Der islamische Prediger Fethullah Gülen und seine Bewegung „Hizmet“ (Dienst) sind seit dem Putschversuch in der Türkei Mitte Juli 2016 in aller Munde. Die türkische Regierung macht die Gülen-Bewegung verantwortlich für den Putschversuch und geht seitdem rigoros gegen Personen und Einrichtungen (Medien, Firmen, Schulen, Universitäten, Krankenhäuser) der Bewegung vor und bezeichnet sie als Terrororganisation. Enteignungen und Festnahmen sind an der Tagesordnung.
Anfänglich unterstützte Gülen die AKP-Regierung – nach eigenen Aussagen wegen des zunächst von der AKP betriebenen Demokratisierungsprozesses, sicher aber auch aufgrund einer Machtbeteiligung und gezielten Einflussnahme durch Posten und Seilschaften im Staatsapparat. Dies führte letztlich aber zu Verwicklungen in Machtkämpfe. Der offene Bruch begann 2010 im Streit über den von der AKP unterstützten Schiffskonvoi „Mavi Marmara“, der die israelische Gaza-Blockade durchbrechen sollte, was Gülen missbilligte. Es folgten Korruptionsvorwürfe gegen Recep Tayyip Erdoğan in Gülen-nahen Medien, Streit in der Kurdenfrage und die Gezi-Park-Proteste.
Auch in einigen westlichen Medien und von türkischstämmigen deutschen Politikern und Journalisten wird die Bewegung immer wieder kritisch beurteilt (vgl. Religion unter Verdacht. Wohin entwickelt sich der Islam, HK Spezial Nr. 2/2015, 46–49). Bisweilen ist von Sekte oder islamistischer Bewegung die Rede, die Staat und Gesellschaft unterwandern wolle. Zum Teil werden abstruse, aus der Türkei importierte Verschwörungstheorien kolportiert. Anhaltspunkte für extremistische oder verfassungsfeindliche Bestrebungen jedoch haben die deutschen Behörden bis heute nicht. Immer wieder aber wird mehr Transparenz eingefordert.
Islam, Bildung und moderne Wissenschaft
Akteure, die seit Jahren mit der Hizmet-Bewegung zusammenarbeiten, sprechen hingegen von großer Dialogbereitschaft, Offenheit, freundschaftlichem Umgang, professioneller Arbeit, die ihnen begegnet. In Deutschland gibt es mehrere Zehntausend Anhänger oder Sympathisanten Gülens sowie mehrere hundert Einrichtungen, die von Gülen zumindest inspiriert sind: Neben zahlreichen örtlichen Dialogvereinen existieren studentische Wohngemeinschaften, etwa 150 Nachhilfezentren und knapp 30 staatlich anerkannte Privatschulen. Der innertürkische Konflikt hat sich längst auf Deutschland und andere europäische Staaten übertragen, insofern die türkischen Behörden über ihre Konsulate und die staatsnahe DITIB (Türkisch islamische Union der Anstalt für Religion) politischen Druck auszuüben versuchen.
Gülen selbst will erklärtermaßen der Menschheit durch Bildung und Erziehung dienen: „Unsere drei größten Feinde sind Unwissenheit, Armut und innere Zerstrittenheit. (…) Bildung radiert Unwissenheit aus, Arbeit und Kapital beseitigen Armut, und Einheit, Dialog und Toleranz helfen über innere Zerrissenheit und Separatismus hinweg“ (Hin zu einer globalen Kultur der Liebe und Toleranz, Offenbach 2006, 245f.). Neben säkularer Bildung geht es ihm um Charakterbildung: Gülen „liegt die Ausbildung einer frommen Elite am Herzen, die das Hauptinstrument beim Aufbau einer neuen Gesellschaft sein soll“ (Seufert, 13). Er anerkennt die unterschiedlichen Geltungsbereiche von Offenbarung und Wissenschaft, weist aber der koranischen Offenbarung den Status absoluter Wahrheit, der Wissenschaft und Vernunft nur einen unsicheren, unvollständigen Status zu. Er vertritt einen Offenbarungspositivismus und Kreationismus wie sein Lehrer Said Nursi oder evangelikale Strömungen: „Die Alternative zur Evolution ist die (aktive) Gestaltung. Sie führt unweigerlich zum Konzept einer transzendenten, alles umfassenden Kraft – zu dem Schöpferischen Gestalter, zu Gott“ (Fragen an den Islam 2, Offenbach 2009, 109).
