Kann der Friedensprozess die Polarisierung in Kolumbien entschärfen? Der gewaltsame Tod als Teil des Alltags

Kolumbien ist ein zerrissenes Land. Die Regierung hat 7,4 Millionen Menschen registriert, die seit 1985 Opfer mit Waffen ausgetragener Konflikte wurden. Seit drei Jahren führen nun deren Vertreter mit den „Revolutionären Streitkräften Kolumbiens“ Friedensgespräche, die international viel Aufmerksamkeit erfahren. Einen entscheidenden Part im Friedensprozess spielt die katholische Kirche.

Man schreibt das Jahr 1993: In dem kleinen Ort New Texas im kolumbianischen Urwald lässt sich eine mulitnationale Erdölfirma nieder. Als die Probebohrungen beginnen, konzentrieren sich dort die bewaffneten Auseinandersetzungen zwischen Guerilla und Militär beziehungsweise Polizei. Die Guerilla will eine weitere Präsenz der kapitalistischen Ausbeuter verhindern. 1993 möchte sich Kolumbien für die Fußballweltmeisterschaft in den USA qualifizieren. Das Spiel der Nationalmannschaft gegen Argentinien soll aus Buenos Aires im Fernsehen übertragen werden. Das ganze Land, auch Guerilleros und Soldaten, wird vor den Bildschirmen sitzen, aber in ganz New Texas gibt es nur einen Fernseher.

Nach Sergio Cabrera, der in seinem Film „Golpe de Estadio“ diese fiktive Geschichte erzählt, kommt es zu lokalen Friedensverhandlungen auf dem prekären Fußballplatz des Ortes, denn weder die Soldaten noch die Freischärler wollen das Spiel verpassen. Das Verhandlungssetting: Hinter jedem Tor steht die jeweilige Delegation von Militär beziehungsweise Guerilla. Mit seinem Moped fährt der Ortspfarrer von einem Ende zum anderen und überbringt die Botschaften. Es kommt gerade noch rechtzeitig vor Spielbeginn zum Waffenstillstand. Gemeinsam jubeln die Kämpfer vor der Mattscheibe und die kolumbianische Nationalmannschaft gewinnt mit 5:0 – und das ist historisch korrekt – gegen die bisher zu Hause unbesiegten blau-weiß-gestreiften Gegner. Nach 90 Minuten verabschiedet man sich herzlich. Die Kämpfe gehen weiter.

Man schreibt das Jahr 2015: In Kubas Hauptstadt Havanna führen seit Oktober 2012 Vertreter der Regierung von Präsident Juan Manuel Santos und der „Revolutionären Streitkräfte Kolumbiens“ (FARC) Friedensgespräche. Die 1964 entstandene FARC ist mit rund 9200 Kämpfern die größte Rebellenorganisation Lateinamerikas. In einer Welt, in der sich bewaffnet ausgetragene Konflikte zu vermehren und zu verschärfen scheinen, wecken die kolumbianischen Verhandlungen international Hoffnungen. So ernannte der deutsche Außenminister einen Sonderbeauftragten für den Friedensprozess in Kolumbien, um die Beiträge Deutschlands zu koordinieren und bündeln.

Die Gewalt reicht weit zurück

Für alle 47 Millionen Kolumbianerinnen und Kolumbianer gehören Waffengänge auf nationalem Territorium zum Alltag. Die Regierung dieses südamerikanischen Landes hat bis heute 7,4 Millionen Menschen registriert, die seit 1985 Opfer mit Waffen ausgetragener Konflikte wurden. Gleichwohl reicht die Gewalt viel weiter zurück. Die vierziger Jahre des 20. Jahrhunderts gelten als Schlüsselzeit. Damals kam es zu wirtschaftlichem Wachstum, Arbeiterschaft und Kleinbauern hofften davon zu profitieren. Im charismatischen Präsidentschaftskandidaten Jorge Eliécer Gaitán sahen sie den Mann, der dem Geltung verschafft. Doch am 9. April 1948 wurde Gaitán erschossen. Die Eliten des Landes waren bereit ihre Privilegien skrupellos zu verteidigen. Unmittelbar darauf brach der Bogotázo los, ein Aufstand der Hauptstädter, der sich über das ganze Land verbreitete und 300 000 Menschen das Leben kostete.

