In den Debatten um Formen des radikalen Islam, vor allem seit den Angriffen auf das World Trade Center am 11. September 2001, spielt das Thema der Selbstmordattentate in den öffentlichen Debatten eine besondere Rolle. Nach dem Selbstverständnis der Attentäter und ihrer muslimischen Verteidiger handelt es sich bei ihnen um Märtyrer, während die überwiegende Mehrheit der sunnitischen wie schiitischen Gelehrten diese Zuordnung ablehnt. Es erscheint daher geboten, den Begriff „Märtyrer“ aus der Perspektive der muslimischen Rechtsgelehrsamkeit und den verbreiteten Traditionen des Islam zu beleuchten.
Die Vielfalt des muslimischen Märtyrerbegriffs
Das arabische Wort für Märtyrer ist Schahîd (Plural schuhadâ´). Es wird im Koran an verschiedenen Stellen gebraucht und könnte in der Grundbedeutung mit „Zeuge“ wiedergegeben werden. Es hängt mit der gleichen Grundform wie Schahâda, der arabischen Bezeichnung für das muslimische Glaubensbekenntnis, zusammen.
Als Märtyrer werden in der muslimischen Überlieferung historisch zunächst die Anhänger des Propheten Muhammad bezeichnet, die sich ihm unmittelbar nach seinen ersten Auftritten in Mekka angeschlossen hatten und sich Verfolgungen und dem Tod durch die Gegner der neuen Religion ausgesetzt sahen und doch nicht vom Glauben abfielen. So heißt es in Koransure 4, 69: „Diejenigen, die Gott und dem Gesandten gehorchen, befinden sich mit denen, die Gott begnadet hat, von den Propheten, den Wahrhaftigen, den Zeugen (Schuhadâ´) und den Rechtschaffenden. Welch treffliche Gefährten sind sie!“ (Übersetzung, wie die folgenden von Theodor A. Khoury) Die muslimischen Gelehrten verstehen hier unter den Schuhadâ´ die Glaubenszeugen.
Dieser Schahîd-Begriff erweitert sich dann nach der Hijra, der Übersiedlung der muslimischen Gemeinde von Mekka nach Medina im Jahr 622 und dem Beginn der kriegerischen Auseinandersetzungen des Propheten Muhammad mit seinen mekkanischen Gegnern. Nun werden im Koran und in den Prophetentraditionen (Hadîth) verschiedene Aussagen zu den Schuhadâ´ getroffen. So heißt es in der Sure 3, 169 f: „Haltet diejenigen, die auf dem Wege Gottes getötet wurden, nicht für tot. Sie sind vielmehr bei ihrem Herrn, und sie werden versorgt und sie freuen sich über das, was Gott ihnen von seiner Huld zukommen lässt.“ Entscheidend ist dabei die Formulierung „auf dem Wege Gottes“ (arabisch: fî sabîli llah), womit der Jihad, der Glaubenskampf gemeint ist.
Man nennt die muslimischen Opfer im Jihad Schuhadâ´ al-ma´raka (Märtyrer des Schlachtfelds). Eine andere Bezeichnung ist auch „Märtyrer dieser Welt und des Jenseits“. In der Phase der militärischen Ausbreitung des islamischen Staates als politisches und rechtliches System steht in den historiographischen Darstellungen der Muslime und in den Debatten des entstehenden islamischen Rechts diese Gruppe der Märtyrer im Vordergrund.
Das wird an einer Reihe von Ritualen deutlich. Bei der Bestattung dieser Märtyrer wird auf die sonst übliche rituelle Waschung des Leichnams verzichtet. Allerdings gibt es hier unterschiedliche Positionen. In der islamischen Frühzeit vollzogen die Krieger eine rituelle Waschung, bevor sie sich zum Kampf aufmachten. Im Fall eines gewissen Hanzala ibn Abî l-´Amîr, der im Zustand der rituellen Unreinheit zum Kampf gerufen wurde und fiel, wurde erklärt, dass die Engel ihn gewaschen hätten. Der Leichnam wird auch nicht in die ansonsten vorgeschriebenen Leichentücher eingehüllt, sondern wird in den Kleidern, in denen sie zu Tode kamen, beerdigt. Über die Frage, ob am Grab der Märtyrer die üblichen Totengebete gesprochen werden oder nicht, herrscht Uneinigkeit unter der muslimischen Rechtsgelehrten. Die Mehrheit befürwortet dieses Ritual. Eine Minderheit ist der Meinung, dass darauf verzichten werden sollte, weil nach den Worten des Propheten die Märtyrer ja nicht tot seien.
