Der Überlebende, Elie Wiesel, verstarb am 2. Juli 2016. Der Friedensnobelpreisträger des Jahres 1986 war zeitlebens auf der Suche nach einer Quelle der Hoffnung, wie er einmal in einem Interview sagte, einer Hoffnung, die den Massengräbern des 20. und 21. Jahrhunderts standhält. Verzweiflung, die andere berühmte Überlebende wie Jean Amery und Primo Levi ergriff und zum Selbstmord trieb, betrachtete er als späten Sieg der Täter über die Opfer. Weder am Menschen noch an Gott zu verzweifeln, trotz allem, was er erlebt hatte und was seither immer wieder geschehen ist und geschieht, das war die Obsession, von der praktisch jede Seite seines monumentalen Werkes zeugt. Es kreist wie kein anderes bedeutendes Werk aus der KZ- und GULag-Welt gleichermaßen um die Fragen nach Gott und nach dem Menschen, die dort systematisch erledigt werden sollten. Damit wurde Elie Wiesel zur Inspirationsquelle des jüdischen Denkens, der jüdischen und christlichen Theologie und des christlich-jüdischen Dialogs nach dem Holocaust.
Aus dem Shtetl
Elie Wiesels Erinnerungen heben an in der „Welt, die nicht mehr ist“. Seine Heimatstadt Sighet, damals ungarisch, heute rumänisch, blieb zeitlebens Orientierungspunkt auf der Weltkarte des Globetrotters: „Von Sighet nach Paris“, „von Sighet nach New York“, „von Sighet nach Jerusalem“, „von Sighet ins Weiße Haus“, „von Sighet nach Oslo“. In diesem Shtetl am Fuß der Karpaten ist Elie Wiesel als Sohn von Schlomo und Sara Wiesel (geb. Feig) 1928 zur Welt gekommen und mit seinen älteren Schwestern Hilda und Bea sowie seiner jüngeren Schwester Zipora behütet aufgewachsen. Die Eltern betrieben ein kleines Lebensmittelgeschäft, in dem die Kinder aushalfen. In Cheder und Jeschiwa lernte der junge Wiesel Tora und Talmud, er versuchte aber auch schon früh, in die Geheimnisse der jüdischen Mystik, der Kabbala, einzudringen. Ein Vorbild war sein chassidischer Großvater Dodje Feig, von ihm hat er chassidische Geschichten und Gesänge gelernt, die er noch im hohen Alter in der Carnegie-Hall in New York vorgetragen hat.
Das faschistische Ungarn öffnete erst im Frühjahr 1944 den Deutschen die Grenzen. Die Nazis organisierten mithilfe der ungarischen Behörden und Bevölkerung blitzschnell die Vernichtung von mehr als einer halben Million ungarischer Juden. Im Mai 1944 war Sighet an der Reihe. In seinem Erinnerungsbuch „Und die Welt hat geschwiegen“, das 1956 in Buenos Aires zuerst auf Jiddisch, 1958 unter dem Titel „La Nuit“ auf Französisch und 1962 erstmals auf deutsch erschien (Neuausgabe: Freiburg 2013), beschrieb Wiesel, wie reibungslos die Gettoisierung und Deportation der meist ahnungslosen und überrumpelten 20 000 Juden seiner Stadt vor sich ging.
Dem Hunger und Durst in den Viehwaggons folgte die Selektion auf der Rampe von Auschwitz-Birkenau, wo Wiesel seine Mutter und seine Schwester Zipora zum letzten Mal sah. Sie wurden mit allen anderen nichtarbeitsfähigen Frauen, Kindern, Alten und Kranken sofort in den Gaskammern erstickt und verbrannt. Elie Wiesel klammerte sich an seinen Vater, gab sich älter aus als er war und wurde in das mörderische Arbeitslager Auschwitz III (Monowitz) eingewiesen. Sein Vater starb nach dem grauenhaften Todesmarsch im Winter 1944/1945 ins „Reich“ an Schwäche, Krankheit und Schlägen im KZ Buchenwald. Dort wurden Elie Wiesel und seine Leidensgenossen im April 1945 von den Amerikanern befreit.
