Herr Triegel, Sie haben zuletzt Fenster für die katholische Schlosskirche in Köthen gestaltet. In ihrer Ästhetik lassen sich die monumentalen Fenster ganz auf die strenge, klassizistische Architektur der Kirche ein. Auch inhaltlich bleiben sie ganz klassisch. Zu sehen ist die Pietà und die Verkündigung auf der einen und die Marienkrönung sowie Adam und Eva auf der anderen Seite. Die himmlische Krönung Mariens durch die Dreifaltigkeit – das ist ein Thema, das heute selbst vielen Christen fremd vorkommen dürfte. Welchen Zugang haben Sie dazu gefunden?
Michael Triegel: Ich konnte mit dem Thema sehr viel anfangen. Die Schlosskirche hat das Patrozinium „Sankt Maria Himmelfahrt“. Wenn ich dort die Marienkrönung darstelle, heißt das für mich: Was hier an Maria vollzogen wird, ist das, worauf wir hoffen und wonach wir uns sehnen. Die Magd des Herrn wird zur Königin. Das hat für mich etwas sehr Anrührendes. Ich wollte in Köthen zudem nicht gegen den Raum arbeiten. Wenn der Raum für mich nicht nur akzeptabel, sondern großartig ist, warum soll ich das für meine Arbeit nicht nutzen und sich beides aneinander steigern lassen?
Normalerweise ist der Umgang mit religiösen Themen in Ihren Arbeiten geprägt durch eine überraschende Zusammenführung unterschiedlicher Elemente, die Fragen aufkommen lässt, Irritationen auslöst, gelegentlich auch in Abgründe führt. All das scheint hier abwesend zu sein. Täuscht dieser Eindruck?
Triegel: Es war eine bewusste Entscheidung, in Köthen tatsächlich anders vorzugehen. Ich sehe es als einen Akt künstlerischer Freiheit an, dass ich hier vorwiegend das Heile und Schöne dargestellt habe – einfach, weil es das Thema von mir verlangte.
Was antworten Sie Kritikern, die das für affirmativ oder gar oberflächlich halten?
Triegel: Wir haben uns daran gewöhnt, nur den Widerspruch, das Problematische, das Zerrissene als das Wahrhaftige und Authentische anzusehen. Selbstverständlich war die Kritik der Avantgarde an der Verlogenheit und Oberflächlichkeit der bürgerlichen Ästhetik des 19. Jahrhunderts berechtigt. Schauen Sie sich zum Beispiel einen französischen Salonmaler wie Alexandre Cabanel an, der heute seltsamerweise wiederentdeckt wird. Er malt 1863 seine „Geburt der Venus“ und knüpft damit natürlich an das gleichnamige Bild von Sandro Botticelli an. Botticellis Venus ist, ganz im Geist der Renaissance, ein Versuch, das platonische Ideal des Guten, Wahren und Schönen ins Bild zu bringen. Das hat wenig mit Erotik zu tun. Vierhundert Jahre später nennt Cabanel sein Bild ebenfalls „Geburt der Venus“. Was er aber malt, ist ein lasziver Akt mit üppigsten Kurven, der sich auf Wellen räkelt. Er nutzt eine Pathosformel zur Beglaubigung seines Bildes. Natürlich ist das verlogen! Es ist völlig nachvollziehbar, dass etwa ein Otto Dix nach dem Ersten Weltkrieg die Grausamkeiten der Schlachtfelder darstellt. Wenn man allerdings heute, über hundert Jahre später, immer noch behauptet, nur das Problematische sei wahrhaftig, ist das eine Haltung, die erneut zum Klischee geworden ist. Jetzt ist es fast schon wieder eine Provokation, sich dieser Zuschreibung zu verweigern. Vielleicht mögen Annahme und Bekenntnis heute schwieriger nachzuvollziehen sein als Zweifel und Kritik. Das kann uns doch auch zu denken geben.
