Die Anspannung ist deutlich spürbar. Es gab in den vergangenen Jahrzehnten länger schon keine vergleichbare Situation mehr, bei der an beiden Enden des kirchenpolitischen Spektrums der Eindruck vorherrschte, Entscheidendes könnte sich ändern. Kaum jemand traut sich zwar ein abschließendes Urteil zu, welche Reformen Franziskus selbst wirklich konkret will und wieweit sein Veränderungswille geht: Aber dass die Dinge in Bewegung kommen sollen, ist aufgrund der bisherigen Äußerungen des Papstes sicher.
In den Monaten zwischen der Außerordentlichen Bischofssynode im vergangenen Jahr und der Ordentlichen Generalvollversammlung in diesem Herbst geht es dabei keineswegs nur um die Frage des in definierten Fällen offiziell erlaubten Kommunionempfangs von wiederverheirateten Geschiedenen. Dieser Streitpunkt ist zwar zwischenzeitlich zum Symbol für den Erfolg kirchlicher Reformbemühungen geworden. Es gibt daneben aber eine Reihe anderer Themen auf dem Feld der Sexualmoral beziehungsweise Familienpastoral. Darüber hinaus dürften sich aus Verlauf und Ergebnis der Außerordentlichen Bischofssynode im Oktober auch tiefer greifende Neuerungen mit Blick auf das Verhältnis von Universal- und Ortskirche, dem Zusammenspiel von Papst, Kurie und Bischöfen und die Aufwertung von synodalen Strukturen in der katholischen Kirche ergeben. Und schließlich, so hoffen die einen und befürchten die anderen, könnten dann auch noch weitere strittige Fragen der vergangenen beiden Pontifikate ganz oben auf der Agenda der Diskussionen auf Weltebene stehen.
In dieser Lage, bei der sich dezidierte Befürworter von Reformen und entschiedene Verfechter des Status quo gegenüberstehen, haben in den vergangenen Monaten wiederholt auch Bischöfe an die Theologen appelliert, sich stärker einzubringen und Vorschläge zu unterbreiten. Zuletzt hatte Kardinal Reinhard Marx, Vorsitzender der Deutschen Bischofskonferenz, am Ende der Frühjahrsvollversammlung ausdrücklich auch Theologinnen und Theologen aufgefordert, sich aktiv an einer Debatte um die theologischen Grundlagen von Ehe, Familie und Sexualität zu beteiligen. Es gebe, so Marx, auch in der Weltkirche hohe Erwartungen an die deutsche Theologie.
Angesichts der Tatsache, dass Theologen in den vergangenen Jahrzehnten nach einer intensiveren Phase der Rezeption des Zweiten Vatikanischen Konzils innerkirchlich oft genug und zunehmend als Störenfriede wahrgenommen wurden, lassen solche Forderungen aufhorchen. Sie stoßen allerdings auch auf kritische Rückfragen – gerade weil die „strukturelle Verbindung zwischen Theologie und Kirchenlehre“ in den vergangenen Jahren verkümmert ist, wie die Churer Dogmatikerin Eva Maria Faber jüngst beklagt hat.
Der Freiburger Fundamentaltheologe Magnus Striet hat bereits im Dezember vergangenen Jahres angesichts des Rufs nach mehr Theologie darauf hingewiesen, dass es Theologen und Theologinnen waren, die beispielsweise mit dem Memorandum „Ein notwendiger Aufbruch“ im Jahr 2011 auf eine Reihe von Themen hingewiesen hatten, die inzwischen weltkirchlich diskutiert werden. Kardinal Walter Kasper, der jetzt zu den treibenden Kräften gehört, hatte seinerzeit mit seinem Hinweis auf die „Gotteskrise“ als eigentlichem Kern der Kirchenkrise die vermeintlich nur an Strukturen interessierten Reform-Theologen faktisch gebremst.
