Auch innerhalb der katholischen Theologie wird weiterhin darum gerungen, inwieweit die Gottesbotschaft Jesu eine Überwindung von Opfervorstellungen beinhaltet – auch wenn seine Bedeutung unmittelbar danach und auch in der Tradition unter Rückgriff auf Opferkategorien erläutert wurde.
In diesem Zusammenhang ist ein gut zu lesender Essay-Band interessant, in dem der Berliner Literaturwissenschaftler Hans Dieter Zimmermann den christlichen Opferdiskurs dadurch zu profilieren versucht, dass er sich auch den außerchristlichen Opfermythen phänomenologisch nähert und ihre – bei allen Ambivalenzen – faktisch kulturprägende Kraft würdigt. Das betrifft einerseits die griechische Mythologie als Teil des kulturellen Umfelds des frühen Christentums. Das Neue des Kreuzestodes Jesu ließe sich, so Zimmermanns These, besser verstehen, wenn man sich eingehender mit diesen unterschiedlichen Ausprägungen menschlichen Opferwahns auseinandersetzen würde. So heißt es ausdrücklich: „Ja, man könnte fast sagen, die griechischen Tragödien bildeten neben dem jüdischen Alten Testament ein zweites Altes Testament, das im Neuen Testament aufgenommen und aufgehoben wird, im doppelten Sinne des Wortes.“ Nicht umsonst gibt es ja die interessanten Parallelen zwischen Christus und Dionysos. Das gilt ähnlich – nachdem diese dunkle Seite religiöser Praxis nur noch bei den „Barbaren“ anzutreffen war – für die Geschichte des Menschenopferns von den Ritualen in der germanischen Welt bis zur Französischen Revolution und den von Ideologien ausgelösten Katastrophen des 20. Jahrhunderts.
Einige wenige Stereotype sind aus theologischer Sicht zu monieren („Gott ist im Alten Testament ein strenger Richter“). Aber Zimmermann macht auf eindringliche Weise darauf aufmerksam, dass man – wie bei der Diskussion über die Entsühnung durch einen Sündenbock – beim Abschied von der genauen Beschäftigung mit religiösen Kategorien und Ritualen in der Gefahr steht, dass sich die Gewalt zwischen Menschen in sozialen Mechanismen Bahn bricht, die „von der Schrift schon in alter Zeit offen gelegt und durchbrochen wurde(n)“. Haben nicht allein die Hexenverfolgungen gezeigt, dass auch in dezidiert christlichen Gesellschaften die „alten Dämonen“ archaischer Bräuche immer wieder die Zerbrechlichkeit zivilisatorischer Errungenschaften aufzeigen können?