LeitartikelEine stumme Ruferin

Die kirchliche Sexualmoral findet kaum noch Resonanz. Dabei wäre die Kernbotschaft notwendiger denn je. Es braucht eine selbstkritische Reflexion der eigenen Irrungen, um wieder Glaubwürdigkeit zu erlangen – auch für die Debatten um die sogenannte Homo-Ehe und die Gender-Theorien.

Eigentlich geht es um Sex. Der Passauer Bischof Stefan Oster hat das in einem Facebook-Kommentar festgestellt, es klang bei ihm so, als habe er eine große Entdeckung gemacht. Doch er hat Recht. Seit rund einem Jahr diskutiert die katholische Welt wieder verstärkt Fragen von Ehe und Familie. Themen sind der Umgang mit wiederverheirateten Geschiedenen und Homosexualität, Partnerschaft, Treue, Verantwortung. Und eben eigentlich „im Kern“, wie Oster schreibt, vor allem das Thema Sex. Unausgesprochen. Versteckt. Verschämt. Natürlich stehen hinter den unterschiedlichen Fragestellungen weitaus mehr Problemfelder, natürlich gibt es viele wichtige Beiträge und Erwägungen aus den unterschiedlichen Kontexten, doch ein Großteil der Debatten beschäftigt sich mit der Vernebelung des Kerns. So muss konstatiert werden: Es hat sich eine Sprache des Uneigentlichen breitgemacht in der kirchlichen Debatte, auf beiden Seiten der Frontlinie, die wesentlich dazu beiträgt, dass es zu einer innerkirchlichen Paralyse gekommen ist, und dass in der Öffentlichkeit weitgehendes Unverständnis bis vollständiges Weghören vorherrscht.

Vor aller Positionsbestimmung zeigt sich, dass die Kirche in einem Bereich, in dem sie jahrhundertelang prägend war, ihre Autorität – mindestens in der westlichen Welt, aber auch deutlich darüber hinaus – eingebüßt hat. Das ist nicht ganz neu, verschärft sich aber noch mal dramatisch. Was den intimsten Bereich der Moral angeht, fehlt der Kirche inzwischen die Sprachfähigkeit. Interessanterweise gilt dies sowohl für vermeintlich liberale Positionen als auch für konservativere Ansichten. Die Kirche hat sich da in sich selbst verheddert – bisweilen auch mit einer erschreckenden Selbstgenügsamkeit.

Sprache der Uneigentlichkeit soll heißen, dass zu oft um den heißen Brei herum geredet wird. Bischof Oster kommentiert in dem genannten Beitrag die Erklärung des Zentralkomitees der deutschen Katholiken (ZdK) zum Thema Segnung von homosexuellen Lebensgemeinschaften. Das ZdK plädiere für eine Segnung, weil auch in anderen Formen des gemeinschaftlichen Lebens Werte der Ehe gelebt würden. An diesem Werte-Begriff stört sich Oster. Denn es würden ja eben nicht nur Treue, Versöhnungsbereitschaft und gegenseitige Verbindlichkeit wertgeschätzt werden, dies alles gebe es auch in Freundschaften – sogar in Gangsterbanden könnten „Werte“ gelebt werden. Sondern vielmehr solle eine Partnerschaft „unter Einschluss sexueller Praxis“ gutgeheißen werden, erkennt Oster. Das aber verstoße gegen die kirchliche Lehre. „Der Glaube und die Schrift basieren nicht primär auf Werten, sondern auf Offenbarung“, so sagt es der Passauer Bischof. Das ZdK sei dabei, „sehr wesentliche Aspekte des biblischen Menschenbildes und des biblischen Offenbarungsverständnisses“ hinter sich zu lassen. Und das eben nur wegen der Sex-Frage?

