Ein Gespräch mit dem Stuttgarter Stadtdekan Christian Hermes„Christen können Stadt“

Heutige Großstädte bringen eine Reihe von Herausforderungen für die Kirche mit sich. Wie ist ihnen zu begegnen; was können besondere Angebote, etwa der Citypastoral, leisten? Und was bedeuten sie für die Art und Weise, den Glauben zu leben? Über diese Fragen sprachen wir mit dem Stuttgarter Stadtdekan Christian Hermes. Die Fragen stellte Stefan Orth.

Herr Stadtdekan Hermes, Sie haben zuletzt alle katholischen Stadtkirchenleitungen deutscher Großstädte zu einer Tagung eingeladen, um über deren spezifische Herausforderungen zu sprechen. Was kennzeichnet unsere Großstädte in Deutschland?

Hermes: Natürlich haben wir in Deutschland keine Megastädte mit Wucherungen ins Umland wie es sie in Asien oder Lateinamerika gibt. Unsere Städte bilden aber abseits von Berlin oder München auch, etwa im Ruhr- oder im Rhein-Main-Gebiet oder auch hier im Raum Stuttgart Metropolregionen, in denen man dann auch auf sehr große Einwohnerzahlen kommt. Wir kennen keine Landflucht, aber eine klare Bewegung in die Städte. Aufgrund unserer föderalen Struktur gibt es in Deutschland, was ich für einen Vorteil halte, auch keine Primatstadt wie Paris oder London. Wir haben stattdessen viele Städte und Regionen, die zwar sehr verschieden sind und doch eine ähnlich großstädtische Prägung haben.

Wie lässt sich dieses Eigengepräge genauer beschreiben?

Hermes: Aus einer großen Wirtschaftskraft, wie wir sie hier glücklicherweise haben, folgt etwa eine Hochpreisigkeit, was den Wohnraum angeht. Es stellen sich dann auch sofort die Fragen der Gentrifizierung von Stadtvierteln, der überlasteten Verkehrsinfrastruktur, der Stadtentwicklung, des Wohnungsbaus und so weiter. Allein in die Innenstadt im Stuttgarter Kessel pendeln jeden Tag rund 500 000 Menschen zur Arbeit. Die Stadt ist dynamisch und hoch verdichtet. Auch tauscht sich die Bevölkerung angesichts der Wanderungsbewegungen vergleichsweise schnell aus. Es ist deshalb oft nicht einfach, überhaupt zu wissen, wer in der Nachbarschaft gerade wohnt. Anonymisierung ist die Folge, Gemeinschaften bilden sich eher vorübergehend und sind fragiler. Gesellschaftliche und politische Diskurse konzentrieren sich in den Großstädten. Die Zahl der Demonstrationen beispielsweise hat sich bei uns nicht nur wegen Stuttgart 21 in den letzten Jahren vervielfacht. Auch die Pegida-Bewegung sucht die Städte, wo sie dann eine Bühne hat – selbst wenn die entsprechenden Leute mit der konkreten Stadt eigentlich gar nichts zu tun haben. Ähnliches gilt für die Megaeinkaufszentren, die von Menschen aus der gesamten Region besucht werden, denen aber, wie den Investoren, wenig an dieser Stadt als solcher liegt. Alles das macht etwas mit einer Stadt und einer Stadtgesellschaft und auch mit der Kirche.

Worin besteht angesichts dieser Rahmenbedingungen die Herausforderung für das Christsein in diesen Stadträumen?

Hermes: Jeder Einzelne bewegt sich in der Großstadt in einem dynamischeren und unübersichtlicheren Feld, auch im Vergleich mit der Stadtgesellschaft früherer Jahrzehnte. Als Pater Rupert Mayer in München vor hundert Jahren Großstadtpastoral gemacht hat, gab es noch so etwas wie ein katholisches Milieu. Vieles ließ sich da für die Menschen relativ einfach einsortieren. Heute kommen alle als Individuen in die Stadt und müssen dann schauen, wo sie hingehören oder hingehören wollen. Das macht es deutlich schwerer. Die Kirche oder der Glaube, den sie repräsentiert, ist nicht das Zentrum einer solchen Stadtgesellschaft. Eine christliche Lebensform und die Zugehörigkeit zu einer Gemeinschaft ist nicht vorgegeben und keineswegs selbstverständlich. Glaube ist in der säkularen Großstadt eine Sache der persönlichen Entscheidung und freien Wahl. Darin liegen freilich auch Chancen. Pastoral müssen wir jedenfalls umdenken: Wir sind hier nicht Volkskirche oder Leitkultur, keiner muss zu uns kommen und wir können keinem irgendetwas vorschreiben. Wir können nur freie Angebote für freie Menschen machen. Diese Freiheit macht die Pastoral zu einer spannenden Herausforderung.