Die offenbarte Wahrheit wird so zur alles entscheidenden Erkenntnisinstanz, der die anderen Erkenntniswege unterzuordnen sind: „Wer sein Wissen hingegen auf dem Fundament der Offenbarung Gottes aufbaut, und es dann mit den Informationen, die ihm Sinne und Verstand liefern, auskleidet und verziert, folgt damit mit Sicherheit einem Weg, der in die richtige Richtung führt“ (114). Religion und Wissenschaft sind für Gülen keine gleichberechtigten Sphären: „Die Religion leitet die Wissenschaft an, bestimmt ihr wahres Ziel und stellt ihr moralische und universelle Werte zur Verfügung“ (Liebe und Toleranz, 242).
Gülens Anliegen ist verständlich: er will die moralische Verantwortlichkeit des einzelnen Wissenschaftlers und Technikers für sein Tun verankern. Das ist legitim und trifft sich mit christlicher Verantwortungsethik. Die Wissenschaft jedoch unter die oder in die Grenzen der Religion zu stellen, bedeutet, sie ihrer Autonomie zu berauben. Man muss dabei betonen, dass die Gülen-nahen Schulen in Deutschland sich an die staatlichen Lehrpläne halten und keinen islamischen Religionsunterricht anbieten. Die andere Frage ist, ob man in der Bewegung bereit ist, sich auf die Fragen und Erkenntnisse der wissenschaftlichen islamischen Theologie einzulassen, die sich momentan in Deutschland entwickelt.
Politik und Menschenrechte
Gülen idealisiert natürlich den Propheten Muhammad und die Zeit der ersten Kalifen und rechtfertigt dabei auch deren Kampfhandlungen als Selbstverteidigung und Herstellung von Sicherheit (Muhammad, der Gesandte Gottes. Das Leben des Propheten, Offenbach 2009, 279–333). Auch das Osmanische Reich wird von ihm immer wieder als Ideal gepriesen: „Wenn wir die Ehre und den Ruhm der Vergangenheit zurückgewinnen wollen, müssen wir zunächst jene Elemente wiederbeleben, die unseren Vorfahren ihren Aufstieg auf so hohe Ränge ermöglichten“ (Fragen an den Islam 2, 129). Der Islam ist für Gülen die einzig wahre Alternative zu den westlichen modernen politischen Ideologien: „Ich hingegen denke nicht, dass aus den Fetzen des Kapitalismus, aus den Hirngespinsten des Kommunismus, aus den Trümmern des Sozialismus, aus der Selbstüberschätzung der Sozialdemokratie oder aus einem Liberalismus alter Prägung etwas wirklich Neues entstehen kann. Die Wahrheit ist: Wenn es eine Welt gibt, die bereit ist für eine neue Ordnung, dann ist das unsere Welt, die muslimische Welt“ (136).
Ist Gülen also Islamist? Von Anfang an distanzierte sich Gülen klar vom politischen Islam (etwa eines Necmettin Erbakan) und wurde von islamistischer Seite dafür angegriffen: „Die anderen verfallen in Fanatismus und akzeptieren als einzig gültige islamische Prinzipien den exakten Wortlaut von Koran und Sunna (ohne jede Interpretation). Sie schleifen die Klingen des Hasses und der Feindschaft, um sie gegen andere Muslime einzusetzen“ (154) – gemeint ist, dass sie andersdenkende Muslime zu Ungläubigen erklären, takfīr betreiben.
Eine Politisierung der Religion hält er für eine gefährliche Ideologie (Was ich denke, was ich glaube, Freiburg 2014, 105). Eine klare Absage ergeht auch an die Selbstmordattentäter. Im Islam sei dafür kein Platz: „Der Islam erteilt niemandem die Erlaubnis, unschuldige Menschen zu töten“ (Fragen an den Islam 2, 155).
Für Gülen ist die Herstellung und Erhaltung des Friedens ein extrem hohes Gut. Krieg sollte um jeden Preis vermieden werden, doch unter bestimmten Bedingungen sei er legitim und notwendig, nämlich im Verteidigungsfall und zur Sicherung fundamentaler Menschenrechte und auch dies nur durch eine legitime Regierung, nicht einfach durch selbsternannte Kalifen. So verurteilt er mit deutlichen Worten Osama bin Laden als Terroristen.