Oster hat Recht mit der Feststellung, dass das ZdK sich eigentlich an der Sexualmoral stört. Natürlich will das ZdK mehrheitlich, und viele Katholiken wollen das auch, dass gleichgeschlechtliche Paare zusammenleben und Sex haben dürfen – ohne Verurteilung durch die Kirche. Natürlich ist die Forderung des Segnungsaktes für die „Verantwortungsgemeinschaft“ auch so etwas wie ein kirchenpolitischer Trojaner-Gaul, um nicht gleich mit offenem Visier die Änderung der Sexualmoral zu fordern. Bei Fragen des außerehelichen Geschlechtsverkehrs (Unzucht) oder der Scheidung (Ehebruch) ist es ähnlich. Doch diese verklausulierte und verdruckste Sprechweise in der Kirche gibt es eben auf beiden Seiten und an allen Ecken. Oster argumentiert, dass sich in den Ansichten der Kirche zu diesem Themenfeld seit 2000 Jahren nichts geändert habe. Warum man denn nun etwas ändern solle, fragt er. Das ist natürlich eine Vernebelung der Traditionsgenese. Als ob in der Kirchengeschichte die (praktizierte!) Sexualität schon immer und durchgängig, vor allem die weibliche Sexualität, als „wunderbare Gabe Gottes“ (Oster heute) angesehen worden wäre. Allein die Diskrepanz zwischen Augustinus und Thomas von Aquin illustriert schon eine derartig gewaltige Lernkurve, dass endlich Schluss sein muss damit, von einer ungebrochenen Kontinuität der 2000 Jahre zu reden. Auch dies ist eine Art der Verdunkelung des Zeugnisses, die zu einer Entleerung der Lehre beiträgt.

Es gibt eine Fixierung auf die Sexualität, die – so paradox das ist – durchaus dem Geheimnis der Sexualität – manche Sprechen sogar von der Heiligkeit der Sexualität – eben nicht gerecht wird, sie sogar ins Gegenteil verkehrt. Bei der Frage der Sakramentenzulassung für wiederverheiratete Geschiedene kommt dies etwa dann exemplarisch zum Vorschein, wenn für die sogenannte Josefs-Ehe geworben wird, etwa auch zum Wohl der Kinder, also für eine Partnerschaft, die auf Sexualität verzichtet. Allein das Fehlen des sexuellen Aktes adelt dann die neue Beziehung und lässt geradezu eine Trennung, eine zivile Scheidung, ein Verlassen des Partners als weniger tragisch erscheinen.

Wie soll eigentlich Jugendlichen ein verantwortlicher Umgang mit der „wunderbaren Gabe der Sexualität“ vermittelt werden, wenn die höchste Form der Verzicht auf dieselbe ist? Es ist nicht die Botschaft, aber durchaus die Sprache der Lehre, die in eine völlige Sackgasse geführt hat. Der Wiener Kardinal Christoph Schönborn hat einmal auf ein ähnliches Paradox hingewiesen. Bei jungen Menschen würde die Kirche sich mit aller Kraft darauf konzentrieren, den vorehelichen sexuellen Kontakt zu brandmarken, statt auf die keimenden Partnerschaften und Ehen zu setzen. Es wäre doch eine Riesenaufgabe, angesichts von „Youporn“ und „Sexting“ auf die Schönheit von Sexualität im geschützten Raum von verantworteten und dauerhaften Liebes- und Ehebeziehungen zu setzen und dafür zu werben. Die Kirche ist dazu nicht mehr fähig, sie ist mit ihrer eigenen Moral oft zu einer stummen Ruferin verkümmert, die sich bei Detailfragen von Verhütungsmethoden in der Ehe die Stimmbänder ruiniert hat.

Der Normenoptimismus der Kirche hat in der Geschichte immer wieder auch positiv gewirkt, derzeit ist er in manchen Bereichen erstarrt. Glücklicherweise sind viele Menschen klüger als christliche Kassandras meinen: Die Mehrheit wünscht sich noch immer, was die Kirche eigentlich lehrt. Die Sehnsucht nach Treue und Verlässlichkeit steigt bei Jugendlichen, keineswegs breitet sich ein hedonistisches Lebensgefühl geschwürartig aus, so wie es manche heraufbeschwören müssen, um ihrem ätzenden Kulturpessimismus die rechte Kulisse zu zimmern.

