Die Aktualität von Gotthold Ephraim Lessings „Ringparabel“Wahrheit und Bewährung

Angesichts der Diskussionen über das Thema Religion und Gewalt ist der Dialog der drei sogenannten „abrahamitischen“ Religionen wichtiger geworden. Deshalb ist auch Lessings „Nathan“ und speziell die Ringparabel mit ihrer Vision vom fruchtbaren Nebeneinander der Religionen wieder im Gespräch. Der entscheidende Anstoß dieser Erzählung mit ihrer großen Wirkungsgeschichte besteht darin, die Konkurrenz zwischen den Wahrheitsansprüchen der monotheistischen Religionen ernst zu nehmen – und sie dadurch auch ein Stück weit zu relativieren.

Vor grauen Jahren lebt’ ein Mann in Osten, der einen Ring von unschätzbarem Wert aus lieber Hand besaß“ – so lautet der erste Satz eines der berühmtesten Texte in der deutschen Literatur des 18. Jahrhunderts. Gotthold Ephraim Lessing (1729-1781) legt in seinem 1779 veröffentlichten Drama „Nathan der Weise“ dem Titelhelden die „Ringparabel“ in den Mund und formuliert damit die Quintessenz seines in Jerusalem zur Zeit der Kreuzzüge spielenden Stücks, in dem gleichermaßen Muslime, Juden und Christen auftreten. Zur Zeit Lessings wurde im christlichen, vor allem im protestantischen Deutschland heftig um Orthodoxie und Aufklärung gestritten; die jüdische Minderheit war nur geduldet und hatte ihre rechtliche Emanzipation noch vor sich. Muslime wiederum kannte man in Deutschland seinerzeit kaum aus eigener Anschauung, sondern höchstens aus Erzählungen.

Inzwischen haben sich die religiösen Koordinaten hierzulande erheblich verschoben. Der Islam ist in Deutschland durch Einwanderung zur größten Religionsgemeinschaft nach den christlichen Kirchen geworden, das Judentum ist nach dem Holocaust wieder präsent. Das Christentum ist immer noch die gesellschaftlich und kulturell dominierende Religion, wenn auch starken Erosionsprozessen ausgesetzt. Das Thema Religion und Gewalt drängt sich massiv auf die Tagesordnung, vor allem unter dem Eindruck des islamistischen Terrors, dessen Ausläufer auch Europa erreicht haben. Gleichzeitig wird von verschiedensten Seiten angemahnt, wie wichtig in dieser Situation ein Dialog der Religionen, gerade auch der drei sogenannten „abrahamitischen“ sei. Es liegt nahe, sich in diesem Zusammenhang an Lessings „Nathan“ und speziell an die Ringparabel mit ihrer Vision vom fruchtbaren Nebeneinander der Religionen zu erinnern.

Die Katholisch-Theologische Fakultät der Universität Wien veranstaltete jetzt ein entsprechendes Symposion, als Beitrag zur 650-Jahr-Feier der Wiener Universität, der ältesten im heutigen deutschen Sprachraum. Am 9. und 10. April trafen sich Experten verschiedener Disziplinen (darunter auch ein jüdischer und ein muslimischer) im prächtigen, Ende des 19. Jahrhunderts als Teil des Wiener Ringstraßen-Ensembles erbauten Hauptgebäude der Universität, um in einem kleinen Kreis von Diskutanten und Zuhörern Vorgeschichte und Kontext von Lessings Ringparabel auszuleuchten und nach heutigen Perspektiven für das Selbstverständnis der Religionen und ihr Verhältnis zueinander zu fragen.

Lessing hat sich bekanntlich die Ringparabel nicht selber ausgedacht; er stützt sich für die Erzählung vom „Mann in Osten“ auf einen entsprechenden Text in Giovanni Boccaccios „Decamerone“ von 1348, der wiederum diverse Vorbilder hatte. Der Hamburger Romanist Marc Föcking dröselte die Tradition der Ringerzählung beim Wiener Symposion sorgsam auf und unterschied zwei Varianten: während in der einen der Vorrang des Christentums und seines „wahren“ Rings affirmiert wird, herrscht in der anderen Skepsis gegenüber den konkurrierenden religiösen Wahrheitsansprüchen, wird die theologische Frage nach der Wahrheit suspendiert. Boccaccio habe die Tradition der Ringerzählungen gekannt. Ihm gehe es in seiner Version nicht primär um die Religion; deren Wahrheit diene ihm vielmehr als Spielmaterial für das Gespräch. In Ausgaben des „Decamerone“ im konfessionalistischen 16. Jahrhundert hat man dann, so eine aufschlussreiche Nebenbemerkung von Föcking, bezeichnenderweise die Ringerzählung gestrichen.