Nun gibt es aber doch eine Irritation in den Köthener Fenstern. Christus und Gottvater tragen Ihre Gesichtszüge. Maria wiederum gleicht Ihrer Frau und der Verkündigungsengel Ihrer Tochter.
Triegel: Dass Christus in den Fenstern an meine Züge erinnern könnte, ist mir tatsächlich am Anfang nicht bewusst gewesen. Es mag so sein, wie Leonardo da Vinci in seinem Traktat über die Malerei ganz neuplatonisch schreibt, dass die Seele des Künstlers immer geneigt sei, sich selbst zu bilden.
Albrecht Dürer hat im Jahr 1500 ein „Selbstbildnis im Pelzrock“ gemalt, das frappierend an alte Christusbilder erinnere. Was sagen Sie zu dem Vorwurf, es sei blasphemisch, wenn sich Christus und Maler bildlich so sehr annähern?
Triegel: Mit diesem Bild – das mir übrigens sehr viel bedeutet – beginnt ein Problem, das uns bis heute beschäftigt. Es wird oft so interpretiert, dass hier, am Anfang der Neuzeit, der Künstler als zweiter Deus creator an die Stelle Gottes tritt. In der „Winterreise“ heißt es: „Will kein Gott auf Erden sein, sind wir selber Götter.“ Vielleicht ist es so, dass ich dieses Problem, mehr oder weniger bewusst, auch an mir selber durchexerziere. Es hat aber auch einen künstlerischen Sinn, den Figuren konkrete Gesichter zu geben. Maria und den Verkündungsengel habe ich durchaus bewusst nach dem Vorbild meiner Frau und meiner Tochter gestaltet. Denn ich weiß nicht, wie Christus, Maria oder der Engel aussahen. Ich muss die Figuren beglaubigen, indem ich ihnen ein menschliches Antlitz gebe, das einem auch auf der Straße begegnen könnte. Sonst bleiben es einfach nur idealische Figuren.
Es gibt die Auffassung, dass durchaus eine verbindliche Tradition existiert, wie Christus aussah: Mittelscheitel, lange Haare, schlanke Nase, Bart… Man könnte als idealtypisches Beispiel etwa die Christusikone vom Katharinenkloster nennen.
Triegel: Dieser Tradition bleibe ich ja grundsätzlich treu. Aber trotzdem stellt sich die Frage: Wie stellt man Christus dar? Ich kann mit Ikonen, so schön sie sind, nicht viel anfangen. Auch die Behauptung, es gehe alles auf ein Urbild zurück, das der Maler nur zu reproduzieren braucht, sagt mir nicht viel. Mir ist die westliche Tradition seit der Renaissance näher. Bei Caravaggio sieht Christus auf jedem Bild anders aus. Das finde ich sehr anrührend. Denn jedes Bild ist nur eine Näherung.
Gibt es dabei für Sie Grenzen? Über den Christus, den Michelangelo in der Sixtinischen Kapelle malte, heißt es, er sehe mit seinem bartlosen Gesicht aus, wie der Apoll vom Belvedere. Manch einer sieht darin eine Provokation.
Triegel: Wo genau wollen Sie die Grenze ziehen? Den Synkretismus der Renaissance kann man durchaus als theologisch problematisch ansehen. In der Kunst bietet mir der Gedanke an Apoll, des Überwinders der Schlange Python, des Gottes des Lichtes und der Heilung trotzdem weitreichende Assoziationsmöglichkeiten. Haben wir eine Vera ikon? Oft wird in diesem Zusammenhang auf das Grabtuch von Turin oder den Schleier von Manoppello verwiesen. Ich sehe bei diesen Dingen ehrlich gesagt eine gewisse Gefahr: Dass nämlich auf einmal der Gegenstand selbst und das, wofür er stehen soll, so sehr in eins fallen, dass die Verehrung gefährlicherweise vom Urbild auf das Abbild überschlägt. Das finde ich blasphemischer, als wenn Christus aussieht, wie der Apoll vom Belvedere – und dabei klar bleibt, dass es sich nur um ein Bild handelt. Über den Schleier von Manoppello heißt es, er sei nicht von Menschenhänden gemacht. Als Maler muss ich sagen: Dieses Bild ist menschengemacht: Die kleinen Zähnchen, der Mund, die Haare, die Proportionen des Gesichts – das hat nichts Fotografisches oder Realistisches. Man sagt, das Tuch bestehe aus Muschelseide und dieses Material sei eigentlich nicht bemalbar. Aber wenn man nicht weiß, wie es hergestellt wurde, heißt das doch nicht, dass es nicht doch hergestellt werden konnte.
