Herr Professor Assmann, in Ihrem jüngsten Buch mit dem Titel „Exodus“ würdigen Sie diesen biblischen Erzählstoff über seine Bedeutung innerhalb des Alten Testaments hinaus. Warum ist er so etwas wie die „Matrix aller Offenbarungen“?
Jan Assmann: Im Alten Testament insgesamt spielt der Exodus gar nicht die große Rolle. Es gibt noch einige Psalmen, die auf ihn rekurrieren; außerhalb der Tora jedoch ist von ihm wenig die Rede. Aber die Idee der Offenbarung, die ich für das eigentliche Thema des Buches Exodus halte, hat sich in einer Weise durchgesetzt, die ich für weltverändernd halte. Die Basis der Religionen Judentum, Christentum und Islam, in denen wir heute leben, ist der Begriff des Glaubens. Er meint einen Komplex von Vorstellungen, der nicht einfach im Gegebenen evident, sondern offenbart ist – und damit gewissermaßen von außen kommt. Das Thema ist also nicht einfach der Auszug aus Ägypten, sondern die Einführung von etwas völlig Neuem, das dann auf Jahrtausende prägend wird.
Von welchen Glaubensvorstellungen haben sich die Israeliten mit ihrem Auszug aus Ägypten denn distanziert? Was meint ihr spezifischer Begriff des Glaubens im Unterschied zu den vorherigen religiösen Überzeugungen?
Assmann: Der Auszug aus Ägypten symbolisiert die Abkehr von der Religion des Gegebenen, in dem sich das Göttliche zeigt: im Kosmos, in der Natur, in der Kultur wie zum Beispiel in der Schrift, der Rechenkunst, der Totenbestattung, die für die Ägypter ein starkes Element der Heiligkeit aufweisen. Die monotheistischen Religionen beruhen auf der völlig neuen Semantik des Glaubens. Sie erst erlaubt es, zwischen Kultur und Religion zu unterscheiden. Religion wird dadurch eine kritische Instanz gegenüber der Kultur, wie sich etwa im Alten Testament an der prophetischen Kritik sehen lässt. Nur so ist überhaupt denkbar, dass auch eine religiöse Praxis als falsch verurteilt werden kann: die Verehrung der falschen Götter, aber auch Unrecht und Unterdrückung. Das alles setzt voraus, dass Religion aus dem Absoluten kommt und geoffenbart ist. Nach aufmerksamer Lektüre des Buches Exodus ist mir aufgegangenen, dass das sein eigentliches Thema ist. Diese Offenbarung ergeht ein für alle Mal, und sie regelt das ganze Leben. Das wird im Medium der Erzählung entfaltet, weil es für Offenbarung in diesem Sinne gar kein Wort im Hebräischen gibt. Auch apokalypsis – die Enthüllung des Weltendes – meint ja etwas völlig anderes.
Narrative Entfaltung heißt auch, dass es einen – wie auch immer zu verstehenden – Bezug auf Ereignisse gibt. Wie viel Historizität steckt in den Erzählungen?
Assmann: Das ist genau die Frage, die viele stellen, von der ich uns aber einmal befreien wollte. Das Grandiose der Erzählung des Buches Exodus ist die Verbindung des Fantastischen mit dem Realistischen. Die zehn Plagen, das Meerwunder und dann die Ereignisse in der Wüste mit dem Manna, den Wachteln, dem Wasser aus dem Felsen gehören in die Sphäre des Fantastischen, während die Erzählung auf der anderen Seite voll von dem ist, was Roland Barthes den „Effekt des Realen“ genannt hat: minutiöse Ortsangaben beispielsweise, aufgrund derer man auf der Landkarte die Route herauszufinden versucht, etwa auch das Erwähnen der Vorratsstädte Pitom und Ramses, die auf die Ramessidenzeit als Zeit des Auszugs verweisen. Diese Verbindung verführt dazu, auch das Fantastische als realistisch zu nehmen. Man ist ständig verführt zu solchen Überlegungen – aber diese führen zu gar nichts, weil es nicht die geringsten außerbiblischen Spuren gibt.
