Deutschland müsse preußischer und protestantischer werden, forderte seinerzeit Bundespräsident Richard von Weizsäcker. Mit dem Umzug des Bundespräsidenten und der Bundesregierung vom Rhein an die Spree ging sein Wunsch in Erfüllung. Nicht mehr der katholische Kölner Dom, sondern der protestantische Berliner Dom gilt seitdem als nationaler Sakralbau für staatstragende Gottesdienste. Dass es neben diesem dominanten Kuppelbau auch einen wesentlich bescheideneren, hinter der Oper Unter den Linden fast versteckten, katholischen Dom gibt, ist so manchen möglicherweise erst bewusst geworden, als die Hedwigskathedrale in die Schlagzeilen geriet. Anlass war der Wunsch des aus Köln nach Berlin entsandten Erzbischofs Rainer Maria Woelki, „seine“ Kathedrale den Anforderungen der Liturgie und der repräsentativen katholischen Feiern in der Hauptstadt anzupassen. Dazu erschien ihm und vielen anderen die derzeitige Raumgestalt ungeeignet.
Sobald die Pläne für eine Neukonzeption in Form eines offenen Wettbewerbs bekannt wurden, regte sich Widerstand. Dabei brachen alte Konflikte auf, die seit dem Wiederaufbau der kriegszerstörten Kirche nie ganz beigelegt waren. Schnell zeigte sich, dass die Wellen in Berlin viel höher schlugen als etwa bei der Diskussion über das Fenster von Gerhard Richter im südlichen Querhaus des Kölner Doms. Möglicherweise hatten die Verantwortlichen die emotionale Bindung vieler Katholiken und auch mancher Nicht-Katholiken an „ihren“ Dom unterschätzt (vgl. HK, Mai 2014, 264-268).
Nach der Rückkehr von Kardinal Woelki an den Rhein sind die Wogen keineswegs geglättet. Der designierte Nachfolger, Erzbischof Heiner Koch, ebenfalls ehemaliger Kölner Weihbischof mit Dresdener Bischofserfahrung, sieht sich einer Offensive für den Erhalt des status quo ausgesetzt, die teilweise aggressive Züge trägt. „Einen Bau so zu erneuern, dass er die Gemeinschaft zerstört, hat keinen Sinn. Dann wird die Renovierung ein Fiasko“, sagte er bei seiner ersten Pressekonferenz Mitte Juni in Berlin.
Worum geht es bei dieser Auseinandersetzung? Wo liegen die sachlichen Probleme? Gibt es möglicherweise eine Lösung, die die verfeindeten Positionen miteinander versöhnt?
Die Geschichte von St. Hedwig
Der neobarocke Portikus des „Berliner Pantheons“ nennt neben der Patronin Hedwig zwei der für die Entstehung des am Allerheiligentag 1773 eingeweihten Kirchenbaus maßgebliche Personen: den Bauherrn Friedrich den Großen und den Mäzen Kardinal Angelo Maria Quirini. Die Bauidee – eine Zitation des römischen Pantheons – stammt wohl von Friedrich, der mit diesem für eine Kirche ungewöhnlichen Zentralbau den Katholiken in Berlin erstmals seit der Reformation einen repräsentativen Sakralraum zugestand, wobei ihm zunächst eine Simultan-Kirche im Sinne seines Toleranz-Gedankens vorschwebte. Der allen Göttern geweihte römische Tempel sollte wenigstens das ideelle Vorbild für die dann doch nur der katholischen Bevölkerung dienende Kirche werden.
Die Fertigstellung erwies sich aufgrund der Unterfinanzierung als außergewöhnlich zäh, ohne internationales Engagement und Mäzenatentum wäre das ehrgeizige, die finanziellen Möglichkeiten der armen Gemeinde weit übersteigende Projekt niemals zustande gekommen und blieb dann auch bis ins 19. Jahrhundert hinein unvollendet. Die ursprüngliche spätbarock-klassizistische Ausstattung wurde in wilhelminischer Zeit teilweise durch eine historistische ersetzt. Mit der Gründung des Bistums Berlin wurde St. Hedwig 1930 Kathedrale. 1932 erfuhr der Kirchenraum durch den Architekten Clemens Holzmeister und zeitgenössischen Künstlern im Stil des Expressionismus eine völlige Neugestaltung, die im Bombenhagel 1943 unterging.