Es gibt nun eine neue Dramatik, die sich zum einen durch die Forderung nach der sogenannten Homo-Ehe – und in der Zuspitzung durch das mehrheitliche Votum der Iren dafür – ergibt. Zum anderen hat sich aus der Gleichstellungs- und Emanzipationsbewegung eine Denkrichtung entwickelt, die mit dem Begriff Gender oder Genderforschung beschrieben wird. Beide Entwicklungen führen zu sich potenzierenden ideologischen Hysterien in der Kirche.

Wie bei Ideologisierungen üblich, verstellen diese den Blick auf wirkliche Probleme. Kurz gesagt: Auch wer für die Homo-Ehe ist, müsste die Problematik sehen, dass in einer sich pluralisierenden und atomisierenden Gesellschaft familiäre Lebensformen mit Kindern zunehmend unter Druck geraten können. Nicht jede Pro-Ehe-Demo ist homophob. Er müsste akzeptieren, dass Ungleiches auch ungleiche Bezeichnungen braucht. Weitergabe des Lebens ist nichts Triviales. Zugleich müsste jemand, der die Homo-Ehe ablehnt, wahrnehmen, dass die Nicht-Diskriminierung von Homosexualität eben noch nicht lange „selbstverständlich“ ist, wie Kardinal Gerhard Ludwig Müller jüngst behauptete. Vielmehr erklärt sich der Ruf nach der Homo-Ehe vor allem aus der Diskriminierungsgeschichte, die bis in die Gegenwart reicht, gerade im katholischen Kernmilieu.

Die verfasste Kirche vernebelt und verdunkelt ihre Botschaft, wenn sie nicht stärker auf die eigene Lernerfahrung in Fragen von Sexualität und Partnerschaft verweist. Natürlich ist sie nicht unschuldig, wenn es um Homosexualität geht. Wer heute glaubhaft sprechen will, muss die eigenen Sünden und Verlogenheiten bekennen.

Ebenso wenig ist die Kirche unschuldig, wenn es um Frauen geht, gerade angesichts des gewandelten Selbstverständnisses von Frauen in Ehe und Familie. Die Kirche wird erst dann wieder glaubwürdig über Liebe, Partnerschaft und Sexualität sprechen können, wenn sie ernsthaft reflektiert, dass die menschheitsgeschichtliche Veränderung weg von patriarchalen Strukturen massiv auch Ehe und Familie, Sexualität und Liebe verändert hat und noch immer verändert. Vielleicht ist es zwar so, dass das Christentum und sein Stifter am Anfang mit der veränderten radikaleren Ehe- und Scheidungsvorstellung sogar die Grundlage für diese Emanzipations-Entwicklungen gelegt haben. Doch abgesehen von diesem vielleicht damals kühnen Akt bleiben eben die 2000 Jahre dazwischen, die zu reflektieren sind, um glaubwürdig zu sein beziehungsweise wieder zu werden. Dann kann es durchaus richtig sein, manche Auswüchse einer vermeintlichen „Genderideologie“ zu kritisieren. Dann ist es auch dringend angebracht, einem menschlichen Machbarkeitswahn hinsichtlich Schönheit, Geschlechtlichkeit und Sexualität entgegenzutreten. Aber das gelingt nur mit der menschlichen Demut, die sich der eigenen Irrtümer bewusst ist. Der Verweis auf göttliche Wahrheit hat zu oft zu menschlicher Hybris geführt, vor allem bei diesen Sex-Fragen.

Der Essener Bischof Franz-Josef Overbeck wurde 2010 einem breiteren Publikum bekannt durch eine Talkshow mit Anne Will, in der ihn der schwule Filmemacher Rosa von Praunheim provozierte. Overbeck konterte mit dem Satz „Homosexualität ist Sünde“. Er ist dafür viel gescholten worden, weil er damit noch strenger formuliert hatte, als es der Katechismus vorgibt, der nur ausgelebte Homosexualität als Sünde bezeichnet und die Herabwürdigung Homosexueller verurteilt. Wieder geht es „nur“ um Sex? Der Bischof hat daraufhin das Gespräch gesucht. „Wir alle, Befürworter oder Gegner, müssen lernen, über diese Themen nicht polarisierend zu diskutieren“, erklärte er jetzt in einem Interview der „taz“.

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