Die folgenden Jahre nennt man die Epoche der Gewalt „La Violencia“. Die beiden politischen Parteien, Konservative und Liberale, wurden zu Tätern. Ganze Orte hat man von den jeweils anderen „gesäubert“. Die dabei begangenen Morde bewirkten durch die öffentliche und rituelle Verstümmelung von Menschenkörpern Terror. Als Zeichen der Parteizugehörigkeit strich man seine Türen und Fenster blau, es ist die Farbe der konservativen Partei, andere im Rot der Liberalen. Die jeweils anderen wurden zu Nicht-Menschen erklärt und getötet oder vertrieben. Dörfer und Regionen wurden einförmig, in einem Land, dessen Markenzeichen seine geografische und kulturelle Vielfalt ist. Da die konservative Partei in ihrem Staatsverständnis, anders als die antiklerikal eingestellten Liberalen, der katholischen Kirche eine tragende Rolle zusprach, wurden die Gewalttaten nicht selten mit parteipolitisch gefärbten Hasspredigten von den Kanzeln befeuert.

Politische Entwicklungen beendeten in den fünfziger Jahren die Auseinandersetzung der Parteien. Prälat Germán Guzmán Campos, Priester der Diözese Ibagué, veröffentlichte 1962 mit dem Werk „La Violencia en Colombia“ die erste systematische Darstellung des Gewaltphänomens seines Landes. Der Untertitel lautet: „Studie eines sozialen Prozesses“. Dazu bereiste er Kolumbien, erhob Zahlen und führte Interviews mit Opfern und Tätern. Es entstand ein Katalog des Grauens und eine scharfe Analyse. Die Finanzierung der Gewalthandlungen, die Persönlichkeiten der Guerillaführer, der Zerfall der Institutionen, auch der Kirche, sowie die fehlende staatliche Präsenz im Land, die Rolle von Wortwahl, Musik, Symbolen und Riten, die sexuelle Dimension der Gewalt, sogar der Einsatz von Drogen sind Gegenstand der Darstellung. Sie ist differenziert nach Departements und entspricht der Vielgestaltigkeit der kolumbianischen Gesellschaft. Als Pfarrer in der Kleinstadt Libano wirkte Guzmán als Seelsorger in einem von der Violencia am schlimmsten betroffenen Landesteil, dem Tolima. Im Vorwort sah er sich bemüßigt, klarzustellen, dass er ein treuer Sohn seiner Kirche sei.

Die Eliten setzen ihre Interessen mit denen der Nation gleich

Doch Kolumbien kam nicht zur Ruhe. Obwohl die politischen Parteien in diesen Jahren für ein friedliches Miteinander Kriterien aushandelten und die Regierung eine Agrarreform zugunsten der Kleinbauern in die Wege leitete, flammte Gewalt in unterschiedlichen Regionen weiter auf. Zwar sank die Zahl der Getöteten, doch es entstanden neue Gewaltakteure. 1964 bildeten sich die bereits genannten kommunistischen Revolutionären Streitkräfte Kolumbiens FARC als Bauernguerilla. Im Pakt von Chicoral artikulierte sich 1972 der rechte Zusammenschluss der Großgrundbesitzer und brachte das Agrarreformgesetz zu Fall. Extensive Vieh- und Landwirtschaft auf großen Flächen ist seitdem als das Modell des Fortschritts staatlich sanktioniert. Gewaltsame Vertreibung von Kleinbauern werden zum Mittel der Wahl. Die Gier nach Land feuert das Blutvergießen an, dabei wird bevorzugt über die Rechte der Indigenen und Afrokolumbianer hinweggegangen. Die davon profitierenden Eliten setzen ihre Interessen mit denen der Nation gleich.

In diesen Jahren entstanden neben der FARC weitere Gewaltakteure: Der vom spanischen Priester Manuel Pérez lange Jahre geführten „Nationalen Befreiungsarmee“ (ELN) schloss sich in den sechziger Jahren Camilo Torres Restrepo für kurze Zeit an. Er war Soziologe und Priester der Erzdiözese Bogotá. Guerillagruppen wie die Befreiungsarmee des Volkes (EPL) und die Stadtguerilla „M19“ entstanden. Drogenkartelle, unter ihnen das Medellinkartell, geführt von Pablo Escobar, drehten ebenfalls an der Gewaltspirale. Großgrundbesitzer organisierten Privatarmeen gegen Übergriffe der Guerilla. Sie verwandelten sich mit der Zeit in Paramilitärs und stehen in enger Koordination mit den Militärs, grausame Gewaltverbrechen an der Zivilbevölkerung verübend. Auf das Konto staatlicher Organe, wie die inzwischen aufgelöste Geheimpolizei „DAS“, die reguläre Polizei und das Heer gehen ebenfalls Gewaltverbrechen. In diesen Jahren entwickelten sich Querverbindungen unter den bewaffneten Gruppen, und der Einfluss des Drogenhandels zu ihrer Finanzierung sorgen bis heute für Korrumpierung der politischen Anliegen und für noch größere Unübersichtlichkeit.

