Jorge Mario Bergoglio sei schon immer ein ganz „biederer Kämpfer für die Wahrheit“ gewesen. Die Neigung zum Stammtisch scheint tatsächlich verbreitet zu sein.
Bischof Oster zu kath.net
Von vielfältiger und intensiver inhaltlicher Auseinandersetzung und neugierigem Suchen und Ringen um Glaubens- und Kirchenfragen ist wenig zu sehen. Die Bischofskonferenz hat sich zur Familiensynode „mehrheitlich“ positioniert. Marx hat mit seinem rhetorischen wie diplomatischen Geschick die 27 deutschen Oberhirten zumindest nach außen zu einer Einheit geformt, wie das in den früheren Jahrzehnten mit einem Antagonismus der Kardinäle Karl Lehmann und Joachim Meisner in der Weise nicht möglich gewesen wäre.
Bei der zurückliegenden Vollversammlung der Oberhirten drang an Kontroverse nichts nach außen, wiewohl natürlich Meinungsunterschiede vorhanden sind. Diese Ruhe verstellt den Blick etwas auf eine notwendige Binnenpluralität des Katholischen und beflügelt dann äußere Ränder, die Pauschalierungen und Vereinfachungen allein Raum geben. Nachzulesen ist das auf den ausufernden Kommentarspalten der gängigen Onlineforen und Blogs – auch in manchen Zeitungen. Da wird dann Kasper zum dubiosen Strippenzieher, der schon vor der Wahl von Franziskus begonnen habe, seine Agenda durchzubringen. Marx hingegen wird des Opportunismus gescholten und Franziskus gar für illegitim gewählt erklärt. Solche Absurditäten verhindert man nur, wenn mehr Vielfalt der Deutungen wahrnehmbar ist.
Es wäre besser, die Bischöfe würden zwar geschlossen agieren, aber öffentlich nicht zu einheitlich erscheinen, denn das macht das Bild zu blass. Das ist wie bei der Großen Koalition in der Politik, die läuft auch Gefahr, die politischen Ränder zu stärken, ob einer vermeintlich fehlenden politischen Debatte und mangelnder alternativer Lösungsentwürfe.
Der frühere Journalist, Salesianer-Pater und nun Bischof von Passau, Stefan Oster, hat nach seinem Amtsantritt einen Aufsehen erregenden Teil seiner öffentlichen Kommunikation auf die Plattform Facebook verlagert. So überraschte er im Herbst mit für das Medium ungewöhnlich langen Texten etwa zu Themen der Sexualmoral oder zum katholischen Eheverständnis und sorgte damit für eine lebhafte und zu Recht auch äußerst kontroverse Auseinandersetzung im Netz und darüber hinaus. Doch nehmen diese Online-Debatten meist einen zentrifugal gearteten Verlauf. Zunächst verschwinden nach und nach die kritischen Stimmen, verdrängt durch Anpöbelei und gelangweilt durch allzu viel apologetischen Zuckerguss, übrig bleibt der lobhudelnde Rest, den auch der „diskussionsfreudige“ Bischof auf die Dauer wohl langweilig findet.
Das, was man aus Internetforen allgemein kennt, ist eine, so könnte man es nennen, „Trollisierung“ der Kommunikation, die insbesondere auch die Kirche gefährdet. „Trolle“ nennt man im Internet solche Mitdiskutanten, die extremistisch, nervig und unflätig sind, vor allem aber eben unsachlich und persönlich abwertend agieren. Das tötet jeden sinnvollen Diskurs, weil es nur um eine Eskalation von Beleidigungen geht. Online-Diskurse können da ein unguter Katalysator einer allgemeinen Debatten-un-kultur werden. Der britisch-amerikanische Internetskeptiker Andrew Keen klagt, das Internet bringe nicht ein Mehr an Demokratie, sondern die „Herrschaft des Pöbels“. Innerkirchliche Debatten leiden darunter auch.