Die edelste Art, das Leben zu verlieren
Die muslimischen historischen Überlieferungen berichten ausführlich über die „Märtyrer des Schlachtfelds“. Die Leser erfahren deren Namen, die persönlichen Verhältnisse und die Umstände ihres Todes. So wird berichtet, welche Mitglieder der engeren Familie des Propheten als Märtyrer fielen, welche Gläubigen zu Lebzeiten des Propheten im Kampf starben und wie der Prophet auf diesen Verlust reagierte.
Die Zahl dieser Märtyrer ist relativ begrenzt. Größer ist die Zahl der Gefallenen im Rahmen der Eroberungskriege nach dem Tod des Propheten im Jahr 632. Mit der sich nun entwickelnden islamischen Dogmatik und Rechtsgelehrsamkeit entstehen nun Kataloge über die Frage, wer als Schahîd betrachtet werden darf. So stellen sich die Gelehrten die Frage, ob ein Muslim als Märtyrer anzusehen ist, wenn er auf dem Weg zum Schlachtfeld durch einen Unfall und nicht durch Einwirkung des Feindes zu Tode kommt.
Wie verhält es sich mit einem Kämpfer, der von einem muslimischen Häretiker getötet wird? Es entwickelt sich auch eine gewisse Wertigkeit des Todes im Kampf. So meinen die Gelehrten, dass jemand, der im Kampf auf dem Meer zu Tode kommt, das doppelte Verdienst gegenüber einem Kämpfer, der zu Lande fällt, erwirbt.
Durch die Jahrhunderte hat der Tod im Glaubenskampf die damit verbundenen Vorstellungen der Muslime fasziniert. Er wird als die edelste Art, das Leben zu verlieren, angesehen. Der Sterbende kann aus muslimischer Sicht der Zustimmung Gottes versichert sein und weiß, dass er Gottes Lohn erhält. Daher berichten schon die mittelalterlichen sunnitischen Quellen, dass Eltern und Verwandte eines Märtyrers auf dem Schlachtfeld kein Zeichen der Trauer über den Verlust äußerten, sondern sich vielmehr darüber freuten.
Die Faszination des Martyriums hatte aus der Sicht der muslimischen Gelehrtenschaft aber durchaus problematische Aspekte. Sie sahen das Risiko, dass sich Kämpfer ohne Aussicht auf militärischen Erfolg in den Kampf stürzten, allein weil sie den Tod als Märtyrer suchten. Dies wurde als sinnlos angesehen, weil es schlussendlich auf eine Schwächung der muslimischen Kampfkraft hinauslief.
Vor allem seit dem vergleichsweise starken Nachlassen der militärischen Auseinandersetzungen mit den nicht-muslimischen Heeren seit dem 9. Jahrhundert reduzierte sich die Zahl der „Märtyrer des Schlachtfelds“, und Menschen, die aus anderen Gründen zu Tode kamen, wurden ebenfalls als Märtyrer anerkannt. Dabei konnten sich die muslimischen Gelehrten wiederum auf Aussagen des Propheten Muhammad beziehen. Von ihm wird überliefert: „Der Prophet sagte: Die Märtyrer sind fünf an der Zahl: Der durch die Pest umkam, der durch Bauchleiden starb, der ertrunken ist, der unter eine fallende Mauer geriet und der Märtyrer auf dem Wege Gottes.“ Diese Gruppe von Märtyrern werden als „Märtyrer der jenseitigen Welt“ (Schuhadâ´ al-akhîra) bezeichnet. Zu ihnen gehören die schon genannten frühen Märtyrer aus Mekka, die wegen ihres Glaubens getötet wurden.