Das lebensfrohe, mehrheitlich katholische, kulturell reiche, humorvolle und so gastfreundliche Volk ist wirtschaftlich agil, weist einen guten Bildungsstand auf und erlebt gleichzeitig über Jahrzehnte chronisch den gewaltsamen Tod als Teil seines Alltags.

Sind Friedensverhandlungen ein Weg aus der Spirale? 1985 führten Verhandlungen zur Gründung der linken Partei „Unión Patriótica“, doch ihre Parteimitglieder wurden systematisch umgebracht. 6532 getötete oder verschwundene Genossen sind bis heute beim interamerikanischen Menschenrechtsgerichtshof registriert. Der Oberste Gerichtshof Kolumbiens spricht vom Genozid. Militär und Polizei waren massiv an der Planung und Durchführung der Massenmorde beteiligt, so das Gericht. Das Recht auf politische Teilhabe außerhalb der klientelistisch organisierten Traditionsparteien verhinderten Eliten mit Gewalt. Eine ähnliche Erfahrung der Schutzlosigkeit machten die ehemaligen Kämpfer des „Ejercito Popular de Liberación“, als sie die Waffen niederlegten.

Die Friedensverhandlungen spalten die Bevölkerung

Ein erneuter Anlauf: Präsident Andrés Pastrana eröffnete in den Jahren 1998 bis 2002 mit der FARC Friedensgespräche und überließ ihnen ein Gebiet der Größe der Schweiz. Dieses Zugeständnis sollte die Verhandlungen voranbringen. Die FARC ließ jedoch jegliche Ernsthaftigkeit an einem Verhandlungserfolg vermissen, gleichwohl erreichte sie, ihre Präsenz sowie ihre militärische und wirtschaftliche Stärke auszubauen. Pastranas Nachfolger Alvaro Uribe Velez setzte dann auf militärische Macht und vertrieb die Guerilla in die entlegenen Regionen des Landes. Für die Mehrheit der Bevölkerung, vor allem in den Städten, ist das bis heute ein spürbarer Schritt zu weniger Sorge um ihre Sicherheit. Die FARC sind heute wirtschaftlich und militärisch deutlich geschwächt, doch bezahlten viele Zivilisten die Militäroffensiven mit dem Leben. Trotz Überlegenheit der Streitkräfte erwies sich ein militärischer Sieg jedoch als illusorisch.

Wenig Glaubwürdigkeit genießt der Prozess der Entwaffnung der paramilitärischen Gruppen, der vor etwa 10 Jahren begann. Viele paramilitärische Mörder agieren heute unter einem anderen Label.

In dieser Gemengelage und trotz historisch begründeten Misstrauens auf beiden Seiten finden die aktuellen Friedensgespräche statt, die Regierung und FARC mit dem Ziel führen, „den Konflikt zu beenden und einen dauerhaften und stabilen Frieden aufzurichten“. Dabei darf nicht vergessen werden, dass es sich zwar um die größte aber lediglich um eine der bewaffneten Gruppen handelt. Berechtigt ist die Frage, wie das mit dem dauerhaften Frieden denn gehen soll.

Verhandelt wird über fünf Themen sowie über die Umsetzung der Vereinbarungen: Entwicklung des ländliche Raumes samt Landreform; politische Partizipation; Ende des Krieges; Lösung des Drogenproblems; Opfer. Obwohl andere Themen „in der Tiefkühltruhe“ bleiben, wie das künftig leitende wirtschaftliche Modell, die Ausbeutung von Bodenschätzen oder die territoriale Neuordnung Kolumbiens, ist das Programm beachtlich.