Nach Gülen gibt der Islam mit seinen Quellen Koran und Sunna keine konkrete Regierungsform, wohl aber bestimmte Grundprinzipien vor (Liebe und Toleranz, 272ff.). Demokratie, säkularen Staat und Menschenrechte hält Gülen für bestens vereinbar mit dem Islam und besser geeignet als Monarchie oder Theokratie: „In der Literatur zur Moderne werden Prinzipien genannt – wie die Bedeutung von Vernunft und Wissenschaft, die Befreiung von Individuen von der Macht anderer oder des Staates, die Glaubens- und Meinungsfreiheit, der Schutz der Menschenrechte, das Primat des Rechts und einer demokratischen Führung. Keines steht im Widerspruch zu den islamischen Werten. Setzen Muslime diese Prinzipien auf individueller oder staatlicher Ebene um, bedeutet es nicht eine Modernisierung des Islam. Vielmehr kann man von einer Auslegung der interpretierbaren Seiten des Islam in Richtung auf die Prinzipien sprechen, die zwar von der Moderne herrühren, den Grundprinzipien des Islams aber nicht widersprechen“ (Was ich denke, 34f.).
Auch die vom Wissenschaftlichen Dienst des Deutschen Bundestags erarbeitete Einschätzung über die Gülen-Bewegung in Deutschland von 2008 kommt zu dem Schluss, dass „Gülen die von Kemal Atatürk begründete moderne Republik nicht in Frage stellt und eine Rückkehr zu vordemokratischen Systemen ablehnt. Gülen spricht sich für die Entwicklung einer modernen pluralistischen Gesellschaft aus, die gegenüber dem Westen aufgeschlossen, aber auch fest in der türkisch-anatolischen Tradition verwurzelt ist. Demokratie ist für Gülen die vollkommenste aller Regierungsformen und steht nicht im Widerspruch zum Islam“ (8). Gülen nimmt auf die klassische islamische Lehre al-Schātibīs von den Zielen des Rechts Bezug, wonach es um Schutz von Religion, Leben, Gesundheit, Eigentum und Nachkommenschaft geht. Er geht aber über die klassische Lehre hinaus, indem er diese zu schützenden Werte nicht nur für Muslime, sondern für alle Menschen garantieren will. Immer wieder spricht Gülen von der „Heiligkeit“ des Menschen. Tatsächlich ließen sich mit dieser Universalisierung wesentliche Menschenrechte islamisch begründen. Es wäre für die Menschenrechtsdiskussion in der islamischen Welt viel gewonnen, würde diese Position Gülens zum Mainstream werden.
Von Bedeutung ist in dem Zusammenhang, dass Gülen – wie die Anfang des Jahres veröffentlichte „Erklärung von Marrakesch“ – die „Charta von Medina“ als ideales Modell sieht, in der Nichtmuslime als vollgültige Glieder der Umma behandelt worden sein sollen. Dass die heutigen Menschenrechtsverträge dahinter zurückblieben und keine andere Religion dem Menschen eine so hohe Bedeutung zumesse wie der Islam, kann jedoch nur als apologetisch oder ignorant bezeichnet werden.
Die Todesstrafe für Mörder hält Gülen, da bleibt er dem klassischen islamischen Recht verhaftet, sehr wohl für vertretbar, bis vor wenigen Jahren auch die Todesstrafe für Apostasie. Zuletzt hat er sich von dieser Position distanziert und bekräftigt das Recht auf Konversion auch von Muslimen (Was ich denke, 94f.). Das kann bloße Taktik oder Zeugnis eines Lernprozesses sein. Er und seine Bewegung sind in jedem Fall auf diese Position zu verpflichten.
Ein häufig in der Diskussion um Gülen begegnendes Thema ist die Rolle der Frau. „Frauen können nahezu alle Rollen übernehmen, sie können Richter und Staatsoberhaupt sein. Zu beachten sind zwar die Natur der Frau und religiöse Empfindlichkeiten. Die Rolle der Frau ist aber nicht auf die Beschäftigung zu Hause und auf das Großziehen der Kinder beschränkt“, sagt Gülen (40f.). Als der türkische Staat einst das Kopftuch an Universitäten verbot, erklärte Gülen die Bildung von Frauen für wichtiger als das Erfüllen der religiösen Kopftuchpflicht. Im Kernbereich der Gülen-nahen Institutionen in Deutschland arbeiten fast durchweg Frauen mit Hidschab. Frauen, die nicht zur Kerngruppe gehören, aber in einzelnen Bereichen mitarbeiten, treten auch ohne Kopftuch auf. In der Präsentation nach außen sind Frauen unterrepräsentiert (was kein Spezifikum der Gülen-Bewegung ist). Die meisten der Bewegung zugehörigen oder nahe stehenden Frauen, die ich persönlich kenne, sind hochqualifiziert und berufstätig.