Die heutige Raumgestalt ist die des Wiederaufbaus nach dem Zweiten Weltkrieg. Die Raumhülle war bereits 1953 fertiggestellt. Nun wurde der Düsseldorfer Architekt Hans Schwippert, zeitweiliger Mitarbeiter von Rudolf Schwarz, für die Gestaltung des Innenraums beauftragt, der von 1955 bis 1963 ein völlig neues Raumkonzept realisierte. Der Altar rückte aus dem Schwellenbereich vor der kleinen Rotunde, in dem nun ein monumentaler Bischofsthron Platz fand, zur Mitte hin. Die freistehende Mensa ruht auf einem von der Krypta heraufragenden Stipes, an dessen unterem Ende sich der Kryptaaltar samt Tabernakel befindet. Schwippert griff hier ein von Holzmeister in St. Georg, Köln, Anfang der dreißiger Jahre realisiertes Konzept auf.
Architektonische Besonderheit
Das Besondere von St. Hedwig ist aber die monumentale Bodenöffnung, die Unter- und Oberkirche miteinander verbindet, eine für den Raum sehr groß proportionierte Confessio-Anlage nach dem Vorbild römischer Kirchen mit einer breiten Treppen vom Eingangsbereich aus. Diese architektonische Besonderheit sorgte von Anfang an für Diskussionsstoff, da die Grundidee, die vertikale Verbindung der drei Zeitebenen Vergangenheit (memoria) in Gestalt der Krypta mit ihren Gräbern und Andachtsorten, Gegenwart (celebratio) in Gestalt des liturgischen Feierraums und Zukunft (exspectatio) in Gestalt der nach oben offenen Kuppel nicht von allen nachvollzogen wurde.
Spätere Modifikationen des Raums, so die parallele Aufstellung der Bänke statt der von Schwippert vorgesehenen konzentrischen sowie die unglückliche Positionierung des von der Liturgiereform geforderten Lesepults, haben die Raumsituation keineswegs verbessert. Zu allem Unglück wurde anlässlich des 50-jährigen Bistumsjubiläums eine zum heiligen Petrus umfunktionierte mittelalterliche Bischofsfigur in den Stipes eingefügt, gedanklich nachvollziehbar, aber kontraproduktiv für den Raum.
Da die letzte Renovierung bereits Jahrzehnte zurückliegt, bot sich schon seit Längerem eine Revision der Raumsituation an. So etwas ist durchaus angeraten, setzt aber eine besondere Sensibilität für die objektiven und subjektiven Faktoren voraus, insbesondere im Fall eines emotional so aufgeladenen und zudem denkmalgeschützten Gebäudes wie St. Hedwig. Als ich Ende 2012 gebeten wurde, als Liturgieexperte beratend für die Neugestaltung tätig zu werden, waren einige Fakten schon gesetzt. So erhoffte man sich durch einen offenen zweistufigen Wettbewerb innovative Lösungen in architektonischer wie liturgischer Hinsicht. Zielführender wäre meines Erachtens ein Planungsauftrag an einige wenige ausgesuchte Architekten und Künstler im Zuge eines längeren Konsultationsprozesses gewesen. Auch inhaltlich war eine Vorentscheidung getroffen, wie sie von einem prominenten Mitglied der Jury vorformuliert war: „Das klassizistische Gebäude ist durch den Wiederaufbau nach dem Krieg komplett verhunzt worden. Inzwischen steht aber der Wiederaufbau selbst – mit einem völlig hanebüchenen Loch in der Mitte – schon wieder unter Denkmalschutz. Also, das ist ein richtig heißes Eisen“ (Kölner Stadtanzeiger, 28. August 2012).