Sie haben demgegenüber das Konzept der Erinnerungsgeschichte stark gemacht.
Assmann: Meine Frage ist tatsächlich eher, wann ein solcher Mythos gebraucht, wann eine solche Erinnerung aktuell wurde, sodass man sie kultisch beziehungsweise liturgisch ausgestaltet hat. Dann kommt man in ganz andere Zeiten und historische Kontexte. Das ist interessanter als die Frage nach einem Ereignis, an das man nicht herankommt.
„Auf Texte von solch weltverändernder, wirklichkeitsschaffender Wirkung und Verbindlichkeit passen Begriffe wie ,Fiktionalität‘ und ,Literatur‘ nicht“, schreiben Sie auf der anderen Seite. Worin besteht dann die Kraft dieser Geschichte?
Assmann: Natürlich sind das keine müßigen Erzählungen, im literaturwissenschaftlichen Sinne von Fiktion. Sie stecken vielmehr voller Erinnerungen an Erlebtes. Dabei handelt es sich nicht um ein einzelnes Ereignis, das erinnert wird, sondern etwa 350 Jahre ägyptischer Besatzung von Kanaan – einschließlich der möglicherweise wunderbaren Befreiung einer Gruppe verschleppter Zwangsarbeiter – wobei man besser wohl von Frondienst spricht, denn im Buch der Könige ist im Zusammenhang des Tempelbaus von der dafür eingeforderten Arbeitsbelastung mit denselben Begriffen wie bei der ägyptischen Zwangsarbeit die Rede. Auch die frühe Einwanderung semitischer Stämme in das Nildelta, die sich dann für über hundert Jahre ganz Ägypten untertänig gemacht haben, bis sie um die Mitte des zweiten Jahrtausends vertrieben wurden, ist in diese Erinnerungen eingeflossen. Das alles verdichtet und kristallisiert sich zum Exodus-Mythos in den kritischen Momenten der Geschichte Israels: zuerst wohl um 930 vor Christus, als die Nordstämme sich wegen des schweren Frondiensts vom Jerusalemer Zions-Königtum lossagten und das Nordreich Israel gründeten. Insofern ist der Exodus der Mythos einer Trennung, mit dem das Pathos einer Freiheitsbewegung. Dann wieder um 722 bei den Propheten Hosea und Amos, die den Untergang des Nordreichs vorhersagten und 150 Jahre später bei den Propheten Jeremia und Ezechiel als auch das Südreich unterging. Vor allem aber war es dann zwischen 520 und 450 die Gründung des zweiten Tempels und damit des frühen Judentums, als der ganze Erzählkomplex nicht nur in eine literarische, sondern auch kanonische Form gebracht wurde.
Schon Anfang der neunziger Jahre hatten Sie das Volk Israel als paradigmatisch für eine identitätsstiftende Erinnerungskultur profiliert. Inwiefern knüpfen Sie mit dem Buch „Exodus“ an Ihre Thesen zum kulturellen Gedächtnis von damals an?
Assmann: Damals ging es mir um Gedächtnistheorie: Das Buch Deuteronomium erschien mir als das Paradebeispiel einer kollektiven Erinnerungskultur. Diese entsteht in der Zeit des Exils, als es darum ging, ohne Tempel, Land und Königtum eine Identität zu bewahren. So entsteht aus dem untergegangenen Israel das frühe Judentum. Durchgesetzt hat sich damit jene Richtung, die den Gedanken der Erwählung und das geoffenbarte Gesetz als Instrument der Abgrenzung von den Völkern in den Mittelpunkt stellt. Die deuteronomistische Bewegung setzt eben nicht auf die individuelle Gedächtniskunst einer ars memoriae, sondern auf eine kollektive Erinnerungskultur. Meine Frau, Aleida Assmann, unterscheidet in diesem Sinne zwischen ars und vis memoriae. Entscheidend ist also jene Gedächtniskraft, die eine Gruppe zusammenhält. Zu diesen allgemeineren kulturtheoretischen Beobachtungen aus der Ferne ist jetzt mit Blick auf den Exodus-Stoff eine größere exegetische Nähe gekommen.