Sieht das auf dem Land anders aus? Letztlich sind die Probleme bei der Tradierung des Glaubens, nicht zuletzt aufgrund der prägenden Rolle der Medien für das gesellschaftliche Bewusstsein, auch nicht wesentlich anders.

Hermes: Wir sind in jedem Fall nicht der Nabel der städtischen Welt. Wenn wir zum Beispiel Fronleichnam feiern, ist das hier bestenfalls ein Event unter sehr vielen. Dafür ändert keiner die Ladenöffnungszeiten oder stellt gar Birken vor dem Haus auf. Manche fragen: Wofür demonstrieren die eigentlich? In der Großstadt zieht eine Demo für oder gegen Homosexualität oder den Bahnhofsneubau durch die Straßen, die genauso nach zwei Stunden wieder verpufft ist wie ein Fastnachtsumzug, ein Kulturfestival oder eben eine Fronleichnamsprozession. Diese Pluralisierung ist Segen und Fluch zugleich, Chance und Risiko. Denn für die Städte stellt sich die Frage, was sie denn überhaupt zentriert und zusammenhält über das Ökonomische hinaus. In der Stadt läuten zwar Glocken, aber sie sammeln nicht die Stadtgesellschaft, sondern sind für Viele ein mitunter eher ärgerlicher Lärm und Teil städtischer Dauerbeschallung.

Welchen Konsequenzen sind daraus für das Kirchesein in der Stadt zu ziehen? Was bedeutet das für die Haltung, mit der man in heutigen Großstädten als Kirche agieren kann – und muss?

Hermes: Wir müssen hier in der Stadt immer auf dem Posten sein, wenn wir irgendjemand pastoral erreichen wollen. Das trifft natürlich auch zunehmend auf den ländlichen Raum zu. Immerhin habe ich dort weithin eine stärkere Bereitschaft zum ehrenamtlichen, vor allem auch längerfristigen Engagement – nicht zuletzt aufgrund des höheren Anteils an Wohneigentum. Auf dem Land ist manches noch einfacher, aber ich warne vor der Illusion, dass Pastoralstile früherer Jahrzehnte dort selbstverständlich weiterlaufen. In der Stadt ist man permanent am Akquirieren von neuen Mitarbeitern, weil die bisherigen sich beruflich verändern, im Speckgürtel bauen oder irgendetwas anderes machen wollen. Trotzdem bin ich der Überzeugung, dass die Pastoral auf dem Land in den kommenden Jahren noch viel, viel schwieriger werden wird als in der Stadt. Dort gibt es inzwischen durchaus weiße Flecken auf der Landkarte, was die pastorale Versorgung im Nahraum angeht.

Verändert sich angesichts dieser Bedingungen in der Stadt auch die Art und Weise zu glauben? Was prägt den Glaubensstil in der Stadt?