Der Schleier von Manoppello wird gelegentlich mit dem legendären Schweißtuch der Veronika identifiziert. Dieses Tuch taucht in einem Ihrer Werke auch auf; nämlich in dem großen Gemälde „Deus absconditus“ von 2013. Allerdings ist auf dem Tuch nichts zu sehen. Vielmehr ist hinter dem Schleier der Gekreuzigte zu erahnen. Nur seine Hände und seine Zehenspitzen sind zu erkennen. Was hat es damit auf sich?
Triegel: Es gibt von Francisco de Zurbarán eine Darstellung des Schweißtuchs der Veronika, das oben an drei Punkten fixiert ist – wobei die Dreizahl sicher kein Zufall ist. Ganz am Anfang habe ich nur gedacht, ich muss ein solches Tuch malen, das an drei Stellen aufgehängt ist, und zwar sehr groß. Es ist ja nicht so, dass ich meine Bilder sozusagen am Schreibtisch auf ein bestimmtes Thema hin konzipiere. Es beginnt vielmehr mit einer bestimmten Bildvorstellung. Selbstverständlich füttere ich mich pausenlos mit Inhalten und lese viel. Aber der erste Moment der Bildfindung stammt aus dem Unterbewussten, aus Träumen und Tagträumen. Da taucht etwa das Bild einer stürzenden Madonna mit Messer in meiner Vorstellung auf und ich denke: Das ist so ein intensives Bild, das muss ich jetzt malen. Wenn ich mit dem Bild beginne, überlege ich, warum mir das Motiv nicht aus dem Kopf geht und was es mit mir zu tun hat. Wenn ich dann glaube, das ungefähr herausgefunden zu haben, kann ich versuchen, das Gemälde in eine Richtung zu führen, es in einem bestimmten Sinne aufzuladen, es mit ikonografischen Verweisen zu versehen, damit es lesbar wird. Ich will ja keine Beklopptenkunst machen, die für einen Rezipienten nicht mehr nachvollziehbar ist. Gleichzeitig muss aber auch immer etwas daran in der Schwebe bleiben, es muss ein Geheimnis sein. Auch wenn es pathetisch klingt: Ein Bild muss klüger sein, als sein Autor. So war es auch bei „Deus absconditus“. Am Anfang stand eine Bildvorstellung. Die nächste Frage war, was sich hinter dem Tuch befindet, wenn es so groß ist. Da kam das Kreuz hinzu. Und dann wurde mir langsam bewusst, in welche Richtung es gehen kann. Am Ende glaube ich verstanden zu haben, dass das, was ich gemalt habe, durchaus nicht nur mit meiner eigenen Befindlichkeit zu tun hat, sondern auch mit einem Problem unserer Zeit.
Was für ein Problem meinen Sie?