Und was folgt aus diesen Thesen für den Gottesbegriff im Judentum und Christentum? Wie wurden deren Gottesvorstellungen durch den Exodus-Stoff und dessen Erinnerung beziehungsweise Rezeption entscheidend und nachhaltig geformt?
Assmann: Der Monotheismus der Treue, der da gegründet wird, ist in einer bis dahin vollkommen einzigartigen Weise affektiv besetzt. Der Exodus-Mythos ist eine Liebesgeschichte. Das hat es vorher nicht gegeben, dass die Götter den Menschen so nahe kamen, wie Jahwe seinem Volk Israel. Dazu gehört natürlich auch das Krisenhafte in der Liebesbeziehung, vor allem die Eifersucht. Insofern hat sich nicht nur der Gottesbegriff verändert. Ich würde sogar so weit gehen und sagen: Das ist ein völlig neuer Gott, der da auftritt. Diese Unterscheidung wird in der Bibel selbst getroffen: zwischen El, Elohim, Gott oder Götter, und Jahwe, als dem Liebes- und Bundespartner. Jahwe sagt selbst, dass er sich den Vätern nicht als Jahwe offenbart habe, sondern als El Shaddai. Jahwe ist das, was seitdem für uns „Gott“ heißt. Selbst Martin Walser, der fragt, „was fehlt, wenn Gott fehlt“, denkt dabei nicht an den Gott der Philosophen, sondern an den Gott des Bundes.
Auch der Gott des Alten Testaments ist also ein Gott der Liebe?
Assmann: Ich halte überhaupt nichts von der Unterscheidung eines neutestamentlichen Gottes der Liebe und eines alttestamentlichen oder gar „alttestamentarischen“ Gottes der Rache und des Zorns. Das Element der Liebe im christlichen Glauben ist in der alttestamentlichen Bundestheologie grundgelegt. Zum Pessachfest, dem Fest des Auszugs aus Ägypten, wurde das Hohelied Salomos gelesen.
Auf der anderen Seite weisen Sie auch darauf hin, dass der Gott in der Tora ein „schwieriger“ Gott ist. Warum?
Assmann: Intimität ist schwierig. Das ist das Problem der Nähe. Das Neue Testament hat Gott im Übrigen dann wieder in die Ferne gerückt, indem es Jesus als Mittler einführt. Die Schwierigkeit des Alten Testaments besteht darin, dass es keine Mittler gibt. Schon in der Tora, in der Mose eine große Rolle spielt, wird darauf großer Wert gelegt. Der Bund wird nicht zwischen Gott und Mose als Vertreter des Volkes geschlossen. Er wird zwischen Gott und dem Volk geschlossen. Darin steckt ein gewisser basisdemokratischer und herrschaftskritischer Impuls. Man bringt Demokratie immer mit Athen zusammen, vergisst dabei aber, wie viel demokratische Impulse in der Bibel stecken. Auf der anderen Seite aber ist diese Unmittelbarkeit, das macht die Bibel unmissverständlich deutlich, schwer zu ertragen. Die Israeliten ertragen nicht Gottes Stimme, sie beschweren sich, dass die Kabod, die Herrlichkeit Gottes, mitten im Lager ihre Wohnung aufschlägt, man sich ihr aber nicht nähern darf. Dieses magische Element ist ein Symbol für die Ambivalenz dieser Nahbeziehung – durchaus auch in einem psychoanalytischen Sinne von Ambivalenz.
Sowohl im Alten wie im Neuen Testament wird Gott nicht nur als Gott der Liebe, sondern auch als zornig dargestellt. Wann und warum wird Gott in der Bibel als Zorniger dargestellt?