Das islamische Recht zählt zu ihnen aber auch vorislamische religiöse Persönlichkeiten wie Johannes der Täufer. Zur Gruppe der „Märtyrer der jenseitigen Welt“ gehören ferner Menschen, die wegen ihres Festhaltens an ihren religiösen Überzeugungen durch staatliche Mächte oder Intrigen getötet wurden. Hier ist vor allem auf den muslimischen Mystiker al-Hallâj (858 bis 922) hinzuweisen. Dieser wurde wegen seiner überbordenden Gottesliebe in Bagdad zum Ketzer erklärt und gekreuzigt. Für die muslimischen Mystiker, die Sufis, war und ist er aber ein hervorstechendes Vorbild.
Eine weitere Gruppe der „Märtyrer der jenseitigen Welt“ sind die Personen, die durch besonders schwere Krankheiten und Unfälle zu Tode kommen. Dazu gehören die, deren Tod sich durch Umstände ereignete, wie sie in dem oben zitierten Prophetenausspruch genannt werden, aber auch Frauen, die im Kindbett sterben. Eine weitere Gruppe von Märtyrern sind die „Märtyrer der Liebe.“ Zu ihnen gehören die Menschen, die ihre Liebe verbergen und keusch bleiben und die, die ihre Heimat verlassen, um ihre Religion bewahren zu können, und im Exil sterben.
Parallelen zu den christlichen Vorstellungen des Fegefeuers
Damit ist die Eingruppierung der Märtyrer aber noch nicht abgeschlossen. Zu ihnen werden auch die Muslime gezählt, die eines natürlichen Todes sterben, während sie eine der muslimischen Glaubenspflichten verrichten, also während des Gebets oder auf der Pilgerfahrt. Zu dieser Gruppe gehören sogar die, die sterben, während sie sich im „großen Jihad“ gegen die eigenen Unzulänglichkeiten befinden.
Der Lohn für das Martyrium lässt sich aus muslimischer Sicht zweiteilen. Zunächst entgehen die Märtyrer den „Schrecken des Grabes.“ Dabei spielt die Überzeugung eine Rolle, dass die Toten im Grab noch durchaus über eine besondere Form von Bewusstsein verfügen. Nach muslimischer Tradition erhalten die Verstorbenen in ihren Gräbern Besuch von den beiden Todesengeln Munkar und Nakîr, die die Toten nach ihrer Religion und nach ihrem Propheten fragen. Diese Begegnung wird als so erschreckend beschrieben, dass es auch den Frömmsten unter den verstorbenen Muslimen die Sprache verschlägt und sie diese einfachen Fragen nur mit äußerster Mühe beantworten können.
Sinnliche und theologische Aspekte der Paradiesvorstellungen
Dieser Erfahrung folgen dann die eigentlichen Schrecken des Grabes, bei denen der Tote im Grab bis zur Auferstehung auf verschiedene, durchaus als körperlich beschriebene Folterungen gequält wird. Form, Stärke und Dauer dieser Qualen hängen von den Versäumnissen und Vergehen der Toten gegen die Gebote und Verbote Gottes ab. Der Eindruck von Parallelen zu den christlichen Vorstellungen des Fegefeuers ist naheliegend. All diesen Schrecken entgehen die Märtyrer, weil sie direkt nach dem Tod in das Paradies gelangen.
Die muslimischen Paradiesvorstellungen sind sehr viel konkreter und lebhafter als zum Beispiel die christlichen. Gemeinsam ist beiden Paradiesen, dass dessen Bewohnern vor allem Unheil sicher sind. Der Koran sagt dazu in Sure 15,50: „Darin erfasst sie kein Unheil und sie werden daraus nicht vertrieben.“ Zentral ist bei den Paradiesbeschreibungen die Vorstellung von einem Garten oder einer Kombination von mehreren Gärten, in denen Pflanzen aller Art, vor allem Fruchtbäume, wachsen und in denen sich Flüsse mit unterschiedlichen Flüssigkeiten befinden. Es gibt einen Überfluss von Früchten und anderen Nahrungsmitteln wie Geflügel.