Verrohung des Stils ist dabei der eine Aspekt, der andere ist sozusagen die machtvolle Sortierung der Mitdiskutanten. Nach und nach versammeln sich in bestimmten Foren nur noch die Gleichgesinnten, die sich wiederum stetig aufladen und homogenisieren. Der ZDF-Chefredakteur Peter Frey hat dieses Phänomen vor kurzem bei dem kirchenrechtlichen Fachforum „Essener Gespräche“ (vgl. dieses Heft, 202) beschrieben. Die Facebook-Algorithmen unterstützen den Effekt und zeigen nur noch das, was einem gefällt. „Es ist ein gewaltiges Problem für unsere Gesellschaft, wenn keine anderen Meinungen mehr in diese Meinungsblasen vordringen und nur noch jeder in seinem eigenen ideologischen Saft gärt.“
Umso bemerkenswerter war es daher, dass Bischof Oster sich mit zwei aufeinanderfolgenden Wortmeldungen auf Facebook kritisch mit dem Debattenverhalten der unterschiedlichen kirchlichen Lager auseinandergesetzt hat. Mehr noch: Er hat „kath.net“ direkt kritisiert, jenes Portal also, das seinen binnenkirchlichen Erfolg dem McDonalds-Phänomen verdankt: Die Mehrheit empört sich ablehnend – und die Mehrheit schaut doch auch immer wieder vorbei. Oster nun analysiert die inhaltliche Machart des Portals, um zugleich auch zu erklären, dass er sich bei „heikleren Themen“ ähnlich positioniere wie auch „kath.net“ es favorisiere. Das scheint ein wichtiger Schritt zu sein, dass sich Bischof Oster mit aus seiner Sicht einem als problematisch empfundenen polarisierenden Agieren „seines“ eigenen Lagers auseinandersetzt – allerdings nicht ohne zu erklären, dass er ähnliche Tendenzen bei den „Liberalen“ auch beobachte.
Aufmerksam für die Position des Anderen
Konkret beschreibt nun der einst als Dogmatiker lehrende Theologe den Versuch beziehungsweise den Effekt, eine Polarisierung von Bischöfen, Priestern, Theologinnen und Theologen in klar identifizierbare Lager voranzutreiben. Damit tue er sich schwer und er schreibt: „Es ist allzu offensichtlich, dass einige Gläubige von kath.net favorisiert werden und andere als nicht katholisch oder nicht mehr katholisch gelten. In den Foren wird solche Polarisierung in der Regel vertieft und die Redaktion tut aus meiner Sicht zu wenig, um wirklich auch differenzierte Positionen hören und verstehen zu wollen und zu würdigen.“ Nun könnte man einwenden, dass gerade in der Zuspitzung bisweilen auch etwas Erkenntnisförderndes liegen könnte, dass im Sinne der „Unterscheidung der Geister“ auch eine gewisse Grobzeichnung geradezu notwendig wäre. Doch genau da wird Oster noch deutlicher. Die Lagerbildung, die in der Kirche an allen Seiten voranschreite, diene eben nicht der inhaltlichen oder argumentativen Schärfung, sondern sie ist vielmehr eine auf Machtkategorien und schlichte politische Gut-Böse-Kategorien beschränkte Gefechtsaufstellung, die dann selbstgefällige, destruktive und gerade zu unernsthafte Züge trägt.
Der Passauer Bischof formuliert es mit einer vielleicht als banal zu nennenden Einsicht, die aber tatsächlich in der gegenwärtigen Lage demaskierend wirken müsste. „Die Kirche und ihre Gläubigen sind komplexer als nur schwarz und weiß oder gut und böse. Diesen Eindruck von Komplexitätsreduktion gewinnt man aber sehr leicht, wenn man die Seite auch nur ein paar Tage verfolgt.“ Und Oster verbindet dies mit einem klaren Bekenntnis zu einer Pluralität der Meinungen und einer Debattenkultur. „Ich bin der Ansicht, dass um Wahrheit gerungen und im guten Geist auch gestritten werden darf.“ Zwar sei „immer wieder auch Entschiedenheit nötig“. Aber bei der Beurteilung der Glaubensüberzeugung Anderer sei eben „vieles weniger klar“, als es „kath.net“ unterstelle. Vielmehr müsse, so Oster, die Darstellung der jeweils eigenen Position und das Ringen um Argumente und Gegenargumente auch ohne die persönliche Diffamierung anderer auskommen.