Mit anderen Worten: Das „Loch“ sollte in jedem Fall geschlossen werden. Ich hatte von Anfang an aus meiner Auffassung keinen Hehl gemacht, dass man Schwippert noch eine Chance geben solle. Nur wenn eine neue Lösung gefunden würde, die in architektonischer wie liturgischer Hinsicht restlos überzeuge, wäre eine völlige Neuordnung des Raums vertretbar. Immerhin gelang es, den weitgehenden Erhalt des Bestandes als eine Option in den Ausschreibungstext aufzunehmen, wodurch auch die staatliche Denkmalpflege ins Boot geholt werden konnte.
Liturgische Ansprüche an die Hedwigskathedrale
Beim Rückfragenkolloquium im November 2013 waren auch die Probleme und Möglichkeiten für die liturgische Nutzung von St. Hedwig zu erörtern. Dabei wurden die verschiedenen Versammlungsmodelle vorgestellt, darunter das bipolare Raummodell einer um Altar und Ambo um eine freie Mitte geordneten liturgischen Versammlung. Diese wäre mit wenigen Modifikationen im Bestand von St. Hedwig realisierbar.
Die Behauptung, der derzeitige Kirchenraum sei für die Liturgie nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil völlig ungeeignet, lässt sich leicht widerlegen. Hans Schwippert konzipierte den Raum ganz im Geist der Liturgischen Bewegung, wobei dessen Widerständigkeit durchaus als produktive Herausforderung angenommen werden kann. Schwippert interpretierte die Zelebrationsrichtung „versus populum“ zutreffend nicht als bloßes Gegenüber von Priester und Gemeinde, sondern als eine Verbindung von Zuwendung und gemeinsamer Ausrichtung zugleich. In diesem Zusammenhang hat die durch die Bodenöffnung erzwungene freie Mitte des Raums eine essenzielle Bedeutung.
Im Frühjahr 2014 veröffentlichte ich nach Abschluss der ersten Wettbewerbsstufe diese Überlegungen zusammen mit dem Tübinger Kollegen Andreas Odenthal in der Zeitschrift „Christ in der Gegenwart“, was das Ende meiner Beratertätigkeit in Berlin zur Folge hatte. Inzwischen war das Umbauprojekt zum Politikum geworden. Die Zeitschrift „Das Münster“ widmete ihm eine ganze Nummer (vgl. auch meine liturgiewissenschaftliche Bewertung der Ergebnisse in derselben Zeitschrift nach Abschluss der zweiten Phase des Wettbewerbs im Sommer 2014).
Auch wenn der Versuch, eine vermittelnde Position einzunehmen, gescheitert ist, halte ich nach wie vor die sachliche und fachliche Auseinandersetzung für den einzig geeigneten Weg, um zu einer tragfähigen Lösung zu kommen. (Daher habe ich mich auch im August 2014 einem offenen Brief an den Vorsitzenden der Deutschen Bischofskonferenz bezüglich „Umbau mit Teilzerstörung der St. Hedwigs-Kathedrale zu Berlin“ nicht angeschlossen.) Dass manche Äußerungen zum Thema Umbau zu missdeuten sind, wie aus einem Schreiben vom 3. Juli 2015 der „Freunde der St. Hedwigs-Kathedrale“, einer Initiative katholischer Christen im Erzbistum Berlin, hervorgeht, liegt in der Natur der Sache. Wer nur ein Entweder-oder kennt, wird jede vermittelnde Position ablehnen beziehungsweise differenzierte Äußerungen in seinem Sinne interpretieren. Dabei gibt es zumindest drei Möglichkeiten: Konservierung des Status quo, völlige Neukonzeption oder behutsame Weiterentwicklung des Bestands. Zu Letzterem haben wir einen Vorschlag vorgelegt. Im Folgenden geht es darum, sich noch einmal mit dem Siegerentwurf im Vergleich mit der jetzigen Raumsituation auseinanderzusetzen (vgl. HK, Mai 2015, 48-51).