Jede Seite ist mit bis zu 30 Personen in Havanna präsent, zehn sitzen am Verhandlungstisch und jeweils fünf fungieren als Bevollmächtigte. Die Verhandelnden erhalten Unterstützung durch Historiker, Konfliktforscher, Fachleute für die Entfernung von Anti-Personen-Minen. Norwegen und Kuba gehen zur Hand, wenn gruppendynamische oder praktische Schwierigkeiten auftreten. Über Internet und in Papierform können Bürgerinnen und Bürger Vorschläge zu den zu behandelnden Themen einreichen. Regelmäßig erscheinen gemeinsame Comuniqués, die über die Fortschritte der Verhandlungen Auskunft geben. Am 11. Juni 2015 sind es bereits 56. Es gibt nach über zwei Jahren inzwischen Vereinbarungen zu wichtigen Punkten, wie der Landreform, der Integration der Kämpferinnen und Kämpfer in das politische System, der Opferentschädigung oder der geschichtlichen Aufarbeitung. Zur Zeit entfernen staatliche Sicherheitskräfte und Guerilleros gemeinsam Anti-Personen-Minen, was neben dem Wohl für die Zivilbevölkerung auch als Vertrauen stiftende Maßnahme gewertet wird.

Es wird verhandelt, auch wenn die Waffengänge weitergehen. Doch am Schluss gilt: Alles oder Nichts. Die Punkte existieren nur als Gesamtpaket. Werden die Verhandlungen abgebrochen, erübrigt sich das bereits Abgestimmte.

Die Friedensverhandlungen spalten die Bevölkerung. Viele folgen dem ehemaligen Präsidenten Alvaro Uribe, der behauptet, die Verhandlungen seien unseriös, die Regierung naiv und Präsident Santos verkaufe das Land an die Guerilla.

Die Friedensverhandlungen spalten die Guerilleros. Von den Freischärlern im Amazonasgebiet, an der waldreichen Pazifikküste oder in den Bergen gibt es hinter vorgehaltener Hand kritische Stimmen. Sie klingen so: „Die alten Herren, bisher unsere Führer, wollen sich ihre Renten sichern. Wir kämpften nicht 50 Jahre, um jetzt das Feld zu räumen.“ Ihre Meinung ist nicht zu hören, aber zu sehen: Gewalthandlungen nehmen nach einem deutlichen und anhaltendem Rückgang jetzt wieder zu.

Nicht zuletzt repräsentiert auch die Kirche in ihren Gemeinden, Ordensleuten, Priestern und Bischöfen die polarisierte Einschätzung zu den Verhandlungen. Durch das Land geht ein Riss, der sich in Expräsident Uribe und Präsident Santos personalisiert. Das historische Gedächtnis wirkt, ebenso wirkt die Überzeugung, dass es keine Alternativen zu einer verhandelten Lösungen geben wird.

Aber warum muss man sich polarisieren lassen? Der Vorsitzende der Bischofskonferenz, Erzbischof Luis Augusto Castro Quiroga, und Darío Echeverri, der innerhalb und außerhalb der katholischen Kirche unermüdlich für Kommunikation unter den Beteiligten und Betroffenen sorgt, ziehen es bei aller Unzulänglichkeit vor, die Friedensgespräche im Rahmen ihrer Möglichkeiten mitzugestalten. Das begrüßt sowohl die Guerilla als auch die Regierung. Das Mitgestalten gelang an einem entscheidenden Punkt: Opfer konnten erstmals in Havanna ihr Leid schildern. Sie berichten von ihrer Familie, die gänzlich ausgerottet wurde, von ihrer Entführung, von ihrer Vertreibung, von an ihnen begangenen Folterhandlungen, von ihrer Verstümmelung. Bisher wurden Opfer bei keiner laufenden Friedensverhandlung weltweit jemals gehört. 59 ausgewählte Personen reisten begleitet von einer Psychiaterin und von Seelsorgern in fünf Gruppen nach Havanna. Heute verstehen sie sich als Friedensbotschafter, sie setzen sich mit ihrem Schicksal der Öffentlichkeit aus.

Einen entscheidenden Part spielt die katholische Kirche

Das Engagement der Bischofskonferenz ist in diesem Kontext professionell: Der Bischöfliche Friedensrat analysiert den Friedenprozess und koordiniert das Engagement der Bischofskonferenz.

Dabei ist deutlich: Die Friedensverhandlungen sind wichtig. Nicht wenige rechnen trotz ausstehender sehr kniffliger Fragen mit einem positiven Abschluss und den entsprechenden Unterschriften. Gleichwohl sind erfolgreiche Verhandlungen nur ein Teil eines viel umfassenderen Friedensprozesses. Ziel wird es sein, die gesellschaftlichen Konflikte, die nicht schnell verschwinden werden, mit friedlichen Mitteln Lösungen zuzuführen.