Besonders ausführlich ist die Beschreibung in Sure 76,5–22. Darin heißt es unter anderem: „Auf durchwobenen Betten liegen sie einander gegenüber. Unter ihnen machen ewig junge Knaben die Runde mit Humpen und Krügen und einem Becher aus einem Quell, von dem sie weder Kopfschmerzen bekommen, noch sich berauschen, und mit Früchten von dem, was sie sich auswählen, und Fleisch von Geflügel von dem, was sie begehren. Und darin sind großäugige Huri, gleich wohlverwahrten Perlen. Dies als das, was sie zu tun pflegten. Sie hören darin keine unbedachte Rede, sondern nur das Wort: Friede, Friede!“
Ferner ist dann von Zizyphusbäumen ohne Dornen die Rede wie auch von „übereinander gereihten Bananen und ausgestrecktem Schatten.“ Vor allem wird immer wieder von reichlichem Wasser berichtet, das nicht faulig wird und von gefiltertem Honig. In den später entstandenen Prophetentraditionen wird das Paradies noch lebhafter beschrieben. Danach wird dort ewiger Frühling herrschen. Die Häuser sollen aus Gold und Silber, ferner aus verschiedenen Edelsteinen bestehen.
Der Paradiesstrom Kauthar, von dem in Sure 108,1 die Rede ist, hat einen Duft feiner als Moschus. Das ganze Paradies ist erfüllt von der wunderbarsten Musik, die von den Engeln, den Seligen, aber auch von Vögeln und anderen Geschöpfen des Paradieses gemacht wird. Die schönste Melodie aber ist die Stimme Gottes, der die Seligen einlädt, am freitäglichen Gebet nahe dem Throne Gottes teilzunehmen.
Prophetentraditionen beschrieben jedoch nicht nur die sensualistischen Aspekte des Paradieses, sondern auch eher theologische: „Gott wandte sich an die Bewohner des Paradieses, indem er sagte: ‚Leute des Paradieses!‘ Sie antworteten: ‚Wir stehen Dir ganz zur Verfügung, unser Herr.‘ Gott fragte: ‚Seid Ihr zufrieden?‘ Sie antworteten: ‚Wie können wir nicht zufrieden sein, da Du uns doch alles gegeben hast, was Du keiner anderen Deiner Kreaturen gegeben hast.‘ Gott antwortete: ‚Ich werde Euch etwas noch Hervorragenderes geben als das.‘ Da riefen sie: ‚Herr, was kann denn noch hervorragender sein?‘ Er antwortete: ‚Ich lasse meine Zufriedenheit (arabisch: Ridwân) auf Euch herabkommen und ich werde mich nie mehr unzufrieden mit Euch zeigen.‘“
In den Kommentaren zum Koran und den Prophetentraditionen ist dann ausführlich von den Paradiesjungfrauen die Rede. Die Mehrzahl der Offenbarungen zu diesem Thema stammt aus der mekkanischen Periode, in der Beschreibungen der Freuden des Paradieses und der Schrecken der Hölle für die Jenseitsvorstellungen der Mekkaner etwas völlig Neues waren. Entsprechend heißt es im Koran, dass der Umgang mit den Paradiesjungfrauen hundert Mal angenehmer ist als jedes irdische Vergnügen. Aber das Ansehen der gläubigen Frauen, die wegen ihrer guten Taten ins Paradies gekommen sind, ist bei Gott 7000 Mal größer als das der Paradiesjungfrauen.
Das arabische Wort Hûrî für die Paradiesjungfrauen (Singular: Hûriyya) hängt mit dem Farbkontrast zwischen weiß und schwarz zusammen, wie er bei Iris und Pupille vorkommen kann. Er wird in orientalischen Gesellschaften als Zeichen großer Schönheit betrachtet. Der Koran beschreibt sie auch als makellos, unberührt oder rein. Wie bei vielen anderen Themen hat in der Folge die muslimische Tradition diese Beschreibungen erweitert und ausgeschmückt. Auch die Vorstellung, dass den Märtyrern 72 dieser Paradiesjungfrauen zur Verfügung stehen, ist in diesem populären Zusammenhang entstanden.