Der erstprämierte Entwurf stammt vom Architekturbüro Sichau & Walter Architekten, Fulda, und dem Künstler Leo Zogmayer, Wien. Nach diesem Entwurf ist die Bodenöffnung vollständig geschlossen, der Zugang zur Krypta ist von der Eingangshalle mittig angelegt. Der Zugang zum Hauptraum erfolgt demnach nur durch die Seitentüren, da die Hauptachse durch die Kryptatreppe belegt ist. Die Gesamtgestalt des Raums ist geprägt durch die kreisrunde Versammlung der Gemeinde in fünf Segmenten (Einzelstühle mit Kniegelegenheit) um den in der Mitte platzierten Altar. Dieser hat die Form einer Halbkugel, wie sie Zogmayer auf ähnliche Weise in der Abtei Marienstatt realisiert hat.
Ambo und Bischofsthron liegen auf der Achse im freien sechsten Segment. Der Tabernakel befindet sich in der Annexkapelle dahinter, nicht in der Mitte wie bei Holzmeister, sondern in die Wand eingelassen. Die Krypta weist ein monumentales Taufbecken in der Mitte unter dem Altar auf, das auch für Immersionstaufen (durch Eintauchen) geeignet ist – hier wurde ein Vorschlag aus unserem Diskussionsbeitrag in der Zeitschrift „Christ in der Gegenwart“ aufgegriffen. Für kleinere Eucharistiefeiern sind Altar und Ambo (beide mobil) bipolar angeordnet.
Der Entwurf kann in ästhetischer Hinsicht durchaus überzeugen. Er bewegt sich auf der Linie spektakulärer Raumordnungen der jüngeren Zeit (zum Beispiel St. Ulrich, Augsburg, Hildesheimer Dom, Propsteikirche Leipzig), die auf Reduktion, Konzentration und Lichtarchitektur setzen.
Leo Zogmayer hat bei zahlreichen Raumgestaltungen der letzten Jahrzehnte eine sichere Hand im Umgang mit älteren und neueren Kirchenräumen bewiesen. Die klare Ordnung des Gesamtraums ist positiv hervorzuheben: Im Altarbereich steht viel Raum für liturgische Aktionen zur Verfügung. Problematisch erscheint jedoch die absolute Konzentration auf den Altar. Sie entspricht zwar der Logik des Zentralraums, ist aus liturgisch-theologischer Perspektive aber zu diskutieren. Als geometrische Mitte des Raums bildet der Altar den einzigen Orientierungspunkt für die Gemeinde. Dadurch verzichtet die Raumordnung auf eine raumüberschreitende Orientierung, nur in der Vertikalen (im Sinne des „geschlossenen Rings“, eines der sieben Idealpläne im Buch „Vom Bau der Kirche“ von Rudolf Schwarz) öffnet sich der Raum.
Zwar weist eines der sechs Kreissegmente keine Bestuhlung für die Gemeinde auf (wie beim „offenen Ring“), doch wird dieses Segment durch Bischofsthron, Kapitelsitze und Sitze für die liturgischen Dienste besetzt, eignet sich also nicht zur Orientierung des Gebets. Die Richtung ist hier ganz in die Vertikale verlegt, die zwar im epi-kletischen Gestus des Eucharistiegebets eine zentrale Rolle spielt („Sende deinen Geist auf diese Gaben herab und heilige sie…“), dem Wegcharakter des christlichen Gottesdienstes aber nicht entspricht.
Durch die Geschlossenheit der Versammlung verliert der Altar seine Schwellenfunktion und der Kirchenraum seine trinitarische Dynamik. Schwarz hatte in seiner Kritik an der zeitgenössischen „christozentrischen Kirchenkunst“ mit ihrer absoluten Altarzentrierung, wie sie unter anderem von Dominikus Böhm vertreten wurde, dem „offenen Ring“, der sich dem unzugänglichen Bereich des Göttlichen öffnet, den Vorzug gegeben. Er entspricht stärker der Struktur des eucharistischen Betens „durch Jesus Christus im Heiligen Geist zu Gott, dem Vater“. Außerdem wird die Monopolisierung des Altars generell der theologischen Bedeutung der Wortverkündigung nicht gerecht, die in den Konzilstexten im Bild von den „zwei Tischen“ (vgl. Sacrosanctum Concilium, Nr. 48 und 51) zum Ausdruck gebracht ist. Allerdings befindet sich der Ambo im Berliner Entwurf auf der Mitte einer imaginären Achse zur kleinen Rotunde hin, die durch Altar und Bischofssitz gebildet wird.