Triegel: Wir füllen die Leere in unserem Leben, indem wir bis zum Erbrechen konsumieren. Im Hintergrund ist dieses große, schwarze Nichts zu erkennen, das aber mit Gegenständen zugestellt ist, die Erlösung versprechen. Da ist der auferstandene Christus im Holzkasten: es handelt sich eigentlich nicht um den Auferstandenen, sondern um eine kostbare gotische Figur, also etwas Totes. Die alte Schreibmaschine der Marke „Ideal“ schwebt über dem Tisch, weil platonische Urbilder natürlich etwas Schwebendes haben müssen, aber es ist eigentlich ein kiloschwerer Gegenstand, der längst keine Texte mehr produziert. Die Gestalt an der Schreibmaschine hat keine Hände und kein Gesicht, nur noch prunkende Gewänder sind zu sehen. Die Überbleibsel eines Opfers, zwei Schafsschädel, liegen in einem Karton unter dem Tisch. Unten ist ein Zettel zu sehen, auf dem ein Diagramm in spätscholastischer Weise das Geheimnis der Dreifaltigkeit erklärt: „Pater est Deus est Filius est Deus est Spiritus Sanctus; Pater non est Filius non est Spiritus Sanctus…“. Doch dieser Zettel mit der Rationalisierung des Geheimnisses hängt über den Füßen des Gekreuzigten und verdeckt den Blick auf die Wunden, das Leiden, den Körper. Die rationale Erklärung verstellt das Geheimnis. Es bleibt das Tuch, und das, was sich dahinter befindet. Gehalten wird es von einem Seil, das aus dem Bild herausführt. Vielleicht können wir an dem Seil ziehen, aber es ist nicht sicher, ob sich dann auch das Tuch in Bewegung setzt. Die Bewegung muss von oben kommen.
Hat dieses Bild etwas mit Ihrer persönlichen Haltung zum Glauben zu tun?
Triegel: An Ostern 2014 wurde ich in Dresden getauft. Das Bild ist genau in der Zeit meiner Taufvorbereitung entstanden. Ich habe lange Zeit eine große Sehnsucht nach dem Glauben verspürt und habe versucht, mir zwanghaft selbst Damaskuserlebnisse zu verschaffen. Aber jedesmal hat mein Kopf gesagt: An Dinge wie die Auferstehung des Fleisches oder die Unbefleckte Empfängnis kannst du doch nicht allen Ernstes glauben. Irgendwann habe ich gemerkt, dass ich den Glauben nicht produzieren oder erzwingen kann. Es bedarf der Gnade.
Nach der Einweihung der Köthener Fenster war in der „Zeit“-Beilage „Christ und Welt“ in Bezug auf ihre Taufe zu lesen: „Er fand, wonach er sich so lange verzehrte. Was kann danach überhaupt noch kommen?“
Triegel: Über diesen Artikel habe ich mich sehr geärgert. Das ist doch ein völliges Missverständnis dessen, was Taufe bedeutet. Die Taufe ist für mich kein Schlusspunkt, sondern der Anfang meines Glaubensweges. Darum sind auch jetzt, wo ich getauft bin, nicht alle Fragen und Zweifel verschwunden. Im Gegenteil: Die Fragen und die Zweifel haben jetzt einen viel existenzielleren Charakter. Vorher handelte es sich vielleicht nur um ein ästhetisches und intellektuelles Spiel. Wenn ich jetzt Zweifel artikuliere, dann bedeutet das immer auch eine Infragestellung meiner Lebensentscheidung.
Was sehen wir, wenn der Schleier fällt? Thomas von Aquin dichtet: „Einst am Kreuz verhüllte sich der Gottheit Glanz, hier ist auch verborgen deine Menschheit ganz“. Die Hostie ist nur eine weiße Brotscheibe. Was lässt sich von der verhüllten Gottheit tatsächlich darstellen?
Triegel: Das ist die künstlerische Gretchenfrage! Ich glaube, man muss sich wirklich bewusst sein, dass jedes Bild eine Näherung ist. Für mich als figürlich arbeitenden Künstler geschieht diese Näherung über das Gute, Wahre und Schöne im Menschlichen. Gott ist in Jesus Christus Mensch geworden und der Vater spiegelt sich in der Menschheit des Sohnes. Insofern kann das Menschliche ein Spiegel des Göttlichen sein – immer wissend, dass es nur ein Spiegel ist! Darum ist mir das Paulus-Wort so wichtig: „Jetzt schauen wir in einen Spiegel und sehen nur rätselhafte Umrisse, dann aber schauen wir von Angesicht zu Angesicht. Jetzt erkenne ich unvollkommen, dann aber werde ich durch und durch erkennen, so wie ich auch durch und durch erkannt worden bin.“ Das ist für mich zum künstlerischen Credo geworden.