Mystik, Liebe und Toleranz
Das Wort Liebe kommt zwar durchaus im Koran vor, aber erst in der islamischen Mystik, im Sufismus, wird die Liebe zum zentralen Begriff zur Beschreibung des Verhältnisses von Gott und Mensch und der Menschen untereinander. Gülens Glaube und Botschaft ist seit den Neunzigerjahren stark von der Mystik geprägt: „Die Liebe ist die treibende Kraft eines jeden Lebewesens“ (Liebe und Toleranz, 3). Ein Wort Said Nursis aufgreifend sieht sich Gülen als „Verfechter der Liebe“ (114). Er zitiert oft Rumi und andere große Sufis, seine Charakter- und Tugendlehre ist davon geprägt (Sufismus. Smaragdgrüne Hügel des Herzens, Mörfelden-Walldorf 2005). Zwar sind die mystischen Bewegungen im Islam nicht selten auch politisch, doch insgesamt steht der fundamentalistische Islam (Wahhabismus/Salafismus) der Mystik feindlich gegenüber. Auffallend ist, dass Gülen den Aufruf zu Liebe und Toleranz explizit universal versteht und nicht nur auf die Muslime oder Gläubigen beschränkt. So begegnet bei ihm sogar das Gebot der Feindesliebe: „Begegne dem Bösen mit Gutem, und ignoriere alle Taktlosigkeiten!“ (Liebe und Toleranz, 39). Gülen kritisiert immer wieder intolerante, gewalttätige Formen des Islam: „Böswilligkeit und Hass hingegen sind Saatkörner der Hölle, die von übel wollenden Leuten unter den Menschen ausgesät werden“ (37).
Respekt vor dem Glauben anderer
Der Respekt vor dem Glauben anderer wird von Gülen immer wieder betont: „Muslimen ist es untersagt, sich über die Glaubensvorstellungen anderer Menschen lustig zu machen. Außerdem dürfen sie Hohn und Spott weder provozieren noch erwidern“ (Fragen an den Islam 2, 77f.). Gülen selbst ist mit dem Ökumenischen Patriarchen (1997) und mit Papst Johannes Paul II. (1998) ebenso zusammengetroffen wie mit jüdischen und armenischen Vertretern, was ihm Kritik von Seiten der Islamisten eingebracht hat.
Nach Gülen anerkennt der Islam alle früheren Religionen und bekräftigt sogar „die elementare Einheit aller Religionen“ (Liebe und Toleranz, 277). „Islam, Christentum und Judentum verfügen über die gleichen Wurzeln, haben im Kern die gleichen Glaubensvorstellungen und erhalten aus der gleichen Quelle Nahrung“ (286f.). Gleichzeitig hält er an der traditionellen Position fest, wonach die Schriften der Juden und Christen verfälscht und deshalb „irrelevant“ seien (Fragen 1, 66); Juden und Christen seien folglich auf dem falschen Weg. Auf diesem Hintergrund müsste der häufig bemühte „Dialogbegriff“ (vgl. Muhammad, 16, 421f.) kritisch befragt werden: ein theologischer Dialog erscheint unter diesen Prämissen sinnlos.
Differenzierte Sicht auf den Tugendprediger
Man wird der Person und dem Werk Gülens nur gerecht werden, wenn man nicht steinbruchartig einige Aussagen herausgreift, sondern sich um eine umfassende Perspektive bemüht, die auch Kontexte und Entwicklungen berücksichtigt. Gülen ist sicher einem eher konservativen Islam türkisch-nationalistischer Prägung zuzurechnen, der ganz auf der Basis von Koran und Sunna argumentiert. Anders als fundamentalistische Islamverständnisse plädiert er aber für eine Interpretation dieser Quellen (Was ich denke, 34), die sich bei ihm vor allem aus der mystischen Tradition speist. Sein klares Plädoyer für den Dialog und für die Praxis von Liebe und Toleranz, faktisch von vielen seiner Anhänger und Einrichtungen auch praktiziert, ist wohl das stärkste Unterscheidungsmerkmal zu den islamistischen Bewegungen ebenso wie die Zurückweisung der Praxis des takfīr, des Für-ungläubig-Erklärens andersdenkender Muslime.