Immanente Transzendenz oder Überforderung der Gemeinde?
In einem Gespräch mit Leo Zogmayer im Frühjahr 2015 konnten die Intentionen der Entwerfer und diese Anfragen ausführlich diskutiert werden. Kann es eine „immanente Transzendenz“ geben in dem Sinne, dass es keinen Orientierungspunkt außerhalb der Versammlung gibt, beziehungsweise ist die Vertikale in St. Hedwig in der Lage, diese Dimension (Überschreitung der Immanenz) bewusst bleiben zu lassen? Zogmayer will die raumüberschreitende Orientierung als Flucht aus der Gegenwart aufheben, um so die ganze Gemeinde in die Pflicht zu nehmen. Es stellt sich jedoch die Frage, ob dies nicht eine Überforderung der Gemeinde ist, die keinesfalls sich selbst feiern, sondern in der Gestalt ihrer Versammlung das gefeierte Mysterium zum Ausdruck bringen soll.
In Bezug auf die Stellung des Priesters am Altar leistet der Entwurf zwar wie bei Schwippert die Vermeidung des plakativen Gegenübers zur Gemeinde, da (ähnlich wie in den Circumstantes-Räumen mit Querschiffen) sich auch Gläubige an den Seiten befinden. Es bleibt aber die Schwierigkeit der fehlenden Orientierung. Die zentrale Stellung in der Weite des Innenrings wird in der Regel eine Überforderung sein. Der Priester muss sich seine Position an dem kreisrunden Altar in dem kreisrunden Raum suchen.
Diese bleibenden Anfragen führen zu der grundsätzlichen Frage nach den Erfordernissen für den liturgischen Dienst von Amtsträgern und Gemeinde sowie die daraus resultierenden Anforderungen an den Raum. Besondere Gemeinden brauchen besondere Räume und entwickeln sie weiter. So gestaltete Zogmayer 1999 für die Gemeinde Maria Geburt in Aschaffenburg einen Raum, der nach wie vor inspirierend wirkt, ähnlich ein Jahr später für in St. Franziskus, Bonn. Was für eine Gemeinde erwartet der zukünftige Raum von St. Hedwig in Berlin?
„Sammlung“ als Paradigma der Liturgie
In einem bemerkenswerten Beitrag im Liturgischen Jahrbuch von 2015 mit dem Titel „Feiern im Zeit-Raum der Moderne. Ein Gestaltungsprinzip des liturgischen Raums in der ersten und zweiten Moderne“ setzt sich der Wiener Religionswissenschaftler Karl Baier am Ende mit den erwähnten drei Raumkonzepten Zogmayers auseinander. Zuvor wird in dem Beitrag „Sammlung“ in Anlehnung an Romano Guardini und unter Bezugnahme auf Rudolf Schwarz als Paradigma für die Liturgie entwickelt. Grundlegend ist die Erkenntnis, dass es sich beim Habitus der Sammlung nicht um eine Abkehr von der Welt handelt, sondern im Gegenteil um ein Sich-Öffnen gegenüber der Welt. Die offene Welt wird so als Bereich des Numinosen und als primärer liturgischer Zeit-Raum erfahren. Dies gilt vorrangig vor jeder Unterscheidung von sakral und profan.
Konkret bedeutet dies den Verzicht auf Dekor und sekundäre Symbole, korrespondiert also im Grunde mit dem, was die Liturgiekonstitution „edle Einfachheit“ nennt (Sacrosanctum Concilium, Nr. 34), eine Plausibilität von innen heraus, die nichts mit Entsakralisierung zu tun hat. Was hier auf den Ritus bezogen ist, gilt auch für den Raum.