Der Bildtitel „Deus absconditus“ – der verborgene Gott – lässt an Nikolaus von Kues und seine Schrift „De deo abscondito“ von 1445 denken, in der es heißt: „Ich weiß, dass alles, was ich weiß, nicht Gott ist, und dass alles, was ich erfasse, ihm nicht ähnlich ist, sondern dass er vielmehr alles übersteigt.“ Derartige Elemente einer negativen Theologie werden ja auch bemüht, um in zeitgenössischen Kirchenbauten gänzlich auf Bilder zu verzichten. Über die leere Wand in der 1930 erbauten Aachener Fronleichnamskirche von Rudolf Schwarz gibt es weitreichende theologische Spekulationen. Manche Theologen sagen etwa, die Leere sei ein Zeichen für die Nichtdarstellbarkeit Gottes.
Triegel: Ich kann den Gedanken nachvollziehen, meine aber trotzdem, dass wir als Menschen im Hier und Jetzt doch die Möglichkeit einer Näherung brauchen. Ich muss als Gläubiger irgendwo anknüpfen können. Das absolute Nichts ist mir da zu wenig. Auch in der Leipziger Propsteikirche, in die wir jeden Sonntag gehen, gibt es keine Bilder. Für mich ist es schon ein Akt der Demut, sich Sonntag für Sonntag vor diese leere Wand mit diesem fürchterlich bemusterten Kreuz zu setzen. Um sich ästhetisch aus der Verlegenheit zu ziehen, verzichtet man auf Bilder und macht es sich damit vielleicht doch zu einfach.
Sie sind in der DDR aufgewachsen. Nach der Wende sind Sie für vier Wochen nach Italien gereist und haben in Rom all die Schätze der christlichen Kunst gesehen, die Sie bislang nur aus Reproduktionen kannten. Was bedeutete diese Reise für Ihre Entwicklung?
Triegel: Ich habe bei dieser Reise einige für mich sehr wichtige Erfahrungen gemacht. Als ich bei einem Besuch in Il Gesù, der Mutterkirche des Jesuitenordens, vor dem Hochaltar stand, hatte ich das Gefühl, jetzt eigentlich einen Kniefall machen zu müssen. In diesem Moment ist bei mir eine Frage aufgetaucht, die mich seitdem nicht mehr losließ: Warum willst du vor einer Sache einen Kniefall machen, an die du doch nicht glaubst? Mein erster Antwortversuch war: Es ist die Kunst, vor der du in die Knie gehst – in dem Sinne, wie es Richard Wagner in seiner Schrift „Religion und Kunst“ formuliert: „Man könnte sagen, dass da, wo die Religion künstlich wird, der Kunst es vorbehalten sei, den Kern der Religion zu retten.“ Aber das gelingt ja nicht wirklich, auch bei Wagner nicht. Sein „Parsifal“ ist ein tolles Kunstwerk, aber er rettet doch nicht den Kern der Religion! Welch grandiose Hybris! Also kam mir ein anderer Gedanke: Die Form zwingt mich in die Knie. Wenn die Form mich so begeistert, was ist dann mit dem Inhalt? Ist er einfach nur verschüttet, oder ist er derart abhandengekommen, dass die Form mit neuen Inhalten gefüllt werden muss? Ein zweites wichtiges Erlebnis war der Besuch in der Kirche San Luigi dei Francesi mit der Matthäuskapelle von Caravaggio. Dort habe ich zum ersten Mal bewusst wahrgenommen, dass Kunst eben kein Selbstzweck ist, sondern immer auch eine Funktion hat. Caravaggio nimmt in dieser Kapelle in ganz besonderer Weise auf den Raum Bezug. Es gibt dort ein halbrundes Fenster, durch das das Licht in die Kapelle einfällt. Wenn man die Bilder betrachtet, merkt man, dass die Figuren auf den Bildern so beschienen sind, als erhielten sie ihr Licht aus diesem halbrunden Fenster. Beim Martyrium des Matthäus kommt das Licht von links, bei der Berufung von rechts und bei der Inspiration von oben. Damit wird die Distanz von Kunstwerk und Betrachter enorm verkleinert. Das funktioniert aber nur an genau diesem Ort mit genau diesen Lichtverhältnissen. Diese Bilder sind nicht für eine Museumswand entstanden oder für eine Galerie, und sie mussten auch innerhalb eines Kultus’ funktionieren. Es hat darum für mich durchaus einen Reiz, zuweilen Aufträge anzunehmen, auch von der Kirche.