Der Friedensprozess geht die Ursachen an, die der Gewalt eine so dominante Rolle in der jüngeren kolumbianischen Geschichte einräumt. Diese Geschichte befeuert letztendlich ein Amalgam aus Sicherung von wirtschaftlicher, medialer und territorialer Macht mit politischen und ideologischen Überzeugungen der Eliten. Voraussetzung ist, dass die Eliten dem Volk den ihm gebührenden Platz freiräumen. Voraussetzung ist auch, dass das Volk diesen Platz einnimmt. Als Eliten manifestieren sich verschiedene Gruppen: Großgrundbesitzer, US-amerikanisch geprägte Städter, Warlords in entlegenen Gegenden des Landes oder Vertreter des Staates, die ihre Interessen in korrupter Weise über das Gemeinwohl stellen.

Der Friedensprozess steht und fällt mit Friedensbotschaftern

Afrokolumbianer, Indigene, die arme und mittelständische Stadtbevölkerung, Kleinbauern, Unternehmer und Arbeiter, Frauen und Männer, Junge und Alte, egal welcher Hautfarbe, religiöser beziehungsweise politischer Überzeugung oder sexueller Neigung, unabhängig von Bildungsabschluss und Tätigkeit, bilden die kolumbianische Nation. Ihr Leben darf den Interessen weniger nicht mehr geopfert werden. Dazu entwickelte und aktualisiert die Nationale Friedenskommission in einem landesweiten Prozess Mindeststandards für friedliches Zusammenleben.

Dieser Frieden würde in den Regionen Gestalt annehmen, er würde zuerst von oben, aber dann vor allem von unten kommen. Die gesellschaftlichen Akteure würden sich ihres Beitrags zur Gewaltgeschichte stellen, auch die katholische Kirche. So leisten alle gesellschaftlichen Akteure ihren Beitrag zum Frieden. Alle sind bisher Teil des Problems, alle wären auch Teil der Lösung.

Einen entscheidenden Part spielt die katholische Kirche. Durch ihre kapillare Gestalt ist die Kirche in allen Regionen des Landes, auch in den vom Gewaltkonflikt stark betroffenen Zonen, präsent und kommt nicht darum herum, durch Pfarreien, Diözesen, Laieninitativen und Ordensgemeinschaften einen Beitrag für friedliches Zusammenleben zu leisten.

In vielen Fällen tun das bis heute Christinnen und Christen engagiert und nehmen Gefährdungen auf sich, bis zur Todesgefahr. Der Friedensprozess steht und fällt mit Friedensbotschaftern wie ihnen. Die katholische Kirche strebt an, was über den profanen Friedensbegriff hinausgeht und trifft landesweit eine pastorale Option: die Versöhnung der Gesellschaft.

Es geht um einen umfassenden Friedensprozess im biblischen Sinne, um Shalom. Die kolumbianische Bischofskonferenz wollte von der deutschen wissen, wie wir mit unserer Gewaltgeschichte umgegangen sind. Frucht war Anfang Juni 2015 ein deutsch-kolumbianischer Workshop zum Umgang mit Gewalt belasteter Vergangenheit in Berlin. Von deutscher Seite nahm neben anderen der Aachener Bischof Heinrich Mussinghoff teil.

Papst Franziskus möchte das Engagement der kolumbianischen Ortskirchen im Friedensprozess würdigen und stärken und kündigte seinen Besuch für Anfang 2016 an. Doch ginge es auch früher, so der Papst, wenn die Friedensverhandlungen abgeschlossen würden. Insgeheim hofft man, dass die beiden Antagonisten Uribe und Santos in der Präsenz des Papstes zu einer – wenn auch partiellen – Verständigung fänden. Das könnte die Polarisierung der kolumbianischen Gesellschaft als Ganzes entschärfen.

Mit dem Jahr 1992 könnte an einen gelungenen Friedensprozess in der kolumbianischen Geschichte erinnert werden. Die heute gültige Verfassung wurde verabschiedet, nachdem die Guerillagruppe M19 ihrem Kampf abgesagt hatte, und Zusammenleben auf der Basis von Bürgerrechten und Anerkennung der Verschiedenheit auf neue Füße gestellt wurde. Heute könnten weitere Schritte gegangen werden. Kolumbien lebt einen historischen Moment. Dieses lebensfrohe, mehrheitlich katholische, kulturell reiche, humorvolle und so gastfreundliche Volk nutzt ihn.

Anzeige: Ich bin, wie Gott mich schuf von Sabine Estner und Claudia Heuermann

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