Schwarz, dessen Kirchenbau laut Baier „aus dem Geist der Sammlung“ kommt, hat eine Architektur der Leere geschaffen, die Gegenwart im Modus der Stille, des heiligen Schweigens, erfahrbar macht (St. Fronleichnam, Aachen 1930). Baier kritisiert in Anschluss an Thomas Sternberg jedoch an Rudolf Schwarz, dass dieser an der romantischen Auffassung vom Sakralen als ästhetischer Kategorie festgehalten habe. Zwar sei die Erhabenheit der leeren Großwand ein beeindruckendes Symbol des unendlich Offenen, doch habe die dadurch entstehende sakrale Atmosphäre eine triumphalistische Note. „Doch weder braucht die helle Ruhe der Sammlung eine erhabene Stimmung, noch muss die Mystik der leeren Wand mit monumentalem Pathos daherkommen. Sammlung ist (…) offen für ein Spektrum feierlich-nüchtern gestimmter Räumlichkeit jenseits herkömmlicher Sakralität“ (65).
Ob die Gestimmtheit der Sakralräume von Schwarz damit zutreffend charakterisiert ist, sei dahingestellt. Für viele seiner Räume – etwa Kapelle und Rittersaal auf Burg Rothenfels, die Kapelle in Leversbach oder die Kirche „Heilige Familie“ in Oberhausen trifft sie sicher nicht zu. Baier akzentuiert diesen Zug in der Architektur der ersten Moderne, um die Besonderheit der Räume von Zogmayer als Fortschreibung der Prinzipien der ersten in der zweiten Moderne kontrastierend beschreiben zu können. In Aschaffenburg und noch mehr in Bonn realisierte er Communio-Räume, in denen bewusst auf Sakralität im Sinne der Erzeugung einer Raumatmosphäre verzichtet wird. „An ihre Stelle tritt, viel konsequenter noch als bei Schwarz, eine unpathetische Semantik der Sammlung, die zu vertiefter Wachsamkeit anregt“ (68).
Kreisförmige Versammlung als Alpha und Omega
Für Zogmayer ist das primär wirksame Bild im Communio-Raum die Versammlungsfigur selbst. Damit knüpft er unmittelbar an die von Schwarz reflektierten Erfahrungen im Rittersaal von Burg Rothenfels an. Für Zogmayer ist aber nicht die gestreckte Form in der Art einer Ellipse (wie in St. Franziskus, Bonn), sondern der Kreis die schlüssigste Raumform der Versammlung. „Der Kreis ist keine selbstgenügsame Gemeinschaft, sondern transzendiert sich nach innen und nach außen. Einerseits sind die in ihm Versammelten auf eine gemeinsame Mitte gerichtet und andererseits offen zur Umwelt, innerhalb derer sie ihren Kreis bilden. Als temporäre Gestalt kommt der Kreis ja von dort zusammen und geht gestärkt wieder dorthin auseinander. Die Versammelten tragen die in der Sammlung erfahrene Mitte hinaus in die Welt“ (73).
Der Rekurs auf Schwarz, für den die kreisförmige Versammlung in der Tat das Alpha und Omega seiner sieben Pläne darstellte, ist hier jedoch irreführend. Der erste Plan, „Heiliger Ring“, ist etwas Vorläufiges, vergleichbar der vorübergehenden Versenkung in weihnachtlicher Krippenseligkeit. „Noch schläft alles im Keim, die Dinge sind nahe beieinander und alle beleuchtet in inniges Licht. Noch ist dieser erste Plan nicht durchkreuzt, aber er enthält schon die Kräfte, die ihn einmal aufbrechen werden, das Gebot zu wachsen und die Kuppel zu sprengen. Die selige Versenkung ist kurz und nach ihrem Vorbeigang steht der Mensch unter der Sonne inmitten der Dinge, seines Leibes und dessen Sinnes bewusst. Er bemerkt, dass er allein ist und dass er auf einen weiten Weg geschickt wurde“ (Schwarz, Vom Bau der Kirche, 55).