Assmann: Tatsächlich gibt es genügend biblische Stellen über den Zorn Gottes. Paulus, bei dem die ganze Welt und die ganze Kreatur unter dem Zorn Gottes leidet, generalisiert und radikalisiert dieses Leitmotiv des Alten Testaments, das schon in einigen Psalmen, zum Beispiel Psalm 90, eine allgemeine Form annimmt. Die Vergänglichkeit alles Irdischen kommt von einem Fluch, der auf der Schöpfung lastet. Das hat schon auch eine tragische Note, in welchem Ausmaß das Volk Israel sich als unter einem solchen Fluch stehend fühlt – was natürlich mit der Erfahrung fehlender staatlicher Souveränität bis hin zur Besatzungsmacht der Römer und zur Diaspora zu tun hat. Die Christen haben dieses Problem dann entpolitisiert: Mein Reich ist nicht von dieser Welt. Aber schon im Alten Testament, vor allem nach dem Exil, ist immer auch die Rede von Buße und Versöhnung. Immer wieder gibt es den Versuch, diesen Zorn zu versöhnen.
Viele führen die Gewaltpotenziale der monotheistischen Religionen auf die Vorstellung eines zornigen Gottes zurück. Inwieweit wollten Sie mit Ihren Thesen in Ihrem Buch „Moses der Ägypter“, in dem Sie die Unterscheidung zwischen wahr und falsch als konstitutiv für den Monotheismus definieren, in diese Diskussionen eingreifen?
Assmann: Nichts lag mir ferner. Diese Diskussionen hielt ich für eine Sache des 18. Jahrhunderts. Die Rezeption meiner Thesen hat mich damals schon sehr überrascht. Als ich „Moses der Ägypter“ schrieb, war mein eigentliches Thema die Frage, was die Autoren bewegt, die auf Moses Beziehung zu Ägypten bestehen: dass er ein Ägypter, ägyptisch sozialisiert oder in die ägyptischen Mysterien eingeweiht war. Es ist ja evident, dass sie damit die Bibel, für die Mose ein Hebräer ist, gegen den Strich gelesen haben. Richtig virulent ist das im 17. und 18. Jahrhundert unter den Freimaurern und Illuminaten geworden. Friedrich Schiller hat diese Theorie dann europaweit publik gemacht. Seine These war, dass Mose den philosophischen Gott der ägyptischen Mysterien – das All-Eine – im Sinne eines frommen Betrugs zu einem Nationalgott zurechtgestutzt hat. Die gemeinsame Agenda dieser Denker war offenkundig die, die mosaische Unterscheidung zwischen wahr und falsch aufzuheben, weil sie ihrer Überzeugung nach in der Religion nichts zu suchen habe, sondern in die Erkenntnistheorie gehöre.
Was ist demgegenüber Ihre Position?
Assmann: Die revolutionäre Energie des biblischen Monotheismus besteht in dem völlig neuen Gedanken, dass es den wahren Gott und die falschen Götter gibt, und beides miteinander unvereinbar ist. Diese Kraft der Negation fand ich das Entscheidende, deswegen habe ich den biblischen Monotheismus als „Gegenreligion“ bezeichnet. Das hat die Theologen skandalisiert. Sie haben meine These aber in einer Richtung verstanden, die ich nicht gemeint hatte. Ich würde allerdings weiterhin daran festhalten, dass die Unterscheidung zwischen wahr und falsch im Raum des Religiösen durch den biblischen – und zoroastrischen – Monotheismus eingeführt wurde. Die anderen Kulturen haben stattdessen ja die jeweiligen Götter ineinander übersetzt. Der Monotheismus besteht dagegen auf einer Intoleranz gegenüber dem als falsch Erkannten. Das war im Übrigen schon eine Erkenntnis von David Hume, sodass ich vollkommen überrascht war, dass eine Binsenweisheit aus dem Jahr 1756 Ende des 20. Jahrhunderts so viel Staub hat aufwirbeln können.
Welche Aspekte der Resonanz Ihrer Thesen durch Theologen haben Sie jetzt in Ihrem Konzept eines Monotheismus der Treue aufgegriffen?