Fürbitten der Märtyrer
Angesichts der Furcht, die viele Muslime stets mit den Schrecken des Grabes befallen hat, spielt aber eine andere Frage im Zusammenhang mit dem muslimischen Märtyrerbild eine größere Rolle als die lebhaften Paradiesbeschreibungen samt den Paradiesjungfrauen. Nach den muslimischen Traditionen können die Märtyrerinnen und Märtyrer bei Gott darum bitten, dass 70 ihrer Verwandten in das Paradies gelangen. Und Gott wird ihnen diesen Wunsch erfüllen. Dabei können sie sich auf den Propheten berufen, von dem der Ausspruch überliefert ist: „Der Märtyrer wird Fürsprache für 70 von den Leuten seines Hauses einlegen dürfen.“ Bei der Bedeutung, die die Großfamilie in nahöstlichen Gesellschaften von jeher hatte und immer noch hat, mag dieser Aspekt des Martyriums eine größere Bedeutung haben als die zahlreichen Ausschmückungen des Lebens der Seligen im Paradies.
Die Unterscheidung zwischen Selbstmord und Martyrium
Ein besonderes Problem für die muslimischen Gelehrten stellte von Anfang an das Thema der Suche nach dem Martyrium (arabisch: Talab al-Schahâda) dar. Die Trennung zwischen Selbstmord und Martyrium war nicht immer klar zu ziehen. Selbstmord wird vom islamischen Recht als eine der größten Sünden bezeichnet. Andererseits finden sich in den muslimischen Berichten über die Frühzeit des Islam und die Kämpfe gegen die Mekkaner etliche Beispiele für Glaubenskämpfer, die sich ohne Rücksicht auf ihr Leben in die Schlacht werfen. Dieses Verhalten wird nicht als Selbstmord betrachtet.
Je nach den politischen Umständen im Verlauf der islamischen Geschichte neigten die Rechtsgelehrten zu einer kritischeren Haltung gegenüber dem Talab al-Schahâda oder hielten die Suche nach dem Martyrium für eher akzeptabel. Kennzeichnend für die aktuelle Situation ist ein Gutachten (Fatwa) zu dieser Frage durch den einflussreichen Rechtsgelehrten Yusuf al-Qaradâwî (geboren 1926). Er war von der Führung der palästinensischen Hamas-Organisation nach seiner Einschätzung zu Selbstmordattentaten gefragt worden. Er lehnte diese grundsätzlich ab. Allerdings machte er eine Ausnahme in den Fällen, in denen Gebiete des Islam durch fremde Mächte besetzt seien, also auch für die Situation in Israel/Palästina.
Die geschilderten muslimischen Vorstellungen von Martyrium und Märtyrern sind der sunnitischen Mehrheit und der schiitischen Minderheit gemeinsam. Aufgrund der besonderen schiitischen Religionsgeschichte spielt das Martyrium jedoch hier noch eine besondere Rolle. Das hängt mit dem Tod des Prophetenenkels Hussein in der „Schlacht von Kerbela“ im Jahr 680 zusammen.
Nach allgemeiner muslimischer Überzeugung war Hussein von den Bewohnern der Stadt Kufa, rund 180 Kilometer südlich von Bagdad, bei ihrem Aufstand gegen die omayyadische Herrschaft zur Hilfe gerufen worden. Der Prophetenenkel reiste in kleiner Begleitung in das Zweistromland. Ehe er nach Kufa gelangte, war der Aufstand aber zusammengebrochen. In einem Gefecht nahe dem heutigen Kerbela kamen Hussein und alle seine männlichen Begleiter ums Leben. Nach schiitischer Überzeugung war ihm dieses Schicksal von einem Engel vorhergesagt worden. Hussein aber wählte das Martyrium, um dadurch die Sünden den Menschen zu tilgen.