Tatsächlich gibt es beim Großteil der Palette kirchlich strittiger Themen auch kein Erkenntnisproblem, als habe bisher einfach noch niemand darüber nachgedacht. Entscheidend ist die Frage, was von der theologischen Forschung und Diskussion seit dem Zweiten Vatikanischen Konzil kirchenamtlich rezipiert beziehungsweise überhaupt zur Kenntnis genommen wurde. Bisher ist man jedenfalls auf Seiten des katholischen Lehramts sowohl im Vatikan wie auch bei den Bischöfen oft genug ohne die Würdigung neuerer theologischer Ansätze oder gar Thesen und ihrer Begründungen im Einzelnen ausgekommen. Insgesamt wäre innerkirchlich mehr theologische Bildung notwendig.
Das heißt jedoch nicht, dass das Thema damit erledigt wäre. Ganz im Gegenteil: Offenkundig schlägt jetzt die Stunde der Theologie. Da mag man mit gutem Recht an schlechte Erfahrungen in der Vergangenheit erinnern. Auch darf man nicht vergessen, dass nicht wenige Nachwuchswissenschaftler und -wissenschaftlerinnen in der Phase der Versteinerung der kirchlichen Lehre in ihrer Berufsbiografie konkrete und zum Teil erhebliche Nachteile erlitten haben. Offenkundig aber gibt es Zeitfenster, in denen möglich ist, was früher nicht ging. Man mag es bedauern: Aber es kommt eben nicht immer nur darauf an, was man sagt, sondern auch wann man es sagt. Diesen Kairos gilt es jetzt zu erfassen.
Das war zuletzt vor und während des Zweiten Vatikanischen Konzils, dessen Ende vor 50 Jahren in den nächsten Monaten gedacht wird, nicht anders. Seinerzeit hatten Theologen – angefangen von der nouvelle théologie in Frankreich bis zu Karl Rahner – zum Teil massive Konflikte mit dem Lehramt, wurden dann aber zu Vordenkern. In ganz ähnlicher Weise ist es jetzt geboten, die Anzeichen einer neuen Aufmerksamkeit für die Theologie zu nutzen.
Bei Papst Franziskus mag man auch angesichts seiner theologischen Ausrichtung in konkreten Fragen unsicher sein, nicht zuletzt weil er der Volksfrömmigkeit als locus theologicus einen enormen methodischen Stellenwert einräumt. Mit Blick auf die Aufgabe der Theologie hat er jedoch selbst jene Türen aufgestoßen, die verschlossen waren, als man der Theologie nur die Auslegung von ewig feststehenden Wahrheiten zugedacht hatte. Katholische Fakultäten sollten keine „Museums-Theologen“ ausbilden, die Wissen über die Offenbarung anhäufen, ohne sich zu fragen, was sie damit tun sollen, forderte der Papst Anfang März anlässlich des 100-jährigen Bestehens der theologischen Fakultät in Buenos Aires in seiner lässigen Diktion.
Dass auch Theologen den „Geruch nach Volk und Straße“ verströmen sollen, muss man dabei nicht als anti-intellektuelle Spitze verstehen. Diese Maxime zeigt vielmehr an, dass gerade und auch die wissenschaftliche Theologie dafür verantwortlich ist, nahe an der Lebenswirklichkeit der Menschen zu sein, die Schwierigkeiten der Gläubigen aufzugreifen, ins Wort zu bringen und von der Bibel und der Tradition her Lösungsvorschläge zu machen. Auch hier gilt es, an die „Ränder“ zu gehen.
Der Ort des theologischen Nachdenkens seien die Grenzverläufe, so der Papst selbst. Offenkundig ist damit nicht nur die Optimierung der Pastoral, sondern auch ein Vorantreiben der Lehrentwicklung gemeint.