Manches bleibt bei Gülen vage, mehrdeutig, zum Teil sogar widersprüchlich. Das ist bei einem tausende Seiten umfassenden, nicht systematischen, eher predigthaften Werk, das über Jahrzehnte in wechselnden politischen und gesellschaftlichen Kontexten entstanden ist, auch nicht verwunderlich und birgt sowohl die Gefahr des Missbrauchs wie auch die Chance der kreativen Weiterentwicklung. Gülen versucht einen Mittelweg zwischen radikalem Säkularismus einerseits und dem religiösem Extremismus andererseits, er sucht nach einem Weg, den individuellen Glauben und seine gesellschaftliche Prägekraft in Form von Werten und Tugenden in einer modernen, pluralistischen Gesellschaft zu erhalten und gleicht damit durchaus manchen katholischen Bewegungen und Anliegen. Vor allem aber gibt es kaum eine vergleichbare islamische Bewegung oder Organisation, die sich derart klar zu vielen kritischen Fragen positioniert hat, wie Gülen. Dies alles als bloße Taktik der Verschleierung abzutun, widerspricht der Vernunft und der Fairness, wenn nicht eindeutige Gegenbeweise vorgebracht werden. Das Fehlverhalten einzelner oder auch von Teilen der Bewegung muss thematisiert und aufgeklärt, darf aber nicht der Bewegung insgesamt angelastet werden. Gegen die Hermeneutik des Misstrauens und des Verdachts hilft nur ein kritischer Dialog, die vertrauensvolle Begegnung, Zusammenarbeit und Freundschaft.
Die Zerschlagung der Strukturen der Hizmet-Bewegung in der Türkei bedeutet vielleicht nicht deren Ende dort, aber sicher eine nachhaltige Schwächung, ganz abgesehen vom individuellen Schicksal der aus dem Dienst Entlassenen, Enteigneten, Eingesperrten, in Sippenhaft Genommenen, mundtot Gemachten. Sofern die Bewegung dort weiterexistiert, wird sie dies nur im Verborgenen tun können und damit wieder in frühere Zeiten zurückfallen. Man wird ihr dadurch noch stärker als jetzt Geheimbündelei und Unterwanderungstaktik vorwerfen. Für die Hizmet-Anhänger hierzulande und in anderen europäischen Ländern sowie in Nordamerika dagegen könnte diese Existenzkrise zu einer Chance werden, sich weiter zu öffnen und vor allem von einem türkisch-nationalistischen Erbe, der sogenannten „türkisch-islamischen Synthese“ zu verabschieden. Die Zukunft der Hizmet-Bewegung wird sicher außerhalb der Türkei liegen.
Notwendig erscheint im Zuge dieser Abnabelung vom Herkunftsland auch die interne und externe kritische Auseinandersetzung mit den problematischen oder ambivalenten Aussagen Gülens und den früheren Machtverstrickungen, wie sie oben zumindest angesprochen wurden. Die Hizmet-Bewegung wird weiterhin in Gülens Person die charismatische Leitfigur sehen, aber sie sollte sich nicht sklavisch an alle seine Schriften und Worte hängen, wenn sie Teil der westlichen Gesellschaften sein und ihrem Selbstverständnis als islamische Reformbewegung gerecht werden will. Diese Diskussion über Inhalte ist intern längst im Gange ebenso wie die Frage nach den künftigen Strukturen.
Dieser Suchprozess könnte und sollte begleitet werden vom Dialog mit Partnern in Zivilgesellschaft, Kirchen, Politik, Wissenschaft, Medien. Auch die Kritiker der Bewegung sind dabei eine wichtige Stimme, wenn sie diese nicht von vornherein und pauschal in die Schublade einer Sekte oder des Islamismus stecken, sondern deren Vielschichtigkeit, Mehrdeutigkeit und Dynamik wahrnehmen und anerkennen. Gülen propagiert zentrale Werte wie Familie, Bildung, Menschenwürde und Tugenden wie Vergebung, Toleranz, Gastfreundschaft, die mit dem Christentum verbinden. Die Gülen-nahen Personen und Einrichtungen in Deutschland zeigen viel zivilgesellschaftliches Engagement und haben durch ihre Dialog- und Bildungsarbeit ein enormes Integrationspotenzial – dieses nicht zu nutzen oder aufs Spiel zu setzen, wäre ein Fehler.