Wiesel wurde zusammen mit anderen überlebenden Jugendlichen in jüdische Erholungsheime nach Frankreich verschickt und kam nach Paris. Dort folgten Studenten- und Hungerjahre, in denen er die französische Sprache erlernte, die er meisterhaft beherrschte und die bis zuletzt seine Dichtersprache blieb. Sein Studium der Philosophie, Psychologie und Literatur an der Sorbonne unter dem Mentor Jean Wahl wurde für ihn zum großen Bildungserlebnis. Camus, Kafka und Dostojewski wurden zu Modellen des späteren Memorialisten und Romanciers. Er setzte seine Talmudstudien unter dem obdachlosen Talmudisten Mordechai Schuschani fort, ein genialer Sonderling, der in dieser Zeit auch Emmanuel Levinas im Talmud unterwies. Wiesel verdiente sich sein knappes Auskommen als Journalist für jiddische und hebräische Zeitungen und Periodika und wurde zu einem „rasenden Reporter“ auf allen Kontinenten.
1956 wanderte er in die USA aus und ließ sich in New York nieder. Dort heiratete er und bekam mit seiner Frau Marion 1972 seinen Sohn Elisha. Er trat eine akademische Karriere an der City University of New York an und war von 1976 bis 2013 „Professor in the Humanities“ an der Boston University.
Schwarzes Loch
Elie Wiesel wurden im Laufe der Zeit viele Etiketten angehängt: „Shtetl-Jude“, „Survivor“, „Rasender Reporter“, „Intellectuel engagé“, „Holocaust-Theologe“, „Hiob von Auschwitz“, „Refusnik-Anwalt“, „Storyteller“, „Neo-Rebbe“, „Wandelnder Qaddisch“, „Holocaust-Industrieller“. Ebenso facettenreich ist sein Werk: Artikel, Essays, Romane, Novellen, Dialoge, Dramen, Kantaten, Übersetzungen, Reportagen, Reiseberichte, Porträts, Legenden, Parabeln, Memoiren, Interviews, Reden, Buchrezensionen, Theaterkritiken, Bibelkommentare, Predigten, Theologietraktate. Dennoch zerfällt das Lebenswerk mit mehr als 50 Büchern nicht in lauter Einzelteile.
Elie Wiesel hat die Einheit seines Werkes in einem Bild beschrieben: Es drehe sich wie „konzentrische Kreise“ um „Die Nacht“. Nach der äußeren Befreiung aus dem KZ versuchen seine Romanhelden, deren Namen sich auf „El“, Gott, anfangs- oder endreimen – Elischa, Elieser, Michael, Raphael, Katriel, Paltiel, Asriel, Ariel und andere mehr, auch innerlich freizukommen – meist vergeblich. Die Romane, deren moralische Atmosphären durch Tageszeiten von der Morgen- bis zur Abenddämmerung charakterisiert werden, schildern unterschiedliche Vergangenheitsbewältigungen: „Militanz“ (L’Aube, 1960), „Selbstmord“ (Jour, 1961), „Wahnsinn“ (Ville de la Chance, 1962), „Freundschaft und Glauben“ (Portes de la forêt, 1964), „Zionismus“ (Le mendiant de Jérusalem, 1968), „Schweigen“ (Le serment de Kolvillág), „Rache“ (Le cinquième fils, 1983) – und immer wieder Wahnsinn (Le crépuscule, au loin, 1987). Um das schwarze Loch der Nacht kreisen in mehr oder weniger großen Abständen auch die übrigen literarischen, essayistischen und judaistischen Arbeiten von Wiesel. Seine sämtlichen Werke, sagt er selber, seien nichts als Kommentare zu diesem Testament eines Zeugen.
Das Reich der Nacht lag für Elie Wiesel aber keineswegs nur in der Vergangenheit, es dauert auch nach der Befreiung des Lagers am 27. Januar 1945 fort. Seither gab es zahlreiche Genozide, und Konzentrationslager wie das nordkoreanische Haengyŏng gibt es bis heute. Überleben verpflichtet, wie Wiesel in seiner Nobelpreisrede sagte. Wenn Gott und die Welt zu Auschwitz geschwiegen haben, so wolle er zu dergleichen nicht schweigen. Mit seiner moralischen Autorität hat er zu allen großen humanitären Katastrophen des vorigen Jahrhunderts Stellung bezogen: zum sowjetischen GULag, zur südafrikanischen Apartheid, zum Rassismus in den USA, zu den Genoziden in Biafra, Kambodscha und Bosnien, zum Kriegsrecht in Polen – und hat dabei insbesondere auf das Schicksal der Schwächsten, der Kinder hingewiesen. Die Transformation des eigenen Leidens in humanitäre Aktion, das war für ihn der Sinn der Erziehung nach dem Holocaust. Elie Wiesel sah sich vor allem als Erzieher, und sein Werk stellt in der Tat eine beträchtliche Moralressource für Bildung und Unterricht dar.