Erst nach diesem Weg, beim siebten Plan, kommt die Bewegung wiederum in kreisförmiger Versammlung zur Ruhe, das aber wird erst nach der Zeit in der eschatologischen Vollendung sein. Dazwischen liegen Aufbruch und Weg. Dem kreisförmig gestalteten Kirchenraum wird beim Heraustreten des Priesters aus dem Kreis und dem Herantreten an den Altar bereits eine Richtung gegeben und damit ein Weg eingetragen. Da für Schwarz die Wegmetapher als Ausdruck von Leiblichkeit und Zeitlichkeit zentral war, hatte er große Vorbehalte gegenüber Zentralräumen für die Feier der Eucharistie, da ihnen die Spannung, die „Zuwendung auf die Ferne“ (52), fehlt.
Dabei geht es keineswegs um Weltflucht, um Vertröstung auf das Jenseits, sondern um das Prinzip des Lebendigen und damit auch der Liturgie, wie es Romano Guardini in seiner Lehre vom Gegensatz ausformuliert hat. Meisterhaft gelöst hat Schwarz dieses Problem bei der Neugestaltung der Liebfrauenkirche in Trier, wo er zwar den Zelebrationsaltar in die Mitte des Zentralbaus setzte, mit dem baldachingekrönten Tabernakelaltar im Chorraum aber einen Gegenpol schuf.
Die Hedwigskathedrale als einfache Rotunde bietet diese Möglichkeit nicht. Mit seiner Positionierung des Altars vor der Bodenöffnung in der Mitte ist es Schwippert jedoch gelungen, dem Raum die notwendige Spannung zu geben. Baier, der daran kein gutes Haar lässt, sieht die Balance dagegen bei Zogmayer trotz des zentral platzierten Altars gewahrt: „Die in große Segmente geteilte Bestuhlung und der erhabene Weite vermittelnde Rundbau samt Kuppel, bilden durchaus ein Gegengewicht zum Altar. Auch hat der Ambo als zweites liturgisches Zentrum einen liturgisch sinnvollen, gebührlich hervorgehobenen Platz gefunden. So bildet sich eine dem Vollzug der Sammlung entsprechende Balance aus Zentrierung und Weite. Umkreis und Mitte geben sich wechselseitig frei“ (76).
Ob die Raumanordnung dies wirklich zu leisten vermag, bleibt fraglich. Die kreisrunde Anordnung des Gestühls um den zentral positionierten Altar erscheint so dominant, dass der Raum möglicherweise statisch wirkt, da der Ambo nicht wirklich einen Gegenpol bilden kann. Zu hinterfragen ist letztlich, ob das Paradigma „Sammlung“ die dynamische Struktur der Liturgie erschöpfend darstellen kann, ob der Gegenpol „Sendung“, bei Schwarz der „heilige Aufbruch“, also der „offene Ring“, darin abgebildet ist.
Hervorgehoben wird im Paradigma „Sammlung“ zweifellos die Bedeutung der Gegenwart gegenüber einem bloß erinnerndem Vergangenheitsbezug und einer unter Vertröstungsverdacht stehenden Zukunftsorientierung. „Auch die ehrwürdige Vergangenheit kann in der Gegenwart nur in Form ihrer ereignisbasierten Neuheit erfolgreich sein“, schreibt der Pastoraltheologe Michael Schüßler (Mit Gott neu beginnen. Die Zeitdimension von Theologie und Kirche in ereignisbasierter Gesellschaft, Stuttgart 2013, 147). Insofern ist das der Sammlung entsprechende neue Raumkonzept von St. Hedwig gegenüber dem derzeitigen ein „Antianamneticum“ (314 ff.). Die Liturgie will aber als „heilige Handlung“ gerade Vergangenheit (Gedächtnis) und Zukunft (Erwartung) im Jetzt (Ereignis) zusammenfügen. Der liturgische Raum soll dies unterstützen. Wird er – im Fall der Realisierung des prämierten Entwurfs – dies auch können? Darüber sollte noch einmal ausgiebig nachgedacht werden.