Der Trierer Fundamentaltheologe Walter Euler ließ drei herausragende Belege für mittelalterliche Religionsgespräche Revue passieren, den „Dialog zwischen einem Philosophen, einem Juden und einem Christen“ des „enfant terrible“ Petrus Abaelard, die Schrift „Der Heide und die drei Weisen“ des mallorquinischen Laientheologen und Islamkenners Raimundus Lullus, und das Werk „De pace fidei“, das Nikolaus von Kues im Jahr der osmanischen Eroberung von Konstantinopel 1453 vorlegte. Es handelt sich dabei um höchstens indirekte Vorläufer der „Ringparabel“, da keine der drei mittelalterlichen Schriften bei Lessing eine Rolle spielt. Bei Lullus entscheidet sich der Heide für eine der drei Religionen Judentum, Christentum und Islam, wobei offen bleibt, für welche. Allerdings stehe für Lullus die Überlegenheit des Christentums fest. Dem Cusaner, der die Formel von der „una religio in rituum varietate“ („Eine Religion in der Unterschiedlichkeit der Riten“) geprägt hat, bescheinigte Euler ein positives Bild des Islam und insgesamt ein inklusives Wahrheitsverständnis, das in gewisser Weise Pluralität anerkennen könne.

Das Jahrhundert Lessings, also die Zeit der Aufklärung, wurde beim Wiener Symposion durch zwei recht unterschiedliche Exponenten ins Spiel gebracht: auf der einen Seite der französische Literat, Philosoph und Religionskritiker Voltaire, auf der anderen Seite der Lessing-Freund Moses Mendelssohn, führender Repräsentant einer jüdischen Aufklärung und Zentralgestalt des damaligen Berliner Judentums.

Unter dem Titel: „Moses war nicht Nathan. Die Ringparabel und Mendelssohns Kritik am Christentum“ ließ der Philosoph und Judaist Christoph Schulte, der am Institut für Jüdische Studien und Religionswissenschaft der Universität Potsdam lehrt, vor allem die außergewöhnliche Gestalt des Moses Mendelssohn lebendig werden. Mendelssohn, der Zeit seines Lebens Jude blieb, sei gleichzeitig ein genauer Kenner der zeitgenössischen christlichen Theologie gewesen. Er habe das Christentum, vor allem die Trinitätslehre, die Lehre von der Inkarnation und vom stellvertretenden Sühnetod Christi kritisiert und habe sich massiv gegen Ausschließlichkeitsansprüche einer Religion gewandt: Einen solchen Anspruch betrachtete er gerade als Kriterium für die Falschheit einer Religion.

„Le fanatisme ou Mahomet“ – diesen plakativen Titel gab Voltaire (1694-1778) einem seiner im Orient angesiedelten Stücke, das die Gründergestalt des Islam als fanatisierten Hochstapler darstellt und dabei alle religionskritischen Register zieht. Der Romanist Reinhold Grimm (Jena) analysierte virtuos die „orientalischen Umwege“ Voltaires: Seit Montesquieus berühmten „Lettres Persanes“ diente in der französischen Aufklärung der Orient und damit der Islam als Folie für das in der Auseinandersetzung um die Religion eigentlich gemeinte Christentum, vor allem die ins Feudalsystem des „Ancien régime“ integrierte katholische Kirche Frankreichs. Voltaire inszenierte seinen „Mahomet“ als Verteidigung des Christentums (er widmete das Stück sogar dem damaligen Papst Benedikt XIV., der diese Widmung lobend registrierte), kritisierte aber letztlich jede positive Religion, so Grimm, und sah Humanität und Religion als Gegensätze.