Renouveau juif
In Wiesels Werken, vor allem in seinen religiösen Schriften, spielt die theologische Reflexion eine zentrale Rolle. Wiesel zählte neben André Neher und Levinas zu den Exponenten des renouveau juif in Frankreich nach 1945. Die Rückkehr zu den jüdischen Quellen vollzog sich in diesem renouveau als deren Aktualisierung und ist dem Historismus der deutschsprachigen Wissenschaft des Judentums und Judaistik diametral entgegengesetzt. Ihr Interesse war nicht primär philologischer oder historischer Natur, die Frage war vielmehr, welche Lehren die Tradition für die vom Holocaust gezeichnete Zeit bereithält.
Während Neher die Bibel- und Levinas die Talmudstudien erneuerten, war Wiesels Spezialgebiet zunächst der Chassidismus, dem er sich familiär verbunden fühlte. Wie Martin Buber die chassidischen Legenden in der ersten Jahrhunderthälfte dem assimilierten deutschsprachigen Judentum auf lebensphilosophische Weise nahe brachte, so Elie Wiesel, dem assimilierten französischen und amerikanischen Juden der zweiten Jahrhunderthälfte auf existenzialistische Weise. Wiesel wurde im jüdischen Revivialismus der Siebziger- und Achtzigerjahre selbst als eine Art „Rebbe“ betrachtet.
Das religiöse Werk Wiesels geht aber weit darüber hinaus. Es ist eine einzigartige Interpretation und Re-Interpretation der gesamten jüdischen Überlieferung. Bibel, Talmud und Midrasch, Kabbala und Chassidut werden im Schatten von Auschwitz rekontextualisiert und reevaluiert. Auschwitz bildet für Wiesel ein point of no return, eine naive Rückkehr zum status quo ante war für ihn unmöglich, die Quellen müssen „über die Zeit der Qualen hinweg“ neu gelesen und verstanden werden. Wiesel-Forscher sprechen von Ré-écriture (Neher), Re-reading oder Mad Midrash (Emil L. Fackenheim). Elie Wiesel selbst forderte 1985: „Wir müssen einen neuen Talmud schreiben“. Diese Relektüre wird in der Forschung mit der Vorsilbe „Neo-„ angezeigt: „Neo-Chassidismus“, „Neo-Midrasch“ (Fackenheim).
An sich ist die Relektüre der Heiligen Texte im Licht gegenwärtiger Erfahrungen nicht neu, die jüdische Tradition besteht schon seit biblischen Zeiten aus solchen Relektüren. Wie die jüdischen Interpreten der früheren Generationen trägt auch Wiesel die Erfahrung seiner Generation in die Tora ein und schreibt auf diese Weise einen „Neuen Midrasch“ (Ernst Simon), einen „Midrasch zum Midrasch“ (David Banon), einen Kommentar zu den Kommentaren. Er knüpft insbesondere an die radikalen Revisionen der Tradition nach der Tempelzerstörung an, „Churban“ genannt, eine Bezeichnung, die er schließlich dem von ihm geschaffenen Begriff „Holocaust“ vorzog. Neu ist die Brutalität des Bruchs. Ob das Volk nach dem Völkermord einfach weiter machen und glauben kann wie bisher, bezweifelt Wiesel. Michael Berenbaum nennt ihn deshalb einen Häretiker, allerdings „einen Häretiker mit profunden jüdischen Erinnerungen, einer tiefen Liebe zur Tradition und einem tiefen Respekt für sie“.
Wiesels Werk ist aber mehr als religiöse Holocaustliteratur. In seinem journalistischen und essayistischen Werk hat er alle Wendepunkte und Krisen dieses „jüdischen Jahrhunderts“ kommentiert: Den „Untergang des Shtetls“, den Holocaust, die Odyssee des Exodus 1947, die Staatsgründung Israels, den Eichmann-Prozess, den Sechstagekrieg, die Öffnung des Eisernen Vorhangs und den Auszug der sowjetischen Juden, die Bitburg-Affäre, die Denkmalstreite sowie die literarischen, filmischen, künstlerischen, philosophischen und theologischen Niederschläge dieser Ereignisse. Die Beharrlichkeit dieser unverwechselbaren und unermüdlichen jüdischen Stimme bürgt für die Kontinuität der jüdischen Existenz über die Abgründe des antijüdischen Jahrhunderts hinweg. Als anerkanntes Sprachrohr und Gewissen seiner Generation hat er maßgeblich die jüdische Identität nach dem Holocaust mitgeprägt.