Assmann: Erich Zenger, Rolf Rendtorff, Klaus Koch und viele andere sind ja nicht müde geworden, darauf hinzuweisen, dass von „wahr“ und „falsch“ im religiösen Sinne in der Tora gar keine Rede ist. Es war nun tatsächlich nicht das Problem des Mose, zwischen Wahrheit und Falschheit zu unterscheiden. Da haben diese Theologen vollkommen recht. Diese Unterscheidung gibt es, aber sie wurde von anderen, etwa Deutero-Jesaja, Jeremia und Ezechiel getroffen, also den verhältnismäßig späten, exilischen Propheten. Bei Mose geht es um etwas ganz anderes. Da habe ich ein paar Jahre gebraucht, um den Unterschied zu verstehen. Erst in der Debatte in der Internetzeitschrift Perlentaucher, in der ich wiederum mit vielen Theologen im Gespräch war, ist mir so richtig klar geworden, worum es eigentlich geht. Da ist mir der Begriff eines Monotheismus der Treue gekommen, der für den Mose-Stoff angemessen ist und noch einmal andere Unterscheidungen meint.
Soll der neue Akzent auf der Frage nach der Treue Israels zu seinem Gott das Verhältnis zwischen Religion und Gewalt im Monotheismus entspannen?
Assmann: Mit den im eigentlichen Sinne mosaischen Unterscheidungen des Buches Exodus ist durchaus auch Gewalt verbunden, aber auf keinen Fall eine Gewalt gegen die anderen Völker. Zu Gewalt gegen die Heiden wird nicht aufgerufen. Wo von dieser Unterscheidung die Rede ist, heißt es immer: Alle Völker sind mein, aber Du bist etwas Besonderes, mein Juwel-Volk. Es gibt aber innerhalb des Bundes die Unterscheidung zwischen denen, die den Bund bewahren und denen, die ihn verraten. Diese innere Unterscheidung wird aber auf die Völker Kanaans ausgedehnt. Die müssen vertrieben werden, damit das einwandernde Israel nicht zu deren abscheulichen Bräuchen verführt wird. Beim Thema Mischehen im Nehemia-Buch wird das historisch virulent, als die Juden aus dem Exil mit der Tora zurückkehren und versuchen müssen, sich mit den im Lande Verbliebenen und ihrer kanaanäisch-hebräischen Mischreligion zu arrangieren. Diese Landsleute galt es zur neuen Religion zu konvertieren. Daher kommt der Befehl, gegen sie mit Gewalt vorzugehen. Was „ausgerottet“ werden soll, sind nicht die vermeintlichen Ureinwohner, sondern die Bräuche der alten Religion. Dieser Aufruf hat dann aber später immer wieder zur Gewalt gegen Ureinwohner geführt: ob durch die Spanier in Südamerika, die Puritaner in Nordamerika oder durch die Buren in Südafrika. Die Gewalt gegen die Ureinwohner, ihre Vertreibung, wurde immer mit dem Verweis auf den biblischen Anti-Kanaanismus legitimiert. Im Ganzen des Alten Testaments ist das aber ein Randmotiv, das man weder apologetisch weginterpretieren noch polemisch zur Hauptsache aufbauschen sollte.
Einer der gegenläufigen Akzente wäre die zentrale Rolle der Schöpfungsspiritualität. Immerhin beginnt die Bibel gleich mit zwei Schöpfungserzählungen…
Assmann: Die Priesterschrift, die die Bücher Genesis und Exodus und damit den Schöpfergott und den Befreiergott zusammengefügt hat, hat die Härte des Exodusbuchs abgemildert. Das Buch Genesis zeichnet eine sehr friedfertige inklusivistische Vision aus: Zuerst hat Gott die Welt geschaffen mit allen Völkern. In diese Welt hinein platzt dann die Offenbarung, der exklusivistische, intolerante Ton mit den harten Worten gegen die Kanaanäer.
Wie ist das Verhältnis zwischen den Gewaltpotenzialen und den friedensstiftenden Impulsen der Bibel insgesamt zu beurteilen?
Assmann: Alle monotheistischen Religionen stellen das Motiv des Friedens – den Schalom, salam – in den Mittelpunkt. Die Gewalt, zu der es in Christentum und Islam gekommen ist, ist eine Verirrung aufgrund fehlgeleiteter Frömmigkeit, deren Auswüchse die Kirche auch bedauert und entsprechende Äußerungen zurückgenommen hat.
Gilt das also auch für den Islam? Sind da mit Blick auf die anderen beiden monotheistischen Religionen die Gemeinsamkeiten oder die Unterschiede größer?