Noch bei den – in sich heterogenen – Formulierungen der Fragebögen zu den familienpastoralen Themen sprang zuletzt wieder ins Auge, dass anstelle einer „Weiterentwicklung“ der Lehre (Marx) für manche lediglich eine geschicktere katechetische Vermittlung der bisherigen Positionen das Ziel ist. Der Präfekt der Glaubenskongregation, Kardinal Gerhard Ludwig Müller, hat Anfang April abermals vor Änderungen der Lehre gewarnt – und zwar mit dem Argument, die Lebenswirklichkeit sei keine Offenbarungsquelle. Nicht wenige Bischöfe aus der gesamten Weltkirche haben sich indessen aber auch die Überzeugung zu eigen gemacht, dass eine Neuakzentuierung der Pastoral auch zu einem Überdenken katholischer Lehrpositionen kommen müsse.
In der Sache wird es bei den geforderten Beiträgen der Theologen einerseits um konkrete Formulierungsvorschläge gehen, wie die bisherigen theologischen Erkenntnisse auch kirchenamtlich rezipiert werden können. Manche Initiative wird hier besser im Verborgenen gedeihen, um solche Formulierungen nicht vorschnell zu zerreden. Doch während die – in ihrer Wirkung letztlich verhängnisvolle „Instruktion über die kirchliche Berufung des Theologen“ aus dem Jahr 1990 – die Fachvertreter noch vor öffentlichen Äußerungen, gar in den Massenmedien, warnte, ist es gleichermaßen notwendig, dass um entsprechender neuer Akzente willen nicht nur innerkirchlich auch eine öffentliche Diskussion stattfindet.
Nicht zuletzt an den gegenwärtig heiß diskutierten Punkten, die jeweils von konkreten Vertrauenskrisen der Kirche ausgehen, lässt sich weiter zeigen, wie umfassend die Aufgabenstellung ist. Die Fragen der Familiensynoden berühren aber eben nicht nur die Moraltheologie, sondern greifen mit den von ihnen ausgelösten Diskussionen von Themen wie Körper, Subjektsein und Freiheit weit darüber hinaus. Sie zwingen die Kirche dazu, ihr Verhältnis zur Moderne neu zu bestimmen. In ähnlicher Weise führen die Skandale um den Umgang der Kirche mit Geld dazu, dass über die Kontrollmechanismen von Finanzen und Vermögen der Kirche auch die in Kirchenrecht gegossenen ekklesiologischen Strukturen auf den Prüfstand gestellt werden müssen. Dies alles sind Themen, die nicht unabhängig von der Gottesfrage heute sind.
Im Übrigen spricht Vieles dafür, dass die Stunde der Theologie nicht auf das Jahr 2015 beschränkt ist. Der Dogmatiker Josef Wohlmuth hat bei der Dankesrede für die Ehrenpromotion an der Universität Eichstätt vor einigen Monaten ausdrücklich davon gesprochen, dass jetzt gute Theologie getrieben werden müsse, um ein neues Konzil vorzubereiten. Er sei sich mit der Mehrheit der Theologen und Theologinnen in aller Welt darin einig, dass das Zweite Vatikanum mit seinen Richtungsentscheidungen nicht zurückgenommen werden könne. Er wisse als Konzilienforscher aber auch, dass ein Konzil bereits immer auch das nächste vorbereite. Ein wichtiges Thema sei dabei etwa, auch über die Gewährleistung von Repräsentativität nachzudenken – um dem Rechnung zu tragen, dass die Gesamtheit der Gläubigen nicht irren könne.
Anzeichen für ein neues Konzil gibt es kaum, nicht wenige sind auch sehr skeptisch, ob ein solches Vorhaben von Erfolg gekrönt sein könnte. Aber auch das war am Vorabend des Zweiten Vatikanums nicht anders. Wohlmuth ist immerhin davon überzeugt: „Es wird kommen, aber wir wissen nicht, wann es sein wird. Gerade deshalb sind wir gehalten, schon jetzt über dessen Struktur nachzudenken.“ Nichts anderes zeichnet den Kairos aus, als dass die Zukunft bereits in die Gegenwart hineinragt.