Wie geht es mit dem Ethos eines modernen Künstlers zusammen, religiöse Auftragskunst anzufertigen?
Triegel: Ich habe dadurch die Möglichkeit, der Kunst eine Relevanz zurückzugeben, die sie für viele Leute heute verloren hat. Wenn ich ein Altarbild male, dann sind es nicht in erster Linie Kunstkenner, die es betrachten, sondern Beter. Ein solches Gemälde muss sich jeden Sonntag wieder bewähren. Entscheidend ist aber, dass ich mit dem Auftrag etwas anzufangen weiß, dass das Thema etwas mit mir zu tun hat. Ansonsten kann ich es nicht machen.
Aber wo bleibt da der Anspruch der Kunst auf Autonomie?
Triegel: Meine Autonomie besteht darin, mich zu entscheiden, ob ich den Auftrag annehme, was ja auch vergleichsweise selten geschieht, oder eben nicht. Ich mache den Auftrag dann zu meinem eigenen. Dabei erlebe ich auch Überraschungen: Ich muss ja mit Dingen umgehen, die mir im hortus conclusus meines Ateliers möglicherweise nie begegnet wären: Da sind die Vorstellungen und Erwartungshaltungen der Auftraggeber, aber natürlich auch die Qualitäten des Raumes, für den das Werk angefertigt werden soll. Man könnte natürlich sagen: Das sind ja schon wieder Beschränkungen, da ist man ja auch nicht wirklich frei. Aber eine vollständige und grenzenlose Freiheit, die gibt es für mich hier auf Erden tatsächlich nicht. Jeder Hollywood-Film funktioniert nach dem Motto: Was du nur willst, kannst du erreichen. Das ist eine Illusion. Und in der Kunst kann die Begrenzung etwas sehr Produktives und Herauforderndes sein.
Sie haben jetzt den Auftrag angenommen, für die Würzburger Pfarrei St. Peter und Paul ein Bild des „Barmherzigen Jesus“ zu malen. Die existierenden Bilder, die auf die Visionen der heiligen Faustyna Kowalska zurückgehen, gelten als Inbegriff des religiösen Kitsches. Ist es nicht ein riskantes Vorhaben, einen neuen „Barmherzigen Jesus“ zu malen?
Triegel: Das ist definitiv riskant. Aber das macht für mich auch das Spannende dieses Auftrags aus. Ich bin jetzt 47 Jahre alt und es ist doch gut, wenn man sich in diesem Alter wieder auf eine Gratwanderung einlässt – mit der Gefahr abzustürzen. Meine erste Reaktion auf die Anfrage war denn auch: Das geht gar nicht. Dann habe ich gedacht: Man kann die Barmherzigkeit Jesu eigentlich nur durch eine barmherzige Tat darstellen. Aber nach und nach kam es mir immer reizvoller vor, mir zunächst den Urtext vorzunehmen. Also lese ich jetzt die Visionen der Faustyna Kowalska.
Und was war Ihre erste Reaktion?
Triegel: Im ersten Moment – das muss ich zugeben – habe ich einen Schreck bekommen. Ich habe gedacht: Mein Gott, was ist mit der Frau los? Das ist ja an der Grenze zum Pathologischen.