Assmann: Auch der Islam will eine friedensstiftende Religion sein. Dass es nun diese gewaltaffinen islamistischen Bewegungen gibt, hat vor allem politische Gründe. Verletzter Stolz und Hoffnungslosigkeit spielen da eine wichtige Rolle. Die islamischen Gelehrten haben dagegen protestiert und sich vor allem vom unsäglichen „Islamischen Staat“ distanziert. Man darf allerdings auch nicht vergessen, dass ein Islam, wie er beispielsweise in Saudi-Arabien ausgeübt wird, voller Gewalt steckt und die Menschenrechte in unerträglicher Weise mit Füßen tritt. Daneben gibt es im Islam auch eine besondere Form kollektiver Mystik, deren Bruderschaften in Teilen gewaltaffin sind und auf jenem affektiven Monotheismus der Treue basieren, der ins Fanatische umschlagen kann. Insofern ist das eine Religion, die noch weit entfernt ist von dem, was man sich in einer globalisierten Welt unter Friedensstiftung vorstellt.
Und die nicht-monotheistischen Religionen? Auch in Ländern, die vom Buddhismus oder dem Hinduismus geprägt sind, kommt es immer wieder zu massiven gewalttätigen Auseinandersetzungen zwischen Anhängern unterschiedlicher Religionen.
Assmann: Der Buddhismus ist letztlich auch eine Religion, die zwischen wahr und falsch unterscheidet. Auch diese Religion ist in ihrer Frühzeit sehr gewaltsam vorgegangen, um ihre Vision einer wahren Religion mit Gewalt zu vertreten. Älter noch ist der Zoroastrismus, dessen Gathas voll von aggressiven Negationen stecken. Mit Blick auf die polytheistischen Religionen schließlich wird mir immer der Hinduismus vorgehalten. Das ist nun aber ein klassischer Fall von Nationalismus. Der Konflikt zwischen Hindus und Muslimen nach 1947, der zur Teilung von Pakistan und Indien führte, ist rein politisch zu sehen. Dort hat sich letztlich die jahrhundertelange muslimische Herrschaft Indiens entladen. Die hinduistische Gewalt hat deshalb weniger mit der Religion als mit einem politischen Hass zu tun. Das ist deshalb kein Gegenargument gegen meine Thesen – einmal abgesehen davon, dass ich auch gar nicht über die Brachial-Gewalt rede. Mir geht es nur um die Wurzeln jenes Fanatismus, den ich mit dem Monotheismus der Treue zusammenbringe. Auf der anderen Seite geht es um die Intoleranz, die mit der Unterscheidung von wahr und falsch zusammenhängt.
Wenn sich nun aber einmal mit einer gewissen Dringlichkeit heute die Frage stellt, wie man die Gewaltpotenziale der Religionen einhegen kann: Ist es da eine Lösung, bestimmte Bücher oder gar das ganze Alte Testament aus dem Kanon auszuscheiden, wie es der Berliner Bibelwissenschaftler Notger Slenczka vorgeschlagen hat?
Assmann: Entsprechende Entscheidungen haben ja schon die Priester in Jerusalem getroffen, als sie zwischen der Tora und den vorderen Propheten – in christlicher Terminologie: den Geschichtsbüchern – unterschieden und den Texten eine unterschiedliche Kanonizität zuerkannt haben. Da steht die Tora ganz oben als Kanonizität ersten Ranges, während die Geschichtsbücher und Propheten als zweitrangig eingestuft werden und die schöne Literatur bis hin zum Hohelied Salomonis die dritte Kategorie bildet. Da ist es doch eine weise Entscheidung, dass man beispielsweise das Buch Josua, in dem die Eroberung Kanaans berichtet wird, im Prozess der Kanonisierung aus der Tora herausgenommen hat. Insofern haben schon die frühen Rabbinen das Argument von Notger Slenczka vorweggenommen – wobei ich ihm natürlich gar nicht das Wort reden möchte. Das Alte Testament hat in meinen Augen eine viel größere kulturelle Bedeutung als das Neue. Es ist viel reicher, vielstimmiger und berührt mit seinen Erzählungen viel mehr Lebensbereiche.