Elie Wiesel hatte sich anders als sein Lehrer Abraham Joshua Heschel nicht direkt am christlich-jüdischen Dialog beteiligt. Das liegt vor allem daran, dass er sich nicht als professioneller Theologe verstand. Die großen Themen dieses Dialogs: Gottesbilder, biblische Hermeneutik und Exegese, jüdisches und christliches Gebet waren nicht seine Themen. Gleichwohl hat sein Werk Implikationen für die christliche Theologie nach Auschwitz, die an einer grundsätzlichen Revision des christlichen Glaubensverständnisses interessiert ist, und zwar durch Überwindung des Gegensatzes zum Judentum und durch Einbeziehung der jüdischen Traditionen und Interpretationen.
Sowohl klassische Ansätze einer von Auschwitz berührten Theologie wie der von Johann Baptist Metz (Memoria Passionis. Ein provozierendes Gedächtnis in pluralistischer Gesellschaft, Freiburg 2006) wie auch aktuelle Entwürfe, wie der von Jan- Heiner Tück (Gottes Augapfel. Bruchstücke zu einer Theologie nach Auschwitz, Freiburg 2016) beziehen sich auf die scharfen Anfragen Wiesels an die christliche Theologie. So reagierten beispielsweise der amerikanische Theologe Robert McAfee Brown ebenso wie Dorothee Sölle, Metz und der Alttestamentler Rolf Rendorff auf Wiesels Provokation: „Der nachdenkliche Christ weiß, dass in Auschwitz nicht das jüdische Volk gestorben ist, sondern das Christentum“ (Harry James Cargas, Responses to Elie Wiesel, New York 1978, 152).
Christen sollten sich mit den Tätern befassen
Sie alle haben eine radikale Revision des christlichen Antijudaismus und der Substitutionslehre gefordert.
McAfee Brown, Freund Wiesels und ausgezeichneter Kenner seines Werks, hat eine christlich-theologische Interpretation des Gesamtwerks vorgelegt, die Wiesel in einem Interview einmal als die beste Interpretation seiner Gedanken bezeichnet hat (Elie Wiesel. Zeuge für die Menschheit, Freiburg 1990). Wiesel unterhielt intensive Kontakte zu christlichen Gelehrten und nahm an vielen christlichen Konferenzen teil. Zu nennen sind hier die Namen der Ordensschwester Carol Rittner, des christlichen Philosophen John K. Roth und des französischen Kardinals Jean-Marie Lustiger. Er folgte auch Einladungen an christliche Institutionen in Deutschland wie der Evangelischen Akademie Loccum (1985), der Katholischen Akademie der Diözese Rottenburg-Stuttgart (1995) oder des Katholikentages 1992 in Karlsruhe.
Wiesels Vorschlag, Christen sollten sich in erster Linie mit den Tätern befassen, während er es als seine Aufgabe betrachtete, sich den Opfern zu widmen, ist eine bedenkenswerte Arbeitsteilung. Sie verhindert eine Verdrängung der Schuldzusammenhänge durch vorschnelle Identifikation mit den Opfern im Täterkollektiv und eine ungesunde Faszination für die Täter im Opferkollektiv. Jedenfalls hat das Christentum eine Geschichte des Antijudaismus aufzuarbeiten, die von den Kirchenvätern über die Reformation bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts reicht. Der christlich-jüdische Dialog hat seit dem Zweiten Vatikanischen Konzil und zahlreicher Erklärungen der protestantischen Kirchen beachtliche Fortschritte gemacht, er hat Generationen von christlichen Theologen geprägt, die Freundschaft ist jedoch durch eine neue, gegen den Staat Israel gerichtete Feindschaft gefährdet. Elie Wiesel, der zeitlebens ein Anwalt des Existenzrechtes des Staates Israel war, bleibt ein Mahner.
Zunächst gilt es, das Werk Wiesels für die Nachwelt zu sichern, auch und gerade im deutschsprachigen Raum. Viele Titel sind nicht mehr lieferbar, andere sind noch gar nicht ins Deutsche übersetzt. Eine wissenschaftlich kommentierte Ausgabe tut Not. Umfangreiche Quellenforschungen in den Wiesel-Archiven in Boston, New York, Paris und Jerusalem stehen an. Das Elie Wiesel-Archiv an der Boston University umfasst alleine etwa eine Million schriftlicher Dokumente, die digital aufbereitet und ausgewertet werden. Die „Forschungsstelle Elie Wiesel“ an der Universität Tübingen und der Hochschule für Jüdische Studien in Heidelberg beteiligt sich an der internationalen wissenschaftlichen Sichtung und Sicherung des Nachlasses.