Auch Lessing beschritt im „Nathan“ mitsamt der Ringparabel eine Art von „orientalischem Umweg“, allerdings mit deutlichen Unterschieden zu Voltaire, wie Grimm verdeutlichte. Zum einen habe Lessing das Judentum als dritten Partner neben Christentum und Islam eingeführt. Außerdem sei es sein Anliegen gewesen, die Ziele der Aufklärung mit Hilfe der positiven Religionen zu erreichen. Lessing habe das Gute an der Religion entdecken wollen und für eine Suspendierung der Wahrheitsfrage zugunsten des gelebten Ethos plädiert (in den Worten des Richters in der Ringparabel: „Es eifre jeder seiner unbestochnen von Vorurteilen freien Liebe nach. Es strebe von euch jeder um die Wette, die Kraft des Steins in seinem Ring’ an Tag zu legen!“). Auch der Münchner Germanist Friedrich Vollhardt stellte in seinem Wiener Vortrag („Die Ringparabel in Lessings ‚Nathan der Weise‘: Aktualität – Historizität – Kontiguität“) die Präferenz des deutschen Aufklärers für die positive Religion als Überlieferung heraus: Lessing sei es damit um eine „höhere Aufklärung“ zu tun gewesen.

Der Tübinger Theologe Karl-Josef Kuschel, für einen produktiven Dialog des Christentums mit der Kultur, vor allem auch der Literatur einerseits und mit den Religionen andererseits hoch engagiert, hat schon 1988 eine Studie zu Lessing und der Herausforderung des Islam veröffentlicht („Vom Streit zum Wettstreit der Religionen“) und das Thema vor wenigen Jahren wieder aufgegriffen („Im Ringen um den wahren Ring. Lessings ‚Nathan der Weise‘ – eine Herausforderung der Religionen“, Ostfildern, 2011). Bei dem Wiener Symposion widmete er sich der „strategischen Aufwertung“ des Islam in Lessings „Nathan“ und machte diese in drei Varianten namhaft: anhand der muslimischen Figuren in dem „dramatischen Gedicht“, also Sultan Saladin, dem Nathan die Ringparabel erzählt, und dessen Schwester Sittah, anhand der in dem Stück zentralen „Entdeckung der Familie“ (der christliche Tempelherr und Nathans Tochter Recha erweisen sich als Geschwister und gleichzeitig als die Kinder von Saladins Bruder) und schließlich anhand der Pointe der Ringparabel.

Drei Problemanzeigen zur Aktualität der Ringparabel

Das Symposion der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Wien zu Lessings genialer Gleichniserzählung beinhaltete einen öffentlichen Festvortrag von Jan Assmann. Der inzwischen 76-jährige Heidelberger Ägyptologe, Religions- und Kulturwissenschaftler hat vor Jahren mit seiner These von der „mosaischen Unterscheidung“ eine Grundsatzdiskussion über den Monotheismus und seine umstrittene Nähe zur Gewalt ausgelöst. Vor kurzem erschien sein Werk „Exodus. Die Revolution der Alten Welt“ (München, 2015), das mit anderen Akzenten wiederum nach den Ursprüngen des Monotheismus fragt, in einer Auslegung des alttestamentlichen Buchs, das vom Auszug des Volkes Israel aus Ägypten handelt. Assmann bezog sich darauf auch in seinem Wiener Vortrag: Die Offenbarung, von der das Buch Exodus erzähle, sei zum einen ohne Parallele und Vorläufer in den anderen zeitgenössischen Religionen und zum anderen bestimmend für spätere Religionen wie Christentum und Islam.

Seine dem entsprechende These zur Ringparabel: Der entscheidende Beitrag Lessings sei das Motiv der Kraft des Rings, seinen Träger bei Gott und Menschen angenehm zu machen; hier liege die ganze Pointe von Lessings humanistischer Umdeutung der Tradition. Assmann sprach in diesem Zusammenhang von einer „performativen Wendung“, die die Wahrheit der Religion der Ordnung des Gegebenen entziehe und in die Ordnung der herzustellenden Wirklichkeit verweise. Schon die biblische Religion überhaupt vollziehe diese Wendung ins Performative. Der Auszug aus Ägypten in den Bund mit Gott und ins Gelobte Land komme dem Auszug aus der Welt des Gegebenen in die Welt des Aufgegebenen, Verheißenen, im Tun zu Verwirklichenden gleich. Für Assmann ist eine performative Theologie eine des „Als Ob“; auf die Ringparabel bezogen: „Es glaube jeder seinen Ring den echten. Der echte Ring ist nicht gegeben, er erweist sich.“ Seinen Vortrag ließ er allerdings nicht direkt mit Lessing enden, sondern mit einem fast schon hymnischen Lob der abendländischen Musik, die in ihren Höhepunkten theophane Wirkungen erzielt habe und am meisten dazu beitrage, dass etwas vor Gott und den Menschen angenehm werde.