Aus diesem für die islamische Religionsgeschichte tragischen Ereignis entwickelte sich die von den Muslimen als Fitna (Heimsuchung) bezeichnete Spaltung der muslimischen Gemeinschaft in Sunniten und Schiiten. In der weiteren Geschichte der Schia hat es immer wieder große Persönlichkeiten gegeben, die ebenfalls als Märtyrer zu Tode kamen. Daraus hat sich der schiitische Märtyrerkult mit einer lebhaften Blutmystik entwickelt. An den Todestagen dieser Märtyrer, vor allem aber am Todestag Husseins, an Aschûrâ, dem 10. Muharram (erster Monat des islamischen Jahres), finden in den Gegenden, in denen eine schiitische Mehrheit lebt, zahlreiche Trauerfeierlichkeiten wie Flagellanten-Umzüge und Passionsspiele statt, bei denen der großen Toten gedacht wird.
Während bei den Vertretern der sunnitischen Gelehrsamkeit die Frage der Suche nach dem Martyrium lange Zeit keine besondere Rolle spielte, sahen sich die schiitischen Rechtsgelehrten angesichts des Märtyrerkults in ihrer Gemeinschaft vor dem Problem, dass sich Tendenzen entwickelten, dem Beispiel der großen schiitischen Märtyrer nachzufolgen.
Angesichts der in den ersten Jahrhunderten der islamischen recht kleinen Zahl der Anhänger der Schia sahen die Gelehrten die Gefahr, dass es durch eine Vielzahl von Märtyrern zu einer Schwächung der Gemeinschaft in ihrer Gesamtheit kommen könnte. Sie wandten sich daher gegen diese Tendenzen. Vielmehr empfahlen sie ihren Anhängern im Gegenteil, ihren Glauben zu verleugnen, wenn sie durch ein Bekenntnis in Todesgefahr gerieten und die Schiiten in ihrer Gesamtheit geschwächt würden. Dieses Verhalten wird als Taqiyya (Verbergen) bezeichnet. Die Taqiyya stellt bis heute einen der zentralen Konfliktpunkte zwischen Sunniten und Schiiten dar.
Bis weit ins 19. Jahrhundert hinein hat die Mehrheit der muslimischen Gelehrten den „großen Jihad“, also den inneren Kampf gegen die eigenen religiösen Fehler und Nachlässigkeiten als bedeutender im Vergleich zum „kleinen Jihad“, die militärische Auseinandersetzung mit den Feinden des Islam eingeschätzt. Damit war auch die Frage nach der Bedeutung des Martyriums auf dem Schlachtfeld von geringer Bedeutung. Sie stellt sich erst wieder in der Folge der Re-Islamisierungsbewegungen der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts.
Die seit dem zu beobachtenden Tendenzen zu gewaltförmigen Aktionen von Radikalen, vor allem in der Form von Selbstmordattentaten, denen bisher vor allem Muslime zum Opfer gefallen sind, haben wieder zu Debatten um die „Märtyrer des Schlachtfeldes“ geführt. Die weit überwiegende Mehrzahl der muslimischen Gelehrten lehnt diese Attentate strikt ab. Das bedeutet, dass die Attentäter von ihnen auch nicht als Märtyrer angesehen werden.
Dass diese Haltung nicht allgemein verbreitet wird, liegt daran, dass die Gelehrten ihre Position lange Zeit mit traditionellen Kommunikationsformen verbreitet haben. Erst seit etwa zehn Jahren nutzen etliche auch die aktuellen elektronischen Medien. Dass sie hier gegenüber den radikalen Islamisten noch technisch im Nachteil sind, ist der muslimischen Gelehrtenschaft durchaus bewusst. Die entsprechenden Modernisierungsbemühungen gehen jedoch immer noch so langsam vor sich, dass sie mit dem hohen Entwicklungstempo der IT-Industrie nicht schritthalten können. Dieses Defizit wird wohl noch einige Zeit bestehen bleiben.