Hermes: Auch wenn die Stadt manches Mal sehr negativ gesehen wird: Ich bin so gerne Priester in der Stadt, weil Städte immer Laboratorien von gesellschaftlichen Diskursen und Lebensstilen waren und heute sind. Unsere Städte sind nicht mehr mehrheitlich katholisch oder evangelisch, ja nicht einmal christlich, sondern Räume einer großen religiösen und weltanschaulichen Vielfalt. Viele sind auch einfach gar nicht religiös. Dass weniger Menschen mitmachen, liegt ja oft nicht an langweiligen Predigten, schlechtem Religionsunterricht oder falschen pastoralen Angeboten, sondern einfach daran, dass viele Menschen an diesen Gott nicht glauben wollen. Das muss man respektieren, und diese Säkularisierungsdynamik werden wir nicht einfach stoppen oder umkehren. In der Stadt ist aber manches auch leichter. Mobilitätseingeschränkte Menschen etwa haben aufgrund der räumlichen Dichte und des Nahverkehrssystems noch viele Möglichkeiten, Gottesdienste zu besuchen und kirchliche Angebote wahrzunehmen. Da wir heute ein Entscheidungs- und Wahlchristentum haben und nicht mehr die tradierte Zugehörigkeit zur Gemeinde und zur Kirche entscheidend ist, können wir Menschen in der Stadt viel mehr bieten als in dünner besiedelten Gegenden. In Stuttgart haben wir 42 deutsche und 28 muttersprachliche Gemeinden und Gemeinschaften. Allein da gibt es viele unterschiedliche Angebote. Und wenn mir der Pfarrer der Gemeinde nicht passt, dann gehe ich in eine andere, die nicht wesentlich weiter weg sein muss.

Wird die ethnische Vielfalt in den Städten ernst genug genommen? Aus Sicht der katholischen Kirche, die ja Weltkirche ist, wäre dies auch eine große Chance. Oder dominieren die negativen Aspekte der Segmentierung?

Hermes: Das ist eine Herausforderung, die wir angehen müssen. Wir brauchen mehr Integration, aber nicht Assimilation. Die muttersprachlichen Gemeinden haben ein Recht auf die Pflege ihrer Traditionen, ihrer Sprache, ihrer Form der Pastoral und Katechese. Gleichzeitig muss unser Interesse die Integration sein, beiderseits. Denn auch die deutschen Gemeinden müssen sich hier öffnen, und wir alle im buchstäblichen Sinn katholischer werden. Speziell als katholische Kirche müssten wir ja Experten für Integration sein. Die Lösung kann nur darin bestehen, die eigene spirituelle Heimat lebendig zu vermitteln und zu entwickeln. Wo man sie nur zu konservieren sucht, drohen diese Gemeinschaften zu Heimatpflegevereinen zu werden.

Was bedeutet das auf der anderen Seite für die althergebrachten Gemeinden? Haben Sie den Eindruck, dass dies überhaupt in ausreichendem Maß als Herausforderung verstanden wird?

Hermes: Wir sollten gesellschaftliche Pioniere und Motoren der Integration sein. Die Pluralität und die zentrifugalen Tendenzen in großen Stadtgesellschaften werden ja nicht weniger, sondern mehr werden. Der Anteil der katholischen Christen mit Migrationshintergrund steuert hier in Stuttgart auf 45 Prozent zu. Die Zahl der Katholiken wächst bei uns, aber durch Zuwanderung aus Polen, Kroatien, Spanien, Portugal und Italien und vielen anderen Ländern. Das wird die Stadtkirche verändern.

Tatsächlich hat man oft den Eindruck, dass die Kirche mit Blick auf ihre Rolle als sozialer Dienstleister oder auch kultureller Faktor durchaus akzeptiert ist, sich ansonsten aber einem säkularen Druck beugen muss. Wie groß ist dieser? Und welche Möglichkeiten gibt es, jener Falle zu entfliehen?

Hermes: Wir versuchen als katholische Kirche in Stuttgart derzeit innerhalb unseres pastoralen Prozesses „Aufbrechen“ bewusst zu sagen: „Wir sind Kirche in der Stadt, für und mit den Menschen in der Stadt.“ Ich bin davon überzeugt: Wir Christen können Stadt. Dabei ist aber die Haltung wichtig, dass wir die Wirklichkeit der Stadt, der Urbanität, anerkennen. Bei den oft zitierten Zeichen der Zeit geht es ja zunächst einmal darum, die Stadt so wahrzunehmen, wie sie ist, und nicht, wie wir sie uns am theologischen Schreibtisch erträumen. Ob diese Faktizität dann auch noch eine prophetische Kraft hat und Gott uns etwas sagen möchte, ist ein zweiter Schritt. Erst kommt das Sehen, dann das Urteilen. Papst Franziskus ist uns da gewissermaßen beigesprungen mit seinen Ausführungen in Evangelii Gaudium. Ausdrücklich sagt er mit Blick auf die Städte: Gott lebt unter den Bürgern und fördert die Solidarität, die Brüderlichkeit und das Verlangen nach dem Guten, nach Wahrheit und Gerechtigkeit. Diese Gegenwart müsse nicht hergestellt, sondern entdeckt, enthüllt werden. Ich halte das für zentrale Sätze. Man erkennt hier die Prägung des Papstes durch seinen jesuitischen Mitbruder Michel de Certeau. Die Stadt ist ein Raum mit hoher gesellschaftlicher Dynamik, in dem Menschen leben, von denen wir glauben, dass sie alle das gute Leben anstreben, auch wenn sie davon natürlich verschiedene Vorstellungen, manchmal auch problematische und unverträgliche Vorstellungen haben. In den Dialog über dieses gute Leben in einer gerechten Gesellschaft steigen wir mit unserer Botschaft ein.