Das war aber nicht der Ausklang der Tagung. Den bildeten vielmehr drei Problemanzeigen zur Aktualität der Ringparabel aus jüdischer, muslimischer und katholisch-theologischer Sicht, wobei der jüdische Beitrag (Micha Brumlik) zur eigentlichen Fragestellung nicht sehr viel austrug. Es blieb bei Überlegungen zu Lessings Schrift „Die Erziehung des Menschengeschlechts“ und ihrem Verhältnis zum „Nathan“ beziehungsweise zur Rolle von Judentum und Islam in der deutschen Tradition der Geschichtsphilosophie nach Lessing.

Demgegenüber führte der Vortrag des aus Afghanistan stammenden muslimischen Philosophen Ahmad Milad Karimi (er ist vor einigen Jahren auch als Übersetzer des Korans hervorgetreten) durchaus in die aktuelle Diskussionslage. Karimi startete nämlich mit der ihm häufig gestellten Frage, wie man denn angesichts von so vielen Gräueltaten im Namen seiner Religion Muslim sein könne und erwähnte auch die umstrittene Anmerkung von Benedikt XVI. in seiner „Regensburger Rede“ von 2006, was denn Muhammad Neues gebracht habe. Er replizierte unter anderem mit der Feststellung, die Muslime bräuchten Christen, Juden und Atheisten, um sich selbst zu verstehen. Es sei ein Problem, dass es im Islam bislang keine Reform gegeben habe; im Fall von Auslegungskonflikten schließe man sich im Islam einer anderen theologischen beziehungsweise rechtlichen Schulrichtung an.

Für die katholische Kirche bilden die einschlägigen Dokumente des Zweiten Vatikanischen Konzils den offiziellen Rahmen für ihr Verhältnis zum Judentum wie zum Islam und zur gesamten Welt der nichtchristlichen Religionen. Dabei sind diese Weichenstellungen und ihre Konsequenzen nach wie vor strittig. Der Wiener Dogmatiker Jan–Heiner Tück zitierte beim Symposion Franz Schmidberger, den ehemaligen Generaloberen der Piusbruderschaft in Deutschland, der das von Papst Franziskus angeregte Friedenstreffen zwischen dem israelischen Staatspräsidenten und dem Palästinenserpräsidenten von Pfingsten 2014 so kommentierte: „Handelt der Papst gemäß den liberalen Ideen der Aufklärung und der Ringparabel Lessings, dann führt Gott seine Kirche nicht nur nicht aus der Krise heraus, sondern züchtigt die Völker durch Krieg, Aufruhr, Terror, Unruhen und Katastrophen.“

Tück stellte ausdrücklich die Frage, ob Lessings Ringparabel in Rom, also bei Papst Franziskus, angekommen sei und skizzierte in diesem Zusammenhang in sechs Punkten das „Provokationspotenzial“ von dessen theologiekritischen Schriften, etwa: Lessing sei bereit, die christliche Religion im Licht der anderen Religionen selbstkritisch zu prüfen und sehe die prekäre historische Legitimitätsgrundlage der geschichtlichen Offenbarungsreligionen. Die Antwort des Wiener Dogmatikers fiel differenziert aus. Der jetzige Papst sei einerseits mit Lessing dafür, eingefleischte Vorurteile und negative Stereotypen über andere Religionen entschieden abzubauen und auch dafür, Juden und Muslime in ihrem Selbstverständnis ernst zu nehmen und ihnen auf gleicher Augenhöhe zu begegnen. Er wolle auch die Schatten der christlichen Schuldgeschichte selbstkritisch aufarbeiten und mit den anderen Religionen Allianzen für Frieden und Gerechtigkeit in der globalen Welt bilden.

Andererseits glaube Franziskus anders als Lessing nicht, dass der wahre Ring verloren gegangen sei und das Christentum so tun müsste, als ob es den wahren Ring besäße. Er verstehe Judentum und Christentum nicht wie Lessing als vorläufige Stadien im Prozess der „Erziehung des Menschengeschlechts“. Vielmehr sei die geschichtliche Offenbarung von bleibender Gültigkeit. Es bleibt also, so die theologische Quintessenz des Wiener Symposions, die Konkurrenz zwischen den Wahrheitsansprüchen der monotheistischen Religionen, aber auch die Herausforderung, diese Ansprüche in ihrer „Performativität“ ernst zu nehmen und sie dadurch ein Stück weit zu relativieren. Hier liegt nach wie vor der entscheidende Anstoß, der aus Lessings Parabel von den Ringen und dem einen Ring erwächst. 

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