Den Eindruck hat man bei Mystikern natürlich oft.
Triegel: Richtig. Und als ich das verstanden habe, kam bei mir die Frage auf, wieso ich die Visionen des heiligen Ignatius von Loyola für mich akzeptieren kann, ich aber derartige Schwierigkeiten habe, wenn der zeitliche Abstand zum Heute so klein ist. Faustyna ist morgens mit der Straßenbahn auf den Markt gefahren und abends erschien ihr der „Barmherzige Jesus“. Die historische Distanz taucht die Viten und Visionen der Heiligen normalerweise in ein märchenhaftes Licht. Das funktioniert bei Faustyna nicht. Ich habe mir nun vorgenommen, das, was sie schreibt, erst einmal wörtlich zu nehmen, es nicht sofort zu hinterfragen, sondern zu schauen, was es mit mir macht. Im Moment bin ich an dem Punkt zu sagen: Ich will versuchen, es so zu malen, wie sie es beschreibt – so gut wie möglich! Ich muss es, auch handwerklich, so malen, dass es glaubhaft ist; es darf keine Oberfläche sein, kein Abklatsch von Erwartungen.
Sie haben einmal gesagt, Sie verspürten eine „Sehnsucht nach dem Wunderbaren“. Wie stellt man das in einem Gemälde dar?
Triegel: Ich teile die Sehnsucht der Romantiker, die sich nach der Aufklärung mit dem leergefegten Himmel nicht abfinden wollten. Auch die Surrealisten haben sich einer rein rationalen Weltdeutung verweigert. Natürlich besteht dabei eine Gefahr: Man kann immer behaupten, im Besitz des Wunderbaren, des Geheimnisses zu sein. Wenn ich das Geheimnis enthülle, hört es ja auf, Geheimnis zu sein. Insofern ist die Behauptung schon die halbe Miete. In Michel Houellebecqs „Unterwerfung“ heißt es über Joris Karl Huysmans: „Er war ein christlicher Naturalist“. Damit kann ich mich gut identizieren. Ich würde also, wenn ich beispielsweise ein Herz-Jesu-Bild malen sollte, schnell der Versuchung erliegen, kein stilisiertes Herz darzustellen, sondern Jesus mit einem offenen Brustkorb, triefend vor Blut, mit roten Spritzern auf dem Gewand. Das wäre natürlich eine schockierende Darstellung. Beim Barmherzigen Jesus denke ich im Moment daran, hauptsächlich mit Licht zu arbeiten. Es könnte eventuell zwei Lichtquellen geben, eine von oben und eine in der Brust, dort wo das Herz ist. Allerdings würde ich nur ein Leuchten malen, das hinter der Hand Jesu hervorscheint – so wie in den wunderbaren Gemälden von George de la Tour.
Sie haben schon Altarretabel gemalt und Kirchenfenster gestaltet, aber jetzt malen Sie ein Andachtsbild. Das ist ein Bild, vor dem Menschen knien werden, Kerzen anzünden und Gebete sprechen werden. Hat das eine neue Qualität?
Triegel: Ja. Es liegt aber auch eine unglaubliche Gefahr darin, ständig daran zu denken. Einerseits steht man unter Druck, den Erwartungen der Gläubigen gerecht zu werden. Andererseits könnte man natürlich auch größenwahnsinnig werden bei dieser Vorstellung, dass Menschen von dem eigenen Bild niederknien werden. Die Herausforderung besteht für mich darin, mich so weit zurückzunehmen, dass es nicht um Michael Triegel geht. Ich werde natürlich alles einsetzen, wozu ich intellektuell und künstlerisch in der Lage bin, aber ich hoffe wirklich, in diesem Fall zu so etwas wie einem Gefäß werden zu können, zu einem Werkzeug für diese Sache. Wenn die Hilfe von oben nicht kommt, wird es nichts. Ich hoffe, dass ich, so wie es oft ist, im Traum eine Vorstellung von dem Bild bekomme.