Nach Tomáš Halík hat es das Christentum heute unter anderem deshalb schwer, weil die Glaubensvorstellungen oft zu stark von einer dörflichen Lebenswelt geprägt sind. Auf welche spirituellen Traditionen könnte das Christentum, das in den Städten der Antike groß geworden ist, zurückgreifen?

Hermes: Wir hängen vielleicht nicht explizit dörflichen, aber doch jedenfalls einfacheren, weniger komplexen Lebenswelten nach. Wir haben als Kirche in dem Sinne kein Stadtproblem, aber wir haben ein enormes Komplexitäts- und Pluralitätsproblem. Weil diese Komplexität überall zunimmt, und sich nur in den Städten früher zeigt, wird es auch in den Dörfern schwieriger. Angesichts dieser tiefgreifenden Dynamik dürfen wir auch nicht nur kirchliche Sanierungs- und Konsolidierungsprozesse vorantreiben, sondern müssen unsere Situation geistlich in den Blick nehmen, was Papst Franziskus ja so gut angesprochen hat. Die Stadt ist, schon biblisch, ja sowohl Unheils- als auch Heilsort, sowohl die Hure Babylon als auch das Heilige Jerusalem. Das Christentum der Antike war sehr städtisch geprägt, denken wir an Rom oder auch an Alexandria. Im Brief an Diognet aus dem zweiten Jahrhundert heißt es, dass die Christen keine eigenen Städte bewohnen, sondern mit allen anderen zusammenleben, aber sich durch ihre Lebenspraxis unterscheiden. Sie seien die Seele ihrer weltlichen Umgebung.

Was folgt daraus an Auftrag für die Kirche heute? Wie kann sich die katholische Kirche als mit Strukturen, Kirchenrecht und Glaubenslehre fixierter Sozialkörper in der Stadt behaupten?

Hermes: Clemens von Alexandrien, das hat das Zweite Vatikanische Konzil mit seinem inklusivistischen Ansatz aufgegriffen, plädiert dafür, die Spuren der Wahrheit auch bei den anderen zu entdecken, sie auch für fähig zum Wahren und Guten zu halten. Wenn wir den Anspruch erheben, dass nur wir wissen, was gut ist, und alle auf uns hören sollen, weil wir die aus der Geschichte unseres Landes einschlägig bekannte Oberheilsinstitution sind, werden wir nicht auf Verständnis stoßen, sondern scheitern. Mit Superioritätsallüren laufen wir in einer pluralen und säkularen Stadtgesellschaft völlig ins Leere, werden ignoriert oder machen uns lächerlich.

Und was ist demgegenüber die Alternative? Wie kann die Kirche auf sich aufmerksam machen, ohne die anderen zu düpieren?

Hermes: Wir müssen uns auf den offenen gesellschaftlichen Diskurs einlassen. Wir müssen den anderen zugestehen, dass sie auch nach Gerechtigkeit, nach dem Guten, nach dem Förderlichen suchen für diese Stadt. Wir sind in dieser Stadt ein Player unter anderen, freilich ein großer mit einer großen Tradition. Unser Stadtcaritasverband ist der größte freie Wohlfahrtsträger dieser Stadt, und keine Organisation hat so viele Ehrenamtliche und ist so breit vernetzt wie die Kirchen. Da bringen wir unsere Stimme ein, gerade auch anwaltschaftlich für Anliegen und Menschen, die sonst zu kurz kommen. Wenn wir uns da als fairer Partner in einem gesellschaftlichen Diskurs präsentieren, der nicht die Durchsetzung eigener Machtinteressen oder den Selbsterhalt, sondern – wie es bei Jeremia heißt – tatsächlich der Stadt Bestes sucht, dann werden wir auch ernst genommen.