Journalistisches Werkzeug und innerkirchliches Kampfmittel
Mit Zuspitzung hat auch „Christ &Welt“, die im Katholischen Medienhaus in Bonn beheimatete Beilage der „Zeit“, ihre eigenen – bisweilen leidvollen – Erfahrungen. Im Januar lehnte Redaktionsleiterin Christiane Florin eine Anzeige des Hilfswerks „Kirche in Not“ ab und erntete wüste Beschimpfungen, welche eben die „Trollisierung“ der Kommunikation noch mal auf das Übelste illustrieren. Ausgangspunkt allerdings war schlicht, dass „Kirche in Not“ in „Christ & Welt“ für ihren „Kongress Weltkirche“ werben wollte.
Unter anderem sollte eine Veranstaltung mit folgendem Titel angekündigt werden: „Gegen den Strom von Meinungsdiktatur und Political Correctness“. Deutschland eine Diktatur zu nennen sei aber, so begründete Florin ihre Ablehnung, „eine Diffamierung“. In dem Anzeigentext macht sie eine „Verachtung für die plurale Demokratie“ aus. Christsein zeige sich aber auch darin, dankbar zu sein für das Gute, das man hat, die Kirche allerdings relativiere „ganz gern“ den Wert der Demokratie.
Natürlich polarisiert Florin damit auch in gewisser Weise, natürlich spitzt sie zu und verlangt dann, dass die Bischöfe „Kirche in Not“ kritisieren. Natürlich kann Zuspitzung auch ein legitimes journalistisches Stilmittel sein, es darf nur nicht zum reinen Kampfwerkzeug eines innerkirchlichen Machtkampfes der Lager verkommen. Die Suche nach vermeintlich Rechten in der Kirche und nach deren journalistischen Helfern wirkt dann manchmal leicht überzogen. Aktuell ist auch ein Radiobeitrag vom Bayrischen Rundfunk wegen solchen Zuschreibungen in der Kritik.
In der Tat leben wir aber auch nicht in einer Meinungsdiktatur, in der Tat ist das Wort Diktatur angesichts der Erfahrungen unseres Landes und angesichts der Lage von verfolgten Christen weltweit abstrus bis hin zu zynisch. Kritik ist also angebracht. Zugleich ist gegenüber der Art und Weise, wie das Hilfswerk manches strittige Thema kampagnenfähig klopft, Widerspruch nötig.
Wer sich dann die Diskutanten anschaut, die „Kirche in Not“ bei der Veranstaltung aufbietet, kann von Pluralität wenig spüren. Souverän wäre es gewesen, etwa Florin einzuladen. Stattdessen dominierte offenbar die Sehnsucht nach jenem wohligen Behagen, das aufkommt, wenn man sich nur mit Seinesgleichen umgibt. Dieses Harmoniestreben gibt es in allen Lagern. Und die Pflege von Feindbildern kann zur destruktiven Masche werden.
Der Mainzer Kommunikationswissenschaftler Hans Mathias Kepplinger urteilte bei der Veranstaltung in Würzburg auch, der Begriff Diktatur sei wenig brauchbar, man solle von „Hegemonien“ bestimmter Meinungen sprechen. In der Tat gibt es aber keinen eindeutigen linken oder liberalen Hegemon, sondern ganz unterschiedlich große Hegemonie-Inseln. Diese bereiten den Boden für ein ungutes Klima in der Kirche, welches immer eher die Differenz als das Verbindende hervorkehrt. Oder besser gesagt: nicht das Ringen um gegenseitiges Verständnis, sondern das Streben nach größtmöglichem Missverständnis ist zu beobachten.
Florin hat in ihrem Text, in dem sie die Anzeigenablehnung von „Kirche in Not“ begründet hat, auch erklärt, in einem anderen Fall eben anders argumentiert zu haben. Kirchenpolitische Streitigkeiten über die „richtige Frömmigkeit“ ließen sich, so schreibt sie, nicht durch das Unterdrücken von Anzeigen lösen. Bischof Oster hat in seinem zweiten Brief an seine „Facebook-Freunde” noch mal auch auf die Reaktionen reagiert. Darin wehrt er sich gegen den Vorwurf, das Lager gewechselt zu haben oder gar taktisch vorzugehen. Vielmehr sei Selbstkritik richtig. Auch er als Bischof sei stets gefährdet, die Liebe zu vernachlässigen und nur auf vermeintlich richtiges Wissen zu bauen. Oster: „Das ist der Pharisäer in mir.“