Können Sie ein Beispiel nennen?

Hermes: Angesichts der Investorentätigkeit und steigender Grundstückspreise tun sich Fragen auf, die wir thematisieren müssen. Wohlstand ist für uns Christen nichts Böses. Eine Stadt darf reich sein, aber sie darf keine Stadt der Reichen sein. Das Thema Lebensraum für Familien und Menschen mit niedrigem Einkommen spielt da eine Rolle; das ist eine Frage der gesellschaftlichen Solidarität und Gerechtigkeit. Es geht aber auch um inhaltliche Fragen: Ich sehe keine Institution im öffentlichen Leben dieser Stadt, die wirklich einen Diskurs über die Frage führt, wo wir als Stadt und Stadtgesellschaft hinwollen, welche Vision des städtischen Zusammenlebens wir haben. Bei der Stadtentwicklung geht es viel zu oft nur um Infra­strukturfragen, die Ansiedlung von Investoren, Verkehrslenkung und Feinstaubbelastung. Das ist leider oft ein bisschen niveaulos, weil zum guten Leben und Zusammenleben eben mehr gehört.

Was war der entscheidende Auslöser für das Vernetzen der Stadtdekane in Deutschland? Haben die Bischöfe und ihre Seelsorgeämter die Großstädte nicht gut genug im Blick?

Hermes: Bei den Seelsorgeämtern hat man das Thema bisher nicht so im Blick gehabt, deshalb haben wir uns zusammengeschlossen und werden dabei vom Sekretariat der Bischofskonferenz auch unterstützt. Wir hatten uns bisher schon im Südwesten zum Beispiel zwischen Mannheim, Karlsruhe und Frankfurt kollegial ausgetauscht und das als sehr hilfreich empfunden. So wie es auf der kommunalen Ebene den Städtetag gibt, ist es wichtig, sich auf dieser Ebene zu vernetzen, weil es eben spezifische Themen gibt. Immerhin 35 Teilnehmer, Stadtkirchenleitungen aus Städten mit mehr als 100 000 Einwohnern, waren schließlich da und die nächste Tagung ist schon geplant.

Was hat der Austausch erbracht und wie soll er fortgesetzt werden?

Hermes: Neben den Themen wie City-Pastoral, Gemeindestrukturen, Infrastrukturprobleme haben sich ganz aktuelle Themen ergeben: Pegida, Ausländerfeindlichkeit, Flüchtlinge – und was heißt das alles für uns? Wie gehen wir angesichts des Phänomens der Salafisten mit dem interreligiösen Dialog um? Wie sind die Erfahrungen mit Foren wie einem Rat der Religionen? Daneben gibt es ganz bestimmte Herausforderungen, die nicht die Herausforderungen der Diözesen insgesamt sind: etwa das Management von Verhandlungen mit hochkomplexen Stadtverwaltungen, weil die Kontakte da nicht so einfach laufen wie in einer Kleinstadt oder auf dem Dorf. Sozial- und finanzpolitisch werden wir zunehmend schlecht, hier in Stuttgart geradezu diskriminierend behandelt. Das politische Klima wird rauer. Da können wir uns gegenseitig stärken und auch munitionieren.

Legt es sich angesichts der Entwicklungen mit Blick auf die Pastoral in großen Städten nahe, weniger Ressourcen in die herkömmlichen Pfarreien und Gemeinden zu investieren und dafür die Kategorialseelsorge auf städtischer Ebene aufzuwerten?

Hermes: Es darf da kein Entweder-oder geben. Die Diözesen, die die sogenannten XXL-Gemeinden eingeführt haben, machen damit nicht nur gute Erfahrungen. Ich bin überzeugt, dass die Glaubenspraxis im Wohnumfeld ganz wichtig bleiben wird. Daran wird sich großteils entscheiden, ob wir als Kirche zukunftsfähig sind. Es wird nicht funktionieren, einfach auf sogenannte Leuchtturmprojekte zu setzen, zu denen die Menschen dann hingehen sollen – sondern wir müssen in dem Sinne missionarisch wirken, dass Menschen in ihrem Lebensraum gemeinsam beten, in der Schrift lesen, die Nächstenliebe leben und darauf achten, was in ihrer Nachbarschaft los ist.

Wie stehen die Chancen, dass das gelingt? Und warum geht man das nicht selbstbewusster an?

Hermes: Wir sind oft viel zu ängstlich, dass wir uns einen Korb holen oder dass etwas schief geht. Mein Gott, ja und? Wir haben doch etwas Gutes und Starkes anzubieten, eine gute Nachricht. Das müssen wir in selbstbewusster Bescheidenheit vertreten. Alle Pastoralstrategien und -konzepte, die aus Angst und Verzagtheit, Uninspiriertheit und Laschheit geboren sind, werden scheitern. Wir brauchen deshalb Menschen, die ihren Glauben vor Ort authentisch praktizieren. Das ist eine Seite. Auf der anderen Seite erlebe ich aber auch in der Gesellschaft eine große Offenheit und Aufgeschlossenheit – auch die Überraschung, an welchen Themen wir Interesse haben. Bei allen Schwierigkeiten: Es öffnen sich auch viele Türen, wenn man anklopft. Es liegt an uns, uns so einzubringen, dass wir in einer säkularen Gesellschaft diskurstauglich sind.

Welche Rolle spielte da die noch weiter gehende Forderung nach dezidierten Themenkirchen, wie es sie vermehrt auf evangelischer Seite in Großstädten gibt? Gibt es da katholischerseits einen Nachholbedarf, um der Vielfalt der Lebenssituationen und Interessen besser gerecht werden zu können?

Hermes: In unserem pastoralen Entwicklungsprozess unterscheiden wir verschiedene Ebenen, die alle ihr eigenes Charisma haben. Es braucht die Nahbeziehungen des Glaubens, es braucht die Gemeinde als „mittlere“ Gemeinschaft. Ergänzend brauchen wir auf der Stadtebene aber eigene Orte für besondere und anspruchsvolle Bedürfnisse der Pastoral. Wir haben hier in Stuttgart den Vorteil, dass wir auf der Ebene der Stadt auch über Kirchensteuereinnahmen verfügen können. Anderswo, das halte ich für nachteilig, gibt es nur einerseits die große Struktur der Diözese und dann nur die ganz kleine der Gemeinde. In Großstädten braucht es aber Mittel und Strukturen, Stadtkirche zu gestalten. Das ist durchaus ein Thema für unsere weiteren Beratungen.

In die sogenannte City-Pastoral wurde zuletzt viel investiert. Was läuft gut und was müsste man in Zukunft mit noch größerem Engagement angehen?

Hermes: Es geht um diese hochgradig ökonomisierte, stark verdichtete und von hunderttausenden Menschen frequentierte Innenstadtzone. Diese Bereiche sind immer weniger durch Wohnbevölkerung geprägt, weil dort eigentlich keiner mehr leben will und kann. In diesem Getöse und Geschiebe von Business, Eventkultur, Shoppen und Gastronomie brauchen wir besondere kirchliche Angebote. Sinnvoll sind niederschwellige Angebote eines Andersorts, eines Heterotopos im Sinn von Michel Foucault, an dem ganz andere Gesetze gelten als in der Umgebung. Insofern muss Kirche hier eine Oase oder ein Hafen sein, wo ich zur Ruhe kommen kann. Besonders gefragt sind dabei Beratungs- und Seelsorgeangebote, auch die Beichte. Dazu gehören musikalische, spirituelle und Bildungsangebote. Aber auch die zentrale Information ist wichtig zu Glaubensfragen, aber auch ganz praktischen Fragen, was man beispielsweise tun muss, wenn man heiraten will. Die City ist als Lebensraum ein bisschen verrückt, aber trotzdem kommen alle. Das muss man mögen, aber das heißt eben auch: Kirche in der Stadt und Kirche für die Stadt und die Menschen